Donnerstag, 28. März 2024

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Inklusion
Das überholte Konzept der Werkstätten

Werkstätten für behinderte Menschen sind in der Kritik, weil sie oft keine tatsächliche Inklusion ermöglichen. Einblick in diese Praxis der Beschäftigung gibt ein Sammelband, herausgegeben von den beiden Experten Heinrich Greving und Ulrich Scheibner. Sie fordern eine Abschaffung der Werkstätten.

Von Christoph Richter | 29.11.2021
Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hg.): „Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“. Im Hintergrund die Abteilung Montage und Verpackung einer Werkstatt für Menschen mit geistigen und koerperlichen Behinderungen oder mit einer psychischen Erkrankung.
Die Experten Heinrich Greving und Ulrich Scheibner fordern, das Werkstätten-System abzuschaffen (Foto: IMAGO / Rupert Oberhäuser, Buchcover: Kohlhammer Verlag)
Schrauben-zählen, Steckdosen zusammenfrickeln oder Laub harken: monotone Arbeiten, die schwerst-mehrfach beeinträchtigen Menschen in sogenannten Behinderten-Werkstätten zugemutet werden. Im Durchschnitt gibt es dafür etwa 200 Euro Gehalt pro Monat und weniger. Einer, der das System genau kennt ist: André Thiel aus Halle an der Saale, langjähriger Beschäftigter in einer Behinderten-Werkstatt. 2000 hat er einen Realschulabschluss gemacht, später eine Ausbildung zur Bürokraft abgeschlossen.
Dennoch sei er an der Teilhabe gesellschaftlichen öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Weshalb er sich für eine gerechte Entlohnung in Werkstätten für behinderte Menschen einsetzt. Ohne Erfolg, schreibt André Thiel in dem Sammelband.
„Ich bekam nicht einmal 175 Euro Werkstatt-Lohn. Das ist schmerzlich. Denn ein solches Monatseinkommen reicht nicht mal für ein bisschen Kultur. […] Mit dem ärmlichen Leben wollte ich mich nicht abfinden. Darum habe ich den ‚Werkstatt‘-Träger auf Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns verklagt. Doch keine Gerichtsinstanz hatte mir zu meinem Recht verholfen. […] Wenn die Politik also Inklusion wirklich will, muss sie gerade hier dringend nachbessern.”

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Dauerhafte Ausgrenzung ohne Entwicklungschancen

Mit André Thiel wird der Ton gesetzt, im vorgelegten Sammelband. Unmissverständlich wird eine Kritik am System der “Werkstätten für behinderte Menschen” formuliert. Beim Lesen wird schnell deutlich: Werkstätten sind – wie es heißt – “Aussonderungseinrichtungen”, in denen die dort beschäftigten Menschen nichts zu sagen, nichts zu bestimmen haben. Und sie werden dort dauerhaft ausgrenzt, ohne Chancen auf ein normales Berufsleben, wie es die Mehrheitsgesellschaft kennt.
Herausgeber des Sammelbands sind der Heilpädagoge Heinrich Greving und Inklusions-Experte Ulrich Scheibner. Ihr Fazit liefern sie gleich auf den ersten Seiten ab.
„Alle Autoren sind sich einig: die Werkstätten für behinderte Menschen sind eine großartige Erfolgsgeschichte – zu ihrer Zeit gewesen. Denn sie haben in den 1980er und 1990er Jahren dazu beigetragen, einen bis dahin weitgehend ‚unsichtbaren‘ Bevölkerungsteil sichtbar zu machen […]. Doch ‚Werkstätten‘ dieser Art hat der Gesetzgeber als Absonderungseinrichtungen konzipiert. Daran und an der mangelnden Reformbereitschaft hat sich bis heute nichts geändert.”
Das Bundesteilhabegesetz aus dem Jahr 2016 habe für Menschen mit Beeinträchtigungen, die in den Werkstätten arbeiten, wenig bis gar nichts gebracht, schreiben die Autoren. Sie würden angehalten monotone Tätigkeiten auszuführen. Berufsausbildung, Qualifizierung oder gar Fort- und Weiterbildungen gebe es nicht. Es ist ein – Zitat – “Trugbild sozialer Gerechtigkeit” und “ein wichtiges Entlastungssystem einer inklusionsunwilligen Politik”.

Privatwirtschaft erfüllt Quote nicht

Zudem wird die Privatwirtschaft harsch kritisiert, in der behinderte Menschen kaum beschäftigt würden, so schreiben es z.B. Bernhard Sackarendt vom Sozialverband Deutschland und Ulrich Scheibner. Er war 25 Jahre Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen.
„Von den beschäftigungspflichtigen 165.000 Unternehmen erfüllen 127.000 die gesetzliche Auflage nicht. Das sind mit 77 Prozent mehr als Dreiviertel aller Unternehmen. Über ein Viertel stellt behinderten Menschen gar keinen Arbeitsplatz bereit: 42.000 Arbeitgeber. Der Vergleich zwischen besetzten und unbesetzten Pflichtarbeitsplätzen […] offenbart das gesellschaftliche, politische und arbeitsmarktpolitische Versagen.”
Einen Aufschrei hat das gut recherchierte und faktenbasierte Buch bisher nicht produziert. Auch weil behinderte Menschen keine große Lobby haben. Die elf Autoren wissen, wovon sie reden, weil sie alle das System der Behinderten-Werkstätten von innen kennen.
Wer Inklusion wolle, der müsse das Werkstätten-System abschaffen, lautet die wiederholte Forderung. Hubert Hüppe – der frühere Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen und Mitglied im Vorstand der Lebenshilfe Deutschland - fordert eine Grundgesetz-Änderung. “Eine kleine Veränderung” – wie er sagt - die viel bewirken könne.
„Die Ergänzung des Grundgesetzes: Aufnahme des gleichen Rechts auf Arbeit und Einkommen durch den Zugang zu einem offen gestalteten, inklusiven Arbeitsmarkt.”

Forderung: Werkstätten-System abschaffen

Das ausfühliche Literatur-und Stichwortverzeichnis macht den Sammelband zu einem Standardwerk eines völlig aus der Zeit gefallenen Systems der Behinderten-Werkstätten. Als lebenslanges “Verwahrsystem” für Menschen mit Behinderung müssten die Werkstätten abgeschafft werden, schreiben auch Sackarendt und Scheibner. Und formulieren in ihrem Beitrag – “Keine Werkstatt ist das Beste” – einen Acht-Punkte Katalog. Einer davon:
„‘Werkstätten‘ dürfen nicht länger subkulturelle Dauerarbeitsstätten neben dem üblichen Erwerbsleben bleiben. Wie für alle Reha-Einrichtungen muss für die “Werkstätten” gelten: Ihre Maßnahmen sind zeitlich zu begrenzen und müssen ins übliche Leben führen […], damit sie ihren Lebensunterhalt durch übliche, angepasste Arbeit im konventionellen Erwerbsleben verdienen können.”
Die Corona-Pandemie hat die Werkstätten-Krise weiter vertieft, schreiben die Herausgeber Heinrich Greving und Inklusions-Experte Ulrich Scheibner in einer Art Epilog.
„Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“: Ein deutlich formulierter Sammelband, der kaum Fragen offen lässt. Auch wenn der Sprachstil zuweilen hölzern daher kommt, so kann man den Text dennoch als eine Art Munitionierung betrachten. Für all diejenigen, denen die Lebensumstände behinderter Menschen am Herzen liegen und die Verhältnisse ändern wollen. Und natürlich: Es sollte auch Pflichtlektüre für die neue Regierungskoalition sein. Damit sie die berufliche Situation behinderter Menschen in den Blick nehmen, um die Umstände endlich menschenrechtskonform zu gestalten.
Heinrich Greving, Ulrich Scheibner (Hg.): „Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“, Kohlhammer-Verlag, 379 Seiten, 39 Euro.