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Das Jahr 2018 in Russland
Die WM und das Leben abseits des Kremls

Feiernde Menschen auf öffentlichen Plätzen, unbeschwerte Stimmung: So hat sich Russland während der Fußball-WM 2018 präsentiert. Doch ansonsten herrschte dort ein anderes Klima. Denn wer in Russland etwas bewegen und verändern will, braucht einen langen Atem. Und den scheinen besonders Frauen zu haben.

Von Thielko Grieß | 31.12.2018
    Russische Fans in Sochi.
    "Weltoffen und freundlich" - die Weltmeisterschaft in Russland wurde von vielen Seiten gelobt (Mikhail Tereshchenko/TASS/dpa)
    Während der Fußball-Weltmeisterschaft geschah in Moskau, auch in anderen Städten, etwas, was sonst unvorstellbar ist: Menschen, Ausländer und Einheimische, etliche mit lustigen Hüten, alle mit fröhlichen Gesichtern, bemächtigten sich friedlich öffentlicher Plätze. Polizisten standen daneben, manche ebenfalls lächelnd. Diese Zeit war unbeschwerter als sie sonst oft ist.
    "Bisher ist alles super! Wir sind nach dem ersten Spiel nach Sotschi, nach Adler, haben sechs Tage Badeurlaub gemacht. Das hat ein bisschen Flair von Mallorca, kann man ja fast schon sagen. An jeder Ecke gab’s da eben lecker was zu essen, einen schönen Strand dabei, man ist jeden Tag baden gegangen."
    Es war auch der Sommer, in dem endlich mal mehr Deutsche nach Russland kamen. Darunter viele, die noch nie hier waren und die mir dann gesagt haben: Es sei so schön! So perfekt organisiert! So viel besser, als es "die Medien" in ihren Berichten und Reportagen oft darstellten, also auch ich im Deutschlandfunk.
    Nicht das ganze Jahr über Sommer
    Natürlich gehört alles, was die Fans erlebt haben, zweifelsfrei auch zu Russland. Aber das gesamte Jahr enthält viel mehr Grautöne als einige Sommerwochen. Zusammenkünfte unter freiem Himmel gibt es zwar schon und hat es auch in diesem Jahr gegeben, aber meist sind die Organisatoren der Staat selbst oder staatsnahe Verbände. Wer eine Demonstration aus der Opposition heraus versucht, sich also der öffentlichen Plätze eigenmächtig bemächtigt, ohne dass gerade eine WM läuft, muss mit Festnahme rechnen.
    In einem Land, in dem die Staatsmacht keine Debatten führen will und vor allem ihre eigene Größe dokumentiert und Machtsehnsüchte befriedigt, muss anders hingeschaut werden. Bei der Suche nach denen, die Ungerechtigkeit als das benennen, was sie ist, die ihre Kraft zusammen nehmen, um in ihrem Umfeld ein wenig mehr Wärme zu schaffen, bin ich nicht nur, aber oft, Frauen begegnet. Russinnen, denen etwas am Herzen liegt.
    "Das sind Graupen. Graupenbrei mit Haferflocken. Ich koche Hühnerbeine, Hühnerköpfe, ich koche jeden Tag und bringe sie her. Ich kann nicht ruhig bleiben, wenn ich mir vorstelle, dass die Hunde hier Hunger haben."
    Larissa, die zufällig Deutsch-Dozentin ist, füttert in einem Außenbezirk von Wolgograd Straßenhunde. Ich habe sie im Februar kennengelernt. Aus der Innenstadt dieses und anderer Austragungsorte der WM verschwinden die Tiere, damit sie das Sommer-Bild der Fans nicht stören. Nur: Wohin sind sie verschwunden? Larissa und ihre Freundinnen berichten, dass die Hunde gefangen würden, nachts. Nachforschungen ergeben, dass die Tiere im städtischen Tierheim verschwinden, mutmaßlich werden etliche dort getötet – bezahlt vom Steuerzahler. Endgültig beweisen lässt sich das, wie vieles in Russland, nicht, aber viele Indizien legen diesen Schluss nahe.
    Gesetze können leicht umgangen werden
    Die Frauen organisieren und finanzieren sich selbst – und belassen es nicht beim Füttern, was allein ja nicht viel lösen würde. Sie zahlen auch Sterilisationen: So viele, wie sie sich leisten können. Im Oktober habe ich Jewgenija Markowa im Moskauer Umland getroffen.
    "In Russland werden wirklich alle Gesetze umgangen, Steuern, Alimente bis hin zu Strafen für Mord und Vergewaltigung. Wenn ein Arbeitgeber so einen Blödsinn wie dieses Verbot hier umgehen will, kann er es umgehen."
    Sie kämpft für ihr Recht, Lkw-Fahrerin sein zu dürfen, hat ein Unternehmen gefunden, das sie angestellt hat – obwohl ein jahrzehntealtes Gesetz Frauen das Fernfahren und ungefähr 450 weitere Tätigkeiten untersagt. Die Begründung ist unverändert geblieben: Die Fortpflanzungsfähigkeit von Frauen sei zu schützen.
    Markowa ist ein Beispiel für Russinnen, die oft ähnliche Eigenschaften haben: Sie sind über Jahre beharrlich, haben sehr klare Prinzipien, nutzen Freiräume, die ihnen das System lässt, verzichten dabei meist auf moralische Debatten, vernetzen sich – oft online – mit anderen – und erreichen Schritt für Schritt Veränderungen. In diesem Fall ist es so: Das Berufsverbot für Fernfahrerinnen soll tatsächlich bald fallen.
    Im zu Ende gehenden Jahr ist aus dem Studio Moskau natürlich auch ausgiebig über Syrien, Skripal, den Konflikt mit der Ukraine und vieles mehr berichtet worden. Aber die Geschichten, die mehr über den Reichtum Russlands erzählen können als die meisten Berichte mit dem Thema "Der Kreml meint dies oder jenes", fanden sich dort, wo die Menschen dieses Landes leben. Sie wird es auch im nächsten Jahr geben.