Wolfgang Richter erinnert sich noch genau an den Anruf von vor 30 Jahren. Am andere Ende der Leitung spricht der Chefredakteur einer Lokalzeitung in den Hörer: "Wir haben diesen anonymen Anruf bekommen, dass am Samstag hier aufgeräumt wird auf der Wiese." Er fragt Richter, ob die Zeitung den Anruf veröffentlichen soll.
"Heiße Nächte" mit Ankündigung
Wolfgang Richter ist damals Ausländerbeauftragter der Hansestadt Rostock. Er rät von einer Veröffentlichung ab. Der Anruf könne von außen, wie ein Aufruf wahrgenommen werden, sich zu versammeln und Gewalt auszuüben, sagt Richter. "Damals war Zeitung noch wichtig."
Der Chefredakteur folgt der Empfehlung Richters nicht. Am nächsten Tag erscheint auf der Titelseite folgender Artikel:
Jan-Peter Schröder wohnt damals in Rostock-Lichtenhagen und berichtet als Reporter für die Ostsee-Zeitung. Er erinnert sich im Deutschlandfunk an seine überforderten Kolleginnen und Kollegen, die einfach "aufgenommen haben, was dort gesagt wurde und unreflektiert ins Blatt gegossen haben", dazu gehörten auch rassistische Äußerungen und Drohungen. Die Ostsee-Zeitung hat ihre Versäumnisse von damals vor fünf Jahren unter dem Titel "Das Versagen der Medien" selbst aufgearbeitet.
Täter-Opfer-Umkehr beim Thema Asyl
Rostock-Lichtenhagen findet in einer Zeit statt, in der die Politik hitzig über das Asylrecht debattiert. Auch die Medien haben, nach Ansicht des ehemaligen Ausländerbeauftragten Wolfgang Richter, die gesellschaftliche Stimmung angeheizt, mit Überschriften wie "Das Boot ist voll" und "Asylantenflut". Zum 25. Jahrestag hat das Online-Portal Übermedien die Berichterstattung von damals zusammengefasst.
Für die Probleme vor Ort wurden Anfang der 1990er Jahre vor allem die Asylsuchenden verantwortlich gemacht, anstatt auf politische Entscheidungen zu schauen oder den Rassismus in der Gesellschaft zu thematisieren. Sowohl in lokalen als auch überregionalen Medien sei dadurch eine Täter-Opfer-Umkehr aus der Politik in die Medien geschwappt, sagt Jochen Schmidt dem Deutschlandfunk. Schmidt war damals als Hospitant beim ZDF und mit einem Fernsehteam, Wolfgang Richter und ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitenden im brennenden Sonnenblumenhaus eingekesselt.
"Hitlergruß für einen Fuffi"
Für ihn ist Lichtenhagen bis heute der "erste und einzige Brandanschlag in der deutschen Mediengeschichte, der live übertragen wurde. Alle waren da. Alle haben drauf gehalten." Die Medien seien für ihn damals mehr Regisseure als Journalisten gewesen. Einige hätten noch Scheinwerfer aufgebaut und den Tätern damit das Zeichen gegegeben, wenn etwas passieren sollte, dann im Licht vor den Kameras. Erst als die Polizei reagiert: "Macht die Dinger aus oder wir schießen sie aus", werden die Scheinwerfer wieder abgebaut.
Jochen Schmidt erzählt auch von einem Jugendlichen, der ihm anbietet: "Hitlergruß für einen Fuffi." Schmidt lehnt zwar ab, wenig später kommt der Junge allerdings wieder - das italienische Fernsehen habe bezahlt. Der Musiker Marteria schildert es genau umgekehrt: Ihm hätten damals Medien Geld angeboten, damit er die verfassungsfeindliche Geste zeigt.
Was Medien gelernt haben
Die wenigsten hätten sich damals gefragt: „Ist alles richtig, was wir berichten?", sondern: "Sind wir die Ersten?“, so Schmidt. Er sagt aber auch: "Die Medienlandschaft war nach Lichtenhagen eine andere." Viele Medienschaffende seien erschrocken gewesen über ihr eigenes Verhalten. Für Jochen Schmidt eine heilsame Erkenntnis.
Zustimmung bekommt Schmidt von Jan-Peter Schröder von der Ostsee-Zeitung. Fehler könnten zwar immer wieder passieren, aber seine Lehre ist 30 Jahre später: "Man muss einfach professionell und wachsam sein und mit der gewissen Empathie da ran gehen."