Donnerstag, 25. April 2024

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Das neue atomare Wettrüsten (6/6)
Kurz vor Mitternacht

Im Februar 2021 wird der "New-Start"-Abrüstungsvertrag auslaufen. Vertrauensbildende Schritte unter allen Atommächten wären wichtig - aber die Regierungen setzen auf militärische Stärke. Selbst einen Cyberangriff unklarer Herkunft könnten sie atomar beantworten. Wissen sie, was sie tun?

Von Dagmar Röhrlich | 23.07.2020
US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Parteichef Michail Gorbatschow unterzeichnen am 8.12.87 in Washington den INF-Vertrag zur Vernichtung der atomaren Mittelstreckenraketen.
Entspannung nach Jahrzehnten des atomaren Wettrüstens: Michail Gorbatschow und Ronald Reagan unterzeichnen 1987 den INF-Abrüstungsvertrag (picture-alliance / dpa)
Die 1980er-Jahre. Die Zeit der Friedensdemonstrationen. Ob in Bonn, Amsterdam oder New York – überall gingen Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen die atomare Aufrüstung zu demonstrieren. Mit Erfolg.
"Über 1.500 sowjetische Atomsprengköpfe werden demontiert, und alle bodengestützte Mittelstreckenraketen, eingeschlossen die SS20, werden zerstört. Auf unserer Seite werden sämtliche Pershing-2 und bodengestützte Marschflugkörper mit rund 400 Sprengköpfen zerstört".
Dossier: Atomwaffen
Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten US-Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow einen Abrüstungsvertrag. Der INF-Vertrag war der Durchbruch.
"Gesunkene Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz"
Heute, wenige Monate, bevor der INF-Vertrag ausläuft, fragt sich Tytti Erästö, Analyst am Internationalen Stockholmer Friedenforschungsinstitut SIPRI, wie groß das Interesse überhaupt noch ist, einen Atomschlag unter allen Umständen zu verhindern:
"Natürlich hat sich der strategische und politische Kontext stark verändert. Das Thema, das in letzter Zeit eine Menge Aufmerksamkeit erhalten hat, ist die gesunkene Hemmschwelle für einen Atomwaffeneinsatz. Erst hat Russland sie abgesenkt, dann die USA. Obwohl beide Länder das natürlich bestreiten. Das größte Problem besteht meines Erachtens darin, dass die USA und Russland weder sich gegenseitig noch den Rest der Welt davon überzeugen konnten, dass ihre Schwelle bis zum Einsatz von Nuklearwaffen noch hoch ist. Dieses Glaubwürdigkeitsproblem hat zum Teil mit der Zweideutigkeit der US-amerikanischen und russischen Nuklearpolitik und strategischen Doktrin zu tun."
Eine Batterie mit S-400 "Triumf" Flugabwehrraketen auf Selbstfahrlafetten steht in Gefechtsbereitschaft in der Region Kaliningrad 
Die russische S-400 Flugabwehrrakete soll angeblich selbst Hyperschall-Ziele abfangen können (www.imago-images.de)
Nukleare Antwort auch auf Cyberattacken und Chemiewaffen?
Von Produktionsanlagen über Trägersysteme bis zu den Sprengköpfen wird derzeit das gesamte Arsenal modernisiert. Vor allem aber erhalten die Kernwaffen einen neuen Status. In den USA beispielsweise mit der jüngsten Richtschnur der Kernwaffenpolitik. Tytti Erästö:
"Die US-Regierung hat entschieden, Atomwaffen mit geringer Sprengkraft zu entwickeln und aufzustellen. Viele Experten sehen darin eine faktische Absenkung der nuklearen Schwelle, weil die Wahrscheinlichkeit, dass solche Atomwaffen eingesetzt werden, höher ist. Aber es gab auch noch eine weitere wesentliche Änderung, nämlich dass Cyberangriffe als mögliche Auslöser für nukleare Vergeltungsmaßnahmen einbezogen werden. Das ist etwas Neues und Besorgniserregendes. Es ist Teil dieses längerfristigen Trends, bei dem mehrere Kernwaffenstaaten die nukleare Abschreckung auch auf Angriffe mit chemischen oder biologischen Waffen ausgedehnt haben. Auch das senkt die nukleare Schwelle. Und im Fall von Cyberattacken und Angriffen mit chemischen Waffen ergibt sich zudem das Problem, dass es nicht immer einfach ist, herauszufinden, wo solche Angriffe ihren Ursprung haben."
Taktische Atomwaffen im Manöver-Planspiel
Auch Russland hat sich neu aufgestellt. "Eskalieren, um zu deeskalieren" heißt das Konzept, das den Gegner schnell in die Knie zwingen soll. Tytti Erästö:
"Russland hat zum Beispiel im Streit über die US-amerikanische Raketenabwehr tatsächlich europäischen Ländern mit Atomwaffen gedroht. Und es signalisiert mit seinen Militärmanövern, dass es durchaus in einem konventionellen Konflikt taktische Atomwaffen einsetzen könnte."
Darauf soll inzwischen die NATO reagiert haben. Mit einer Revision ihrer Nuklearstrategie, die die nukleare Option mit einbezieht. Das Misstrauen auf allen Seiten ist groß. Heute verfügen mehr Staaten über Atomwaffen denn je. Und auch die Dynamik des Rüstens hat sich verändert. Die nukleare Rüstungskontrolle läuft hinterher.
Nur China erkärt Verzicht auf Atomwaffen-Ersteinsatz
Wie könnte sich das ändern? Tytti Eräströ:
"Der vielleicht größte Unterschied zwischen den fünf offiziellen Kernwaffenstaaten hat mit dem nuklearen Ersteinsatz zu tun, bei dem sich China von den anderen unterscheidet: Es hat als einziger offizieller Kernwaffenstaat auf den Ersteinsatz verzichtet, während die anderen – Russland, die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien – sich alle das Recht des Ersteinsatzes vorbehalten. Ich glaube, wenn die anderen Länder dem chinesischen Beispiel folgen würden, wäre eine große Quelle der Instabilität beseitigt."
Die Interkontintalrakete Dong Feng 41 soll die USA innerhalb einer halben Stunde erreichen können
Machtdemonstration während der Militärparade in Peking 2019: Die Interkontintalrakete Dongfeng 41 soll die USA innerhalb einer halben Stunde erreichen können (imago images / Xinhua)
Die Atomwaffen nur noch als Mittel der Abschreckung zu deklarieren - die Chancen dafür stehen derzeit schlecht. Eräströ:
"Wir empfehlen zunächst einige kleinere vertrauensbildende Schritte. Etwa eine gemeinsame politische Erklärung, Atomwaffen als Kriegsmittel zu verurteilen. Und um Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, Gewissheit zu geben, am Ende nicht Ziel von Nuklearangriffen zu werden, sollten die Sicherheitsgarantien verstärkt werden: durch eine Erklärung, dass sie unter keinen Umständen ins Visier genommen werden."
"Das Bewusstsein für nukleare Risiken schärfen"
Dafür müssten sich die Staatsoberhäupter des nuklearen Risikos überhaupt erst einmal wieder wirklich bewusst werden, fordert Tytti Erästö. Denn unabhängig von der Nukleardoktrin eines Landes sind sie es, die letztlich die Entscheidung über den Einsatz treffen:
"Es besteht durchaus das Risiko, dass diese Führer nicht wissen, was sie tun, wenn sie einen Atomangriff befehlen. Und ihr Urteilsvermögen könnte durch trügerische Konzepte wie Atomwaffen mit "geringer Sprengkraft" oder einem "begrenzten" Atomkrieg beeinträchtigt werden. Denn diese Konzepte verwischen die Tatsache, dass jeder Einsatz verheerend wäre und nach wie vor zu einem allumfassenden Atomkrieg führen könnte. Deshalb schlagen wir vor, das Bewusstsein für nukleare Risiken zu schärfen, mit besonderem Fokus auf das Konzept eines "begrenzten Atomkriegs".
Wenig spricht dafür, dass es bei einem begrenzten Atomkrieg bleiben würde. Und selbst wenn: Es wäre verheerend genug.
"Das Ausmaß der durch Atomwaffen verursachten Verwüstung widerspricht der Vernunft der Menschheit."