Auf den ersten Blick ist Aymeric ein Verlierer, ein Versager. Zwar schien kurzzeitig ein Aufstieg des Arbeiterkinds in die Mittelschicht möglich, als er es geschafft hatte, an die Universität zu kommen. Doch als seine Jugendliebe ihn verlässt, erlischt sein Elan, sich emporzuarbeiten:
„Supermärkte und Großsupermärkte gefielen mir mit Abstand am besten […]; als Leiharbeiter war ich freier als die richtigen Angestellten, ich trug nicht das Firmen-Shirt, weshalb man mich schlechter erkannte und folglich auch weniger überwachte.“
Leiharbeit bedeutet Freiheit
Die oft als Symbol der Prekarität betrachtete Zeitarbeit ist für den jungen Mann aus dem Jura nicht „neoliberale“ Ausbeutung, sondern - eine Form von Freiheit. Ebenso ungewöhnlich: Als er Mitte 20 ist, verliebt er sich in die 15 Jahre ältere Florence - die noch dazu schwanger ist. Da der eigentliche Erzeuger verschwunden ist, übernimmt Aymeric die Vaterrolle. Für den kleinen Jim verwandelt er sich in den idealen Papa mit Vorbildcharakter.
„Wir mochten noch so sehr darauf bedacht sein – Flo genauso wie ich –, männliche Codes nicht zu stark aufzuwerten und ihm nicht die Verhaltensmuster eines kleinen Mackers aufzuzwingen, wir konnten ihn noch so sehr dazu ermuntern, auch mal Rosa zu mögen - […] und trotzdem konnte ich nicht umhin, diese Rolle des tüftelnden Vaters zu spielen, des Vaters, der vor nichts Angst hat.“
Stolzer „Hinterwäldler“ aus dem Jura
Im Jura, diesem ruralen Landstrich, der von Rindern, Ski- und Wandertouristen lebt, lehnt man moderne Erziehungsmethoden also nicht komplett ab. Die Leute in diesem Roman, auch wenn sie mitunter fremdenfeindlich und reaktionär daherreden, werden durchweg sympathisch und grundsolide gezeichnet. Das Leben auf abgelegenen Bauernhöfen, zwischen Verkehrskreiseln und Gewerbegebieten ist bei Pierric Bailly keine Hölle der Abgehängten. Sein trauriger Held Aymeric ist ein stolzer Provinzler - gerade nachdem er für einige Zeit in die nächstgelegene Großstadt Lyon gezogen ist:
„Und wenn ich im Stadtzentrum über einen Sandplatz lief, wo ein paar Studenten dem Pétanque-Spiel frönten und keine einzige Kugel näher als einen Meter ans Schweinchen brachten, konnte ich mir ein Lachen nicht verkneifen, und zwar ein lautes, weil ich hoffte, dass sie mich hörten, dass sie’s kapierten […] und bedauerten, nicht ich zu sein, ein Kerl, der wenigstens wusste, wie man Boule spielt […]. Das gefiel ihnen gar nicht, den Leuten aus der Stadt, wenn die Bauerntrampel sie reizten. Genauso wenig, wie es uns gefiel, von hippen Städtern als Hinterwäldler gesehen zu werden.“
Kein Wutbürger
Der in Frankreich so häufig als Wurzel aller Übel beschworene Gegensatz zwischen Kapitale und Peripherie wird in diesem Buch auf erfrischende Weise weniger als politisches Problem, denn als Selbstverständlichkeit behandelt. Der Autor, der sich selbst als sehr verwachsen in seiner Heimatregion bezeichnet, stimmt nicht das wohlfeile gelbwestig-wutbürgerliche Gebrüll gegen die Hauptstadt-Elite an. Das Glück, so ahnt man im Laufe der Lektüre, kann in Frankreich noch immer auf dem Land liegen.
Seit seinem Debüt im Jahr 2008 wird Bailly in Frankreich als Chronist der Provinz gefeiert. Und das sehr zu Recht, was sich auch an diesem neuen Buch zeigt: „Jims Roman“ erzählt in der Kulisse der hügeligen Topografie des Jura von den Freuden einer angenommenen Vaterschaft, die - nach dem Wiederauftauchen des wirklichen Erzeugers - in eine komplizierte Familien-Konstellation mündet: Die Mutter und der leibliche Vater verlassen Frankreich und nehmen Jim mit nach Kanada. Sie schwindeln dem an der Trennung von seinem Ziehvater enorm leidenden Jungen vor, Aymeric habe das Interesse an ihm verloren und wolle keinen Kontakt mehr. Die Auflösung dieser Lüge, dieses Geheimnisses, bildet den spannungsreich konstruierten Kern des Romans.
Bailly zeichnet über rund drei Jahrzehnte hinweg die Entwicklung eines leicht orientierungslosen, melancholischen Mannes aus der Arbeiterklasse nach, der trotz zahlreicher Fehlschläge mit 50 sein Berufs-, Liebes- und Familienleben so einigermaßen in den Griff bekommt.
Verletzlicher Einzelgänger
„Ich hoffe, es klingt nicht zu grotesk, aber ich glaube, ich wurde Stück für Stück wieder zum Juramenschen.“
Das Buch verhandelt die Dichotomie von Großstadt und Regionalität ebenso leichthändig wie Fragen nach Verletzlichkeit und Männlichkeit, nach Unabhängigkeit und der Möglichkeit persönlicher Freiheit in traditioneller Umgebung.
In seiner sehr anschaulichen, authentischen Alltagssprache entwickelt Pierric Bailly das fesselnde Porträt eines zwar bodenständigen, aber charakterlich sehr vielschichtigen und ständig über sich selbst reflektierenden Einzelgängers. Dieser prekäre „Hinterwäldler“ Aymeric, dieser traurige Held aus den Bergen, kann es an emotionaler Tiefe mit jedem „hippen Städter“ aufnehmen.
Pierric Bailly: „Jims Roman“.
Aus dem Französischen von Paul Sourzac.
Secession Verlag, Berlin/Zürich. 160 Seiten, 24 Euro.
Aus dem Französischen von Paul Sourzac.
Secession Verlag, Berlin/Zürich. 160 Seiten, 24 Euro.