Dienstag, 30. April 2024

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"Das Ende der Überhangmandate"

Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Gottfried Mahrenholz hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht begrüßt. Gleichzeitig kritisierte er die Entscheidung des Gerichts, dem Bundesgesetzgeber drei Jahre Frist einzuräumen für eine verbesserte Wahlrechtsfassung. Mahrenholz plädierte dafür, das Gesetz noch vor der Bundestagswahl 2009 zu modifizieren.

Moderation: Friedbert Meurer | 04.07.2008
    Friedbert Meurer: Eigentlich ist die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag recht einfach und ziemlich übersichtlich. 598 Abgeordnete sind vorgesehen. Die Hälfte davon (299) wird direkt gewählt, die andere Hälfte über die Landesliste, also über die Zweitstimme. Aber tatsächlich sind nach der letzten Bundestagswahl 2005 nicht 598 Abgeordnete ins Hohe Haus eingezogen, sondern 614. Der Grund sind die Überhangmandate. Neun gingen an die SPD, sieben an die CDU, also wieder an die beiden großen Parteien. Jetzt funkt möglicherweise das Bundesverfassungsgericht dazwischen, denn eine Folge der Entscheidung von gestern könnte sein, dass es künftig Überhangmandate nicht mehr geben wird oder dass sie quasi in ihrer Wirkung neutralisiert werden. - Am Telefon begrüße ich Ernst Gottfried Mahrenholz, den früheren Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes. Guten Morgen Herr Mahrenholz.

    Ernst Gottfried Mahrenholz: Guten Morgen Herr Meurer.

    Meurer: War das gestern das Ende der Überhangmandate?

    Mahrenholz: Ja, so scheint es. Es war das Ende der Überhangmandate. Es ist vom Gericht klipp und klar ausgesprochen worden, dass Überhangmandate im Grunde die Gleichheit der Chancen der Parteien verfälschen. Das Gericht hat noch viel gröbere Ausdrücke gebraucht. Das Entscheidende ist eben, dass man im Grunde nicht mehr bei Überhangmandaten sicher ist, ob wenn ich die eigene Partei wähle möglicherweise einer anderen Partei nütze. Das im einzelnen darzustellen ist im Moment nicht notwendig. Die Tatsache aber, dass es so ist, hat das Gericht zum Eingreifen gezwungen.

    Meurer: Wie groß ist denn die Möglichkeit, Herr Mahrenholz, dass man dieses "negative Stimmengewicht" auch dadurch abschafft, dass man trotzdem die Überhangmandate beibehält, aber irgendwie eine andere Ausgleichsmethode findet?

    Mahrenholz: Ja, das ist ohne weiteres möglich. Das merkwürdige ist ja, dass der Bundesgesetzgeber beharrlich ignoriert hat, dass alle Ländergesetze dies bereits machen. Die Ländergesetze sagen nämlich bei Überhangmandaten: Erhöhe ich die Zahl der Abgeordneten insgesamt so sehr, dass die Überhangmandate dann praktisch als normale Abgeordnetenmandate im Rahmen des normalen Proporzes erscheinen, und die anderen Parteien kriegen dann auch möglicherweise eine, zwei, drei Stimmen mehr - sicher sogar eine, zwei, drei Stimmen mehr -, so dass also der Überhang, der ja nur ein prozentualer ist, dadurch eingeschmolzen wird, dass die absolute Zahl der Sitze erhöht wird. Das ist eine ganz einfache Sache. Da braucht man im Grunde gar nicht viel zu überlegen. Das können die am Wahlabend noch machen.

    Meurer: Den Nachteil davon, dass der Bundestag dann aufgebläht wird, würden Sie in Kauf nehmen?

    Mahrenholz: Wissen Sie, bei annähernd 600 Abgeordneten spielt es keine Rolle, dass dann noch ein paar dazu sind. Jetzt ist es ja auch so. Das entscheidende ist ja nicht, ob man 620 oder 590 hat. Das entscheidende ist, dass jeder Wähler die Gewissheit haben muss, ich habe nicht durch meine Stimmabgabe versehentlich einer ganz anderen Partei geholfen. Das ist der entscheidende Punkt. Dann kommt es auf diese Frage nicht an. Im Übrigen: Es gibt auch andere Methoden, die diese Vermehrung der Sitze vermeiden würden. Wir haben insgesamt seriöserweise drei unterschiedliche Methoden zur Verfügung, nach denen das und zwar ziemlich schnell gemacht werden würde. Ich kann dem Professor Meyer, der die Beschwerdeführer ja vertreten hat, nur zustimmen, wenn er sagt, dass das Gericht darin wenigstens keine gute Entscheidung gefällt hat, dass es sagt, ihr habt drei Jahre Zeit. Er sagt, in 14 Tagen kriegt man ein seriöses Konzept zu Stande, und ich kann das aufgrund meiner Kenntnis des Wahlrechts nur bestätigen.

    Meurer: Da sagt der Vorsitzende des Wahlprüfungsausschusses des Bundestages Thomas Strobl von der CDU in Baden-Württemberg, "Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit". Kann man in 14 Tagen gründlich arbeiten?

    Mahrenholz: Aber selbstverständlich kann man das! Das Problem ist ja eng begrenzt. Wir haben schon ganz andere gesetzgeberische Probleme in kurzer Zeit gelöst. Und wenn es nicht 14 Tage sind, dann nimmt man sich eben vier oder sechs Wochen Zeit oder meinetwegen sogar vier Monate. Das reicht alles aus, um eine vernünftige Regelung zu Stande zu bringen. Den Herrn Strobl, der nun das Geschäft doch wirklich gut kennt, habe ich überhaupt nicht verstanden, als ich das gestern in der "Tagesschau" sah. Der weiß doch im Grunde ganz gut, dass eine solche Angelegenheit, die ja nicht neu ist für den Bundestag, wenn man es nur will rechtzeitig gemacht werden kann. Man darf sich nicht dem Verdacht aussetzen, als habe man kein Interesse, die nächste Wahl verfassungsgemäß zu entscheiden.

    Meurer: Warum war das Bundesverfassungsgericht bei der Frist so großzügig und hat gesagt, für 2009 müssen wir noch nichts ändern?

    Mahrenholz: Das ist mir vollständig unverständlich, denn es bedeutet doch, dass der nächste Bundestag wieder auf eine verfassungswidrige Weise - natürlich nur im Detail - zu Stande kommt. Das kann doch im Ernst eigentlich - so finde ich das - ein Gericht nicht wollen, sondern es muss sagen setzt euch hin, macht eure Schularbeiten, wie wir das auch tun müssen und alle Beamten und alle Abgeordneten es tun müssen, wenn nun mal Not am Mann ist, Hauptsache wir kriegen eine verfassungsgemäße Wahl im September nächsten Jahres hin. Das ist so einfach in der Überlegung, dass ich mich doch sehr wundere, dass das Gericht dies anders sieht.

    Meurer: Es hat ja schon einmal, nämlich im Jahr 1997, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Überhangmandate gegeben. Damals war das außerordentlich knapp: 4:4, ein Patt. Das führte dazu, dass, wenn ich das richtig sehe, die Klage gegen die Mandate abgelehnt wurde. Was waren denn damals die Beweggründe dafür gewesen, dass man gesagt hat, Überhangmandate müssen sein?

    Mahrenholz: Ich habe selbst zu dieser damaligen Entscheidung Stellung genommen in einem Aufsatz und habe mich auch damals schon sehr darüber gewundert, mit welchen Formulierungen diese vier Abgeordneten, die das Gesetz gehalten haben, die also für den Fortbestand der Überhangmandate waren, das begründet haben. Ich habe mich sehr gewundert, denn das Prinzip ist ja einfach: Es muss, wenn der Wähler wählt, genau diese Stimme dahin kommen, wohin sie gehört. Das hat man damals vielleicht auch so gesehen, weil die klagende Seite - das war übrigens damals der Ministerpräsident Schröder, der spätere Bundeskanzler - dies nicht gut genug vorgetragen hat. Vielleicht hat das Gericht auch das Schwergewicht nicht so verstanden wie jetzt. Sonst wäre es gar nicht zu erklären. Nebenbei bemerkt: Es hat sich schon Anfang der 60er Jahre damit beschäftigt und hat gleichfalls damals gemeint: ach Gott, das ist alles nicht so schlimm. Das sind sehr merkwürdige Dinge und ich glaube manchmal sind Richter vielleicht aber auch etwas ferner vom politischen Betrieb als ihnen gut tut.

    Meurer: Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes Ernst Gottfried Mahrenholz. Schönen Dank Herr Mahrenholz und auf Wiederhören!