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"Das ist eine utopische Zahl"

Der geplante Bildungschip für Jugendliche aus Hartz-IV-Familien soll zehn Euro für außerschulische Aktivitäten wie Nachhilfe, Sport- und Musikunterricht vorsehen. Diese Zahl hält Bernd Siggelkow vom Jugendwerk "Die Arche" für viel zu niedrig.

Bernd Siggelkow im Gespräch mit Friedbert Meurer | 29.09.2010
    Friedbert Meurer: Fünf Euro mehr, um so viel will die schwarz-gelbe Bundesregierung die Regelsätze anheben beim Arbeitslosengeld II. Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände laufen dagegen Sturm. Sozialministerin Ursula von der Leyen von der CDU verteidigt dagegen die Sätze, die demnächst also 364 Euro pro Monat betragen werden. Diese Summen seien transparent ermittelt worden. Berlin ist, wenn man die Hartz IV-Statistiken zur Hilfe nimmt, das Armenhaus Deutschlands. In keinem Bundesland leben so viele von Arbeitslosengeld II, über 20 Prozent aller Berliner. Mehr als jeder Fünfte lebt von Hartz IV. Um die Kinder und Jugendlichen kümmert sich in Berlin unter anderem, wie gerade gehört, das christliche Kinder- und Jugendwerk "Die Arche e.V.", gegründet von Bernd Siggelkow. Guten Morgen, Herr Siggelkow.

    Bernd Siggelkow: Guten Morgen!

    Meurer: Wir erreichen Sie heute Morgen in Meißen in Sachsen. Was machen Sie da heute Morgen?

    Siggelkow: Wir haben heute Morgen eine Pressekonferenz zu unserer Frühstücksaktion, die wir hier seit vier Wochen für mehr als 200 Kinder jeden Mittwoch durchführen.

    Meurer: Wie sieht diese Frühstücksaktion aus?

    Siggelkow: Wir haben eine Mitarbeiterin, die bereitet Frühstück für die Schüler einer Mittelschule vor. In diese Schule gehen 270 Kinder, davon gehen 40 Prozent der Kinder ungefrühstückt in die Schule und deswegen bekommen sie von uns ein kostenloses Frühstück mit Brötchen und Schulmilch und so was.

    Meurer: Wieso bekommen 40 Prozent kein Frühstück zu Hause oder mit auf den Weg?

    Siggelkow: Das hat sicherlich unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite gibt es ganz viele Kinder, wo die Eltern sich das tatsächlich nicht leisten können. Wir haben es ja im Bericht eben gehört. Es gibt sicherlich auch Eltern dabei, die morgens überhaupt nicht aufstehen, weil sie ihre Perspektive verloren haben, oder Kinder viel zu früh selbstständig sind.

    Meurer: Haben Sie Verständnis dafür, wenn diese Eltern ihren Kindern kein Butterbrot schmieren?

    Siggelkow: Na ja, Verständnis kann man dafür schlecht haben, wenn man selber Vater von sechs Kindern ist. Aber irgendwann, wenn ein Mensch seine Perspektive für sich verloren hat, verliert er auch die Perspektive für seine Kinder. Und ich glaube, die Diskussion um die Regelsätze ist die eine. Die Frage ist: Wo sind die Visionen der Menschen, wo sind die Ziele der Menschen.

    Meurer: Wie läuft das ab mit jemandem, der die Vision für seine Kinder verliert?

    Siggelkow: Na ja, wir haben ja heute schon gerade in Westdeutschland die vierte Generation von Sozialhilfeempfängern und da vererbt sich sozusagen etwas weiter, was nicht gut ist. Da gibt es keine klaren Ziele, die man verfolgt, da gibt es keine existenzsichernde Arbeit, da gibt es wenig Hoffnung, da findet in der Familie die Kommunikation vor dem Fernseher statt, nämlich in der Regel gar keine, sondern da lässt man sich ablenken von dem Tagesprogramm, weil man keine Themen mehr hat, die man miteinander bespricht.

    Meurer: Bei dieser Diskussion, wie hoch sollen die Regelsätze angehoben werden, also wie hoch sollen sie überhaupt sein, was ging Ihnen da, Herr Siggelkow, in den letzten Tagen durch den Kopf?

    Siggelkow: Als Erstes habe ich einen dicken Hals bekommen, weil man in den Medien ganz häufig gehört hat, die Regelsätze werden um eine oder zwei Schachteln Zigaretten erhöht. Das würde ja bedeuten, dass jeder Hartz IV-Empfänger auch raucht und dass man es daran festmachen müsste. Wir haben viele Diskussionen gehört, dass fünf Euro nicht ausreichen. Natürlich, wenn man die Lebenshaltungskosten, das Wachstum der Lebenshaltungskosten anschaut, dann muss man sagen, dann sind fünf Euro natürlich gar nichts. Auf der anderen Seite müssten wir die Diskussion anders führen. Wir brauchen heute existenzsichernde Arbeit für die Menschen. Sie haben gerade aus unserer Einrichtung in Berlin die alleinerziehenden Mütter gehört, die es schwer genug haben, ihre Kinder durchzubringen, und sie brauchen Perspektiven, sie brauchen Visionen. Die bekommen sie nur, indem sie auf dem Arbeitsmarkt auch Platz bekommen. Sie bekommen keinen Platz, weil sie Grundschulkinder haben, wo, wenn sie krank sind, die Eltern auch zu Hause bleiben müssen, und da gibt es in der Regel keinen Arbeitsplatz und das macht die Leute hoffnungslos.

    Meurer: Die 400 Millionen Euro, die jetzt für die fünf Euro mehr Arbeitslosengeld II ausgegeben werden, sollte man die eher stecken in staatlich geförderte Arbeitsplätze, in mehr Sozialarbeiter?

    Siggelkow: Nun hat man ja versucht, durch die Einführung von Hartz IV auch diese sogenannten Ein-Euro-Jobber zu finden. Man wollte sozusagen Menschen wieder auf den Arbeitsmarkt vorbereiten. Aber unterm Strich hat es ja gar nichts gebracht, weil es die Arbeit überhaupt nicht für die Leute gab. Sie sind zwar in die sozialen Einrichtungen gegangen und haben da mal ein paar Stunden gearbeitet, um sich wieder an den normalen Alltag zu gewöhnen, aber eine Perspektive hat ihnen das auch nicht eröffnet.

    Meurer: Wenn die Arbeitsplätze aber nicht da sind, was kann man dann machen?

    Siggelkow: Man muss natürlich sich ein bisschen dann auch noch mal mit der Wirtschaft zusammensetzen und sich Gedanken darüber machen, was können wir in Deutschland letztendlich verändern. Es kann ja nicht sein, dass wir in unserer Gesellschaft heute zu einer Zweiklassengesellschaft werden, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden.

    Meurer: Würden Sie dann sagen, fünf Euro mehr Regelsatz, zehn Euro mehr, 20 Euro mehr, 30 Euro mehr, das ist die falsche Frage?

    Siggelkow: Ja. Ich denke, es ist natürlich die falsche Frage, wenn ich sage, wir stopfen sozusagen Löcher. Ich bin sehr stark für das Bildungspaket, was die Frau von der Leyen vorschlägt, damit zum Beispiel gerade den Kindern – und das sind ja nun mal die Ärmsten der Armen; 60 Prozent der Regelsätze reichen natürlich nicht für ein Kind; wer immer das ausgerechnet hat, der hat selber keine Kinder -, da braucht es natürlich Maßnahmen, die helfen, dass die Gelder direkt beim Kind ankommen. Und wenn Kinder schlecht in der Schule sind, weil sie Nachhilfe brauchen – wir geben ja über eine Milliarde Euro alleine für Nachhilfe aus als Deutsche, weil unsere Kinder in der Schule nicht weiterkommen. Nur Kinder von Hartz IV-Empfängern können sich das gar nicht leisten und sie brauchen Hilfe, die direkt ankommt.

    Meurer: Zehn Euro für den Bildungschip im Monat, reicht das für irgendetwas an Bildungsangeboten?

    Siggelkow: Na ja, zehn Euro ist natürlich ein bisschen utopisch, wenn man sieht, was heute die Preise sind. Wer wird denn diese Bildung sozusagen leisten, und der Bildungschip soll ja mehr beinhalten als nur die Nachhilfe eines Kindes, sondern er soll auch noch das Schulessen subventionieren und er soll auch noch Sport- und Musikmöglichkeiten schaffen. Das reicht natürlich überhaupt nicht, das ist eine utopische Zahl.

    Meurer: Dieser Bildungschip, manche sagen ja, das ist diskriminierend, wenn einige Kinder mit dem Chip ankommen. Was meinen Sie?

    Siggelkow: Wir hatten eine Diskussion. Ich bin Botschafter für das europäische Jahr gegen Armut und Ausgrenzung und wir hatten ein Gespräch mit Frau von der Leyen, und da habe ich das auch gesagt. Da habe ich gesagt, wir dürfen nicht nur eine Chipkarte haben für sozial benachteiligte Kinder, sondern diese Chipkarte muss für alle Kinder da sein. Bei den einen füllen es halt die Eltern auf, weil ich muss auch die Schulbücher meiner Kinder bezahlen, und auf der anderen Seite füllt es eben das Jobcenter auf.

    Meurer: Machen Sie das so mit Ihrer Frühstücksaktion jetzt in Meißen, dass alle Kinder das Frühstück bekommen und dann wird eben keiner diskriminiert?

    Siggelkow: Wir machen das mit all unseren Angeboten in allen Archen in Deutschland so, dass alle Angebote von uns kostenlos sind und wir nicht in erster Linie danach schauen, hat das Kind einen Hartz IV-Nachweis, sondern für uns ist das Angebot: Wenn jemand Hunger hat, dann ist er bedürftig.

    Meurer: Bernd Siggelkow, Begründer des christlichen Kinder- und Jugendwerks "Die Arche e.V.". Danke und auf Wiederhören, Herr Siggelkow.

    Siggelkow: Sehr gerne! Alles Gute.