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DDR-Geschichte
Noch immer Aufklärungsbedarf über Stasi-Entführungen

Die Stasi hat in den 50er-Jahren bis zum Mauerbau rund 400 Menschen aus West-Berlin und der Bundesrepublik in die DDR entführt. Das neue Buch "Auftrag Menschenraub" der Historikerin Susanne Muhle war Anlass für eine Diskussionsveranstaltung in der Gedenkstätte Berliner Mauer.

Von Isabell Fannrich-Lautenschläger | 26.03.2015
    Kurz vor dem Mauerbau, im Juni 1961, wurde Heinz Brandt während einer Dienstreise von West-Berlin in die DDR entführt.
    "Ich war elf Jahre alt, als mein Vater verschwand. Und die Umstände waren uns vollkommen unklar. Es war so, dass er plötzlich einfach weg war. Und erst viel später meine Mutter aus einer ADN-Meldung die Nachricht bekam, er sei in Potsdam verhaftet worden. Und in Untersuchungshaft."
    Die DDR-Nachrichtenagentur wollte damals das Gerücht verbreiten, Heinz Brandt sei wieder in die DDR zurückgekehrt, erzählt Stefan Brandt, der Sohn des früheren SED-Funktionärs.
    Vergebliches Warten
    Drei Jahre zuvor war die Familie in die Bundesrepublik geflohen. Und wartete nun ein Jahr lang vergeblich auf eine Nachricht über den Verbleib des Vaters.
    "Und dann hat es eben ein Jahr später erst den Prozess gegeben. Und in der Zwischenzeit haben wir keine Nachrichten bekommen. Es hieß nur, er sei wegen Spionage angeklagt und für ein elfjähriges, zwölfjähriges Kind ist es natürlich so eine Sache, dass ein Mensch nicht ohne Grund angeklagt werden könnte. Da haben mich andere Kinder auch aus der Schule hoch genommen und haben gesagt: Dein Vater ist im Gefängnis, da muss er ja auch was verbrochen haben.
    Die Entführung von Heinz Brandt zählt zu einer der letzten in der DDR der 50er-Jahre. Bis zum Mauerbau 1961 hat die Staatssicherheit rund 400 Menschen in der Bundesrepublik gekidnappt oder durch Täuschungsmanöver über die Grenze gelockt.
    In ihrem neuen Buch "Auftrag: Menschenraub" untersucht Susanne Muhle so prominente Fälle wie die des Journalisten Karl-Wilhelm Fricke oder des Juristen Walter Linse.
    Die Historikerin knöpft sich aber auch viele bislang weniger bekannte Entführungen vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Stasi die - tatsächlichen oder vermeintlichen - Mitarbeiter und Kontaktpersonen von westlichen Geheimdiensten und antikommunistischen Organisationen im Auge hatte und sie mit diesen Aktionen abschrecken wollte.
    Entführungen als Machtinstrument
    Mit besonderer Vehemenz aber verfolgte der Staatssicherheitsdienst geflohene Regimekritiker, DDR-kritische Journalisten oder in den Westen übergelaufene Grenzsoldaten, Volkspolizisten und eigene Mitarbeiter. Die Entführten erwartete in der DDR ein abgekartetes Strafverfahren und eine häufig mit dem Vorwurf der Spionagetätigkeit begründete hohe Haftstrafe.
    Drei Viertel der Entführungen geschahen in der ersten Hälfte der 50er-Jahre. Obwohl sie streng geheim gehalten wurden, wollte die DDR paradoxerweise damit ihre Macht demonstrieren.
    "In einer Zeit, die sehr geprägt war von der Diktaturdurchsetzung in der DDR, einer Zeit, in der die SED-Herrschaft von Krisen geschüttelt war - ich erinnere nur an den Volksaufstand 1953. Und auch in einer Phase, wo der Kalte Krieg auf deutschem Boden und auch die Systemkonfrontation sehr massiv war. Und in dieser Atmosphäre setzte die Staatssicherheit mit diesen Entführungen Zeichen, also tatsächlich eine abschreckende Wirkung, aber auch ein Gefühl der Unsicherheit und der Verunsicherung in West-Berlin zu erstellen, was durchaus auch gelungen ist."
    Licht ins Dunkle bringen
    Über die Stasi-Entführungen hat vor 1990 bereits Karl-Wilhelm Fricke geforscht. Der DDR-kritische Journalist wurde selbst 1955 nach Ostberlin verschleppt und verbrachte vier Jahre in Einzelhaft. Nach seiner Rückkehr nahm er einzelne Fälle unter die Lupe und griff dabei auf Urteile gegen politische Häftlinge, offizielle Schriften der Staatssicherheit und die Erzählungen von Zeitzeugen zurück.
    Auch die Berichte von Überläufern wie die des Doppelagenten Werner Stiller brachten Licht ins Dunkle.
    Dass die Entführungen nicht vereinzelt und spontan, sondern in großer Zahl und geplant erfolgten, habe Susanne Muhle jetzt erstmals wissenschaftlich untermauert, hebt Fricke hervor:
    "Entführungen also als Kalkül in der Strategie und Taktik der Staatssicherheit und keine spontan-operativen Entscheidungen, sondern eben planmäßig. In meinem eigenen Fall: Es war so, dass ich zwar am 1. April 55 entführt wurde. Aber die operative Bearbeitung ging nach der Aktenlage schon bis April 1954 zurück, also über ein Jahr. Und dann bin ich ja im Rahmen einer Großaktion entführt worden, der sogenannten Aktion Blitz, wie Frau Muhle in ihrem wunderbaren Buch geschrieben hat. Das habe ich natürlich auch nicht vermuten können."
    In dem Buch steckt Detektivarbeit. Die Historikerin benötigte die Namen der Entführten und der Entführer, um an die entsprechenden Stasi-Akten zu gelangen. Fündig wurde Muhle allerdings nicht beim MfS, sondern auf westlicher Seite - in den Akten der Staatsanwaltschaft, die in den 90er-Jahren erneut in den Entführungsfällen ermittelte.
    Die westberliner Polizei hatte in den 50er und 60er-Jahren eine Liste geführt mit mehr als 300 Namen von Entführungsopfern. Auf dem mehrere 100 Seiten umfassenden Papier nannte sie neben möglichen Verdächtigen und dem Tathergang auch, ob und wann die Betroffenen aus der DDR-Haft zurück gekehrt waren.
    "Und da hat sich gezeigt, dass in vielen Fällen sie die richtigen Personen in Verdacht hatten, also die richtigen Tatverdächtigen auch verfolgt haben. Diese Verfolgung lief dann oftmals nicht sehr erfolgreich, weil die Entführer mittlerweile sich in die DDR zurückgezogen hatten und dadurch für die westdeutsche Strafverfolgung nicht mehr erreichbar waren. "
    Wie im Fall von Heinz Brandt. Die Stasi ließ den in Ungnade gefallenen kritischen SED-Funktionär nach seiner Flucht nicht mehr aus den Augen.
    So wurden er und seine Kinder zunächst in West-Berlin observiert. Und später auch in Frankfurt am Main, wo Heinz Brandt als Redakteur bei der Zeitung "Metall" der Gewerkschaft IG Metall arbeitete. Stefan Brandt:
    "Über uns wohnte auch ein IG-Metall-Mensch, ein gewisser Herr Beyerlein. Und der war auch unmittelbar an der Entführung beteiligt. Das heißt, dass der Nachbar über jeden unserer Schritte Bescheid wusste. Und er war auch mit meinem Vater zusammen in West-Berlin an diesem Gewerkschaftstag. Und insofern ist das also etwas, was relativ einfach zu organisieren war und mein Vater dann eben völlig arglos in diese Falle getapst ist."
    Der IG-Metall-Kollege und scheinbar nette Nachbar lotste Heinz Brandt in eine Berliner Wohnung, in der ihn eine Frau mit einem Getränk betäubte. Nach seiner Entführung wurde er in der DDR zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt, konnte aber infolge internationaler Proteste nach zwei Jahren in den Westen zurückkehren. Susanne Muhle:
    "Die Stasi warb gezielt aus dem Umfeld von zu entführenden Personen Menschen an, Freunde, Arbeitskollegen, oder versuchte, IM tatsächlich in das Umfeld herein zu schmuggeln. Das heißt zum Beispiel über ein gemeinsames Hobby. Und so hat man dann jemanden im Umfeld platziert, der Informationen liefern konnte über die Lebensgewohnheiten. Und anhand dieser Informationen wurden dann die Entführungspläne entwickelt."
    Handlangeraus dem kriminellen Milieu
    Überraschenderweise, so fand Muhle heraus, rekrutierte die Staatssicherheit aber jene, die die Entführungen durchführten, im kriminellen Berliner Milieu. Bei den sogenannten Entführer-IM drehte es sich meist um junge Männer, die mehr aus finanziellen als aus politischen Erwägungen handelten. Sie empfahlen sich der Stasi gegenseitig weiter und hatten in West-Berlin einen so großen Handlungsspielraum, dass sie sogar eigenständig Entführungen vorschlugen.
    Abgesegnet wurden diese von der MfS-Spitze. Welche Rolle die SED dabei spielte, muss noch erforscht werden. Ein zentrales Dokument, das die Entführungen anordnete - oder wieder abschaffte - konnte Susanne Muhle nicht finden.
    "Es gibt aber einzelne Entführungsfälle, wo tatsächlich im letzten Moment eine Entführung dann abgesagt wurde mit Rücksicht auf politische Entwicklungen. Also, dass man einen politischen Skandal fürchtete, falls diese Entführung missglückt oder bekannt wird und man sofort davor zurückschreckte."