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"Das ist ein generelles Problem der amerikanischen Strafjustiz"

Die Bilder des gefesselten Strauss-Kahn gingen um die Welt. Durch die mediale Darstellung von Angeklagten sei die Gefahr einer Vorverurteilung durch Geschworene und Laienrichter in den USA noch stärker als in Deutschland oder im übrigen Europa, sagt Rechtsanwalt Gernot Lehr.

Gernot Lehr im Gespräch mit Christoph Heinemann | 20.05.2011
    Christoph Heinemann: Mitgehört hat Gernot Lehr, Rechtsanwalt in der international tätigen Kanzlei Redeker, Sellner & Dahs
    in Bonn. Guten Morgen.

    Gernot Lehr: Guten Morgen!

    Heinemann: Herr Lehr, "Unschuldsvermutung in Handschellen" titelte eine deutsche Zeitung in diesen Tagen, als die Bilder des gefesselten Dominique Strauss-Kahn um die Welt gingen. Wieso lassen US-amerikanische Justizbehörden so etwas zu?

    Lehr: Ja wir haben hier eine etwas andere Rechtskultur in den USA als in Deutschland und auch als im übrigen Europa. Nach dem amerikanischen Verständnis gibt es eben diesen "perp walk". Das ist dieser Schritt zum Haftrichter, und der findet in der Öffentlichkeit statt. Das wäre in Deutschland undenkbar. Und bei diesem "perp walk" dürfen die Medien teilnehmen, sie dürfen Fotos schießen und sie dürfen diese Fotos veröffentlichen. Das ist schon ein ganz massiver, meines Erachtens auch vorverurteilender Schritt, der für den Beschuldigten von größter Persönlichkeitsrechtsgefährdung ist.

    Heinemann: Herr Lehr, beeinflussen solche Bilder die Grand Jury, also die Laien, die jetzt über die Anklage entschieden haben?

    Lehr: Das ist letztlich ja eine soziologische und eine psychologische Fragestellung, die wir allerdings sehr ernst nehmen. Zunächst einmal wird jeder auch Laienrichter für sich in Anspruch nehmen, dass er sich nicht durch solche Bilder beeinflussen lässt. Gleichwohl darf man die unterbewusste, die mittelbare Wirkung einer solchen medialen Darstellung, einer medialen Vorverurteilung nicht unterschätzen und der Druck auf die Laienrichter nimmt natürlich zu, je interessanter die Person ist, die dort dargestellt wird, je kritischer sie dargestellt wird. Hier in dem Fall war es ja eine Art von Traurigkeit, Verstörtheit und auch von Heruntergekommenheit, wenn man das so vorsichtig formulieren darf, die der Beschuldigte dort zeigte. Je stärker ein solcher Eindruck ist, umso mehr wirkt er sich zumindest unterbewusst, mittelbar meines Erachtens auf Richter aus. Und ich darf dazu sagen, dass wir auch in Deutschland durchaus nicht unterschätzen dürfen, dass Richter, die durchaus um Objektivität bemüht sind, immer wieder durch das mediale Umfeld auch sich beeinflussen lassen können.

    Heinemann: Herr Lehr, Sie sprachen eben von der unterschiedlichen Kultur zwischen den USA und zwischen Europa, respektive Deutschland. Sind Persönlichkeitsrechte bei uns Ihrer Erfahrung nach uneingeschränkt geschützt in solchen Fällen?

    Lehr: Nein. Uneingeschränkt geschützt sind sie gar nicht. Vielleicht darf ich mit einem Wort oder einem Satz kurz erläutern, dass die Rechtsprechung ganz harte Voraussetzungen an die sogenannte Verdachtsberichterstattung entwickelt hat. Das heißt, die Medien, wenn die Medien über einen Verdächtigen berichten, dürfen sie dies nur, wenn sie das ohne irgendeine Form von Vorverurteilung tun, wenn sie gleichzeitig dem Betroffenen die Möglichkeit zur Stellungnahme geben, diese Stellungnahme mit veröffentlichen. Das heißt, wir haben hier innerhalb der Medienordnung ein ganz strenges Regime, unter dem solche Berichterstattung nur stattfinden darf.

    Und nun haben wir das Problem auch in Deutschland, dass sich die Justizbehörden, insbesondere manche, nicht alle Staatsanwaltschaften, in solchen Fällen, gerade in prominenten Fällen, zu sehr, salopp gesagt, aus dem Fenster lehnen, dass sie sich nicht darauf beschränken, einfach mitzuteilen, dass hier ein bestimmter Mensch im Verdacht einer bestimmten Straftat steht, sondern dass sie sich dazu verführen lassen, auf Nachfrage, oder auch ohne Nachfrage in einen öffentlichen Disput einzutreten und die Ermittlungen zu rechtfertigen, die Anklageerhebung, die mögliche Anklageerhebung im Einzelnen zu rechtfertigen, Details zu schildern, alles Dinge, die zur Vorverurteilung beitragen und gegen die sich dann derjenige kaum wehren kann.

    Heinemann: Können Sie ein Beispiel nennen?

    Lehr: Wir haben jetzt gerade eben den sehr prominenten Fall des Herrn Kachelmann, den wir erleben und bei dem sich die Staatsanwaltschaft nach meiner Einschätzung viel zu sehr am Anfang aus dem Fenster gelehnt hat. Sie provozierte dadurch, dass Kachelmann sich seinerseits öffentlich auch verteidigen musste und hier ein öffentlicher Diskussionsprozess in Gang getreten wurde. Eine ähnliche Situation gab es im Fall der No-Angels-Sängerin Benaissa. Da war es so, dass hier in einer Tat ermittelt wurde, die sich im absoluten Privatbereich, im Intimstbereich ereignet hatte. Diese Sängerin hatte keine öffentliche Funktion, die es gerechtfertigt hätte, in dieser Weise ihren Intimbereich und ihre Privatsphäre in die Öffentlichkeit zu transportieren. Auch bei Kachelmann muss man sehen, dass der Fernsehmoderator ist und seine Funktion als Fernsehmoderator rechtfertigt es nicht so ohne Weiteres, in solchen Details sein Privatleben an die Öffentlichkeit zu bringen, und das wurde durch die Staatsanwaltschaft zu Beginn der Ermittlungen sehr, sehr stark gefördert.

    Heinemann: Aber ist das nicht der normale Teil der normalen Berichterstattung über einen Prozess?

    Lehr: Das ist seitens der Medien zunächst einmal der normale Teil, wobei die Medien auch verpflichtet sind, die Privat- und Intimsphäre der Betroffenen zu berücksichtigen. Aber hier liegt gar nicht der Kern des Problems. Der Kern des Problems liegt darin, dass die deutschen Staatsanwaltschaften ihre presserechtliche Auskunftspflicht, die sie gegenüber den Medien haben, häufig verwechseln mit einer umfassenden eigenen Verteidigungsdarstellung, warum sie das Ermittlungsverfahren durchführen. Es gibt Staatsanwaltschaften, die sich äußerst zurückhalten, die sich darauf beschränken, kurz und knapp den Tatvorwurf mitzuteilen und ansonsten keine Einlassungen zur Sache machen. Es gibt aber Staatsanwaltschaften, die sehr medienorientiert sind und im Rahmen dieser Medienorientierung kräftig zur Vorverurteilung beitragen.
    Aber um auf das Thema Strauss-Kahn zurückzukommen: Wir dürfen es nicht verwechseln mit einer Bildberichterstattung. Die ist natürlich noch stärker. Hier in Deutschland haben wir solche Bildberichterstattung nicht, und ich glaube auch nicht, dass irgendeine Justizbehörde eine derartige intensive Bildberichterstattung in diesem frühen Stadium rechtfertigen würde und zulassen würde.

    Heinemann: Dominique Strauss-Kahn muss sich jetzt vor Gericht verantworten. Das ist also entschieden. Welche Strategie wird seine Verteidigung wählen und welche Mittel einsetzen?

    Lehr: Das ist natürlich alles sehr spekulativ, was wir jetzt sagen. Ich habe gerade die Erklärung von Strauss-Kahn noch einmal gelesen, in der er sehr deutlich sagt, dass er unschuldig sei und dass er um seine Unschuld kämpfen werde. Das heißt, es scheint so, wenn man dieser Erklärung folgen kann, dass die Strategie sein wird, in vollem Maße die Unschuld zu beweisen und nicht in irgendeiner Form eine Teilschuld einzugestehen. Das scheint ein ganz wichtiger Punkt zu sein nach jetziger Einschätzung.
    Er wird die Strategie voraussichtlich wählen, dass er zum einen die Beweislage, wenn es geht, zerpflücken wird. Das würde jeder Strafverteidiger hier auch so tun. Hier wird natürlich insbesondere die Person der Belastungszeugin eine ganz bestimmte Rolle spielen. Die würde man auch hier sehr, sehr genau analysieren. Das wird in den USA nach den Informationen, die ich habe, noch intensiver durchgeführt in solchen Situationen.

    Heinemann: Das heißt versuchen, sie als unglaubwürdig darzustellen?

    Lehr: Ja. Es wird einfach die Glaubwürdigkeit geprüft, und wenn sich dann herausstellt, dass sie unglaubwürdig ist, dann wird das auch dargestellt werden. Vielleicht ist sie nicht unglaubwürdig, aber aus der Sicht des Beschuldigten ist das natürlich ein Ziel.

    Heinemann: Staatsanwälte und Richter werden in den Vereinigten Staaten gewählt. Unter welchem Druck stehen beide jetzt, wenn sie einem Prominenten den Prozess machen?

    Lehr: Ja das ist eine ganz spannende Frage und man befürchtet ein bisschen, dass durch die mediale Öffentlichkeit, die in den amerikanischen Strafverfahren ja viel stärker ist als in Deutschland – ich erinnere daran, dass die Fernsehkameras ja nicht nur im Rahmen eines Haftprüfungstermins, wie wir es jetzt erlebt haben, dabei sind, sondern dass sie nachher ja auch im Rahmen des gesamten Strafverfahrens dabei sind -, in einer solchen Situation ist natürlich der mediale Druck, der Druck der Öffentlichkeit auf die Geschworenen, auf die Laienrichter, vielleicht nicht so sehr auf die Berufsrichter, noch stärker. Und da sehe ich schon ein grundsätzliches Problem. Das ist aber kein Problem des spezifischen Falls Strauss-Kahn, sondern das ist ein generelles Problem der amerikanischen Strafjustiz und der dort sehr weitgehenden Fernsehöffentlichkeit der Strafverfahren. Ich erinnere daran, dass auch in Deutschland das mal diskutiert wurde, inwieweit man in die Gerichtssäle während der laufenden Verhandlung die Kameras zulassen kann, und da hat das Bundesverfassungsgericht ja eindeutig entschieden, dass das nicht geht. Das ist in Strafverfahren ganz gewiss auch eine richtige Entscheidung.

    Heinemann: Kurz noch mal zur Lage hier bei uns. Sie haben das Urteil des Verfassungsgerichts genannt, auf der anderen Seite eben die schwierige Situation während des Kachelmann-Prozesses beleuchtet. Sind wir eher auf dem Weg einer Amerikanisierung in Deutschland, oder bleibt es bei der klaren Trennung, die Sie eben beschrieben haben?

    Lehr: Vielleicht sind wir dann ein wenig auf dem Weg der Amerikanisierung, wenn es sich um Prominente handelt. Außerdem sind wir vielleicht auch da auf dem Weg der Amerikanisierung, wenn man das so bezeichnen darf, wenn es darum geht, wie sich die Justizbehörden gegenüber den Medien einlassen, in welchem Maße sie die Medien an ihrer Tätigkeit teilhaben lassen. Und da weise ich noch mal darauf hin: Justizbehörden sind grundrechtsgebunden. Sie haben eine hohe Verpflichtung, nicht nur gegenüber den Opfern, sondern auch gegenüber den Beschuldigten, die ja noch gar nicht verurteilt sind. Und diese Grundrechtsbindung sollte sie zur Zurückhaltung zwingen.

    Heinemann: Gernot Lehr, Rechtsanwalt der Kanzlei Redeker, Sellner & Dahs in Bonn. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Lehr: Vielen Dank.