Montag, 20. Mai 2024

Sport in der DDR
Wie vietnamesische Vertragsarbeiter Schutz im Fußball fanden

Die marode DDR-Wirtschaft war auf mehr als 90.000 Vertragsarbeiter angewiesen. Gut zwei Drittel von ihnen stammten aus Vietnam. Der Alltag der Vertragsarbeiter war mitunter von Isolation und Rassismus geprägt. Positive Ablenkung bot der Sport.

Von Ronny Blaschke | 01.10.2023
Botschafter Vu Quang Minh begrüßt die Kapitäne beim Fußball-Turnier der vietnamesischen Vereine in Deutschland.
Botschafter Vu Quang Minh begrüßt die Kapitäne beim Fußball-Turnier der vietnamesischen Vereine in Deutschland. (Ronny Blaschke)
Eine Sportanlage am Stadtrand von Leipzig vor wenigen Wochen. Für gewöhnlich trägt hier der SV Lokomotive Engelsdorf seine Heimspiele aus. Doch an diesem Sonntag findet ein anderes Ereignis statt: das Fußballturnier der vietnamesischen Vereine in Deutschland. Zwölf Mannschaften sind dabei. Nur das Team aus Göttingen stammt nicht aus den ostdeutschen Bundesländern.
„Fußball ist ein Sport, der die jüngere Generation vereint. Das ist etwas, was die vietnamesische Gemeinschaft wirklich braucht“, sagt Vu Quang Minh, seit 2022 vietnamesischer Botschafter in Berlin. Auf dem Sportgelände schüttelt er Hände, macht Selfies, und kommt mit den deutsch-vietnamesischen Fußballern ins Gespräch.
„Wir Vietnamesen kamen vor etlichen Jahrzehnten hierher, während der Zeit der DDR. Damals fanden wir hier ein neues Zuhause. Die Menschen arbeiteten hart und nun knüpfen ihre Nachfahren, die zweite Generation, daran an. Fußball kann eine Brücke zwischen beiden Generationen bilden“, erklärt Vu Quang Minh.

16 vietnamesische Teams in der DDR

Vor dem Turnier in Leipzig wird die vietnamesische Hymne gespielt. Einer der Organisatoren, Hoang Van Thanh, wirkt gerührt. Er kam 1988 in die DDR, als einer von 60.000 vietnamesischen Vertragsarbeitern. Er wurde für eine Metallfabrik im Leipziger Stadtteil Mockau eingeteilt. Integrations- oder Sprachkurse wurden ihm in der DDR nicht angeboten, unterstreicht er:
„In unserer Heimat gab es nach dem Vietnam-Krieg große Herausforderungen. Wir wollten uns in der DDR eine neue Existenz aufbauen. Wir wollten von niemandem abhängig sein. Daher haben wir uns unauffällig verhalten. Die vietnamesische Gemeinschaft hat uns Kraft gegeben.“
Hoang Van Thanh hat das Turnier organisiert.
Hoang Van Thanh hat das Turnier organisiert. (Ronny Blaschke)
Eines der Lieblingsthemen dieser Gemeinschaft in der DDR war Fußball. Zwischen Ostsee und Erzgebirge formierten sich 16 Mannschaften vietnamesischer Vertragsarbeiter. Im Spielbetrieb der DDR waren sie nicht willkommen, deshalb organisierten sie eigene Turniere.
Hoang Van Thanh, damals Anfang 20, kümmerte sich um Plätze, Reisebusse und Trikots. Die Vietnamesische Botschaft verbreitete die Informationen in ihren Rundschreiben. Hoang Van Thanh erinnert sich: „Unser Alltag war nicht leicht. Aber im Fußball konnten wir unsere Gemeinschaft leben. Allein in Leipzig gab es fünf vietnamesische Teams. Beim Fußball fühlten wir uns sicher.“

Frauen wurden mitunter zur Abtreibung gedrängt

Die marode DDR-Wirtschaft war in den 80er-Jahren auf rund 90.000 Vertragsarbeiter angewiesen. Sie kamen aus Mosambik, Angola oder Vietnam, und sie mussten oft gesundheitsgefährdende Aufgaben verrichten. Die Arbeiter mussten häufig ihre Pässe abgeben und Anteile ihres Lohnes an die heimischen Regierungen abführen. In der Regel wurden sie in engen Wohnheimen untergebracht, sagt der Historiker Patrice Poutrus, der seit langem zum Thema forscht:

Es ist ihnen nur so viel Deutsch beigebracht worden, wie es nötig war. Es war nicht vorgesehen, dass es so etwas gibt wie partnerschaftliche Beziehungen zu Deutschen. Und im Extremfall: Wenn Frauen, die es auch gab unter den Vertragsarbeiter*innen, hier in der DDR schwanger wurden, gab es so eine Art Abschiebepraxis. Also Schwangere sollten entweder abtreiben, was in der DDR ja legal war, oder in ihre Heimat zurückkehren.

In der DDR-Propaganda galt die Vertragsarbeit als solidarische Hilfe für die „Bruderstaaten“. Tatsächlich aber sollten Kontrollen in den Wohnheimen und die Staatssicherheit einen intensiven Kontakt zwischen Vertragsarbeitern und DDR-Bürgern erschweren. Auch über rassistische Angriffe durften Medien nicht berichten. Sport dagegen bot den Vertragsarbeitern eine Möglichkeit, um aus den Restriktionen herauszutreten, sagt Patrice Poutrus:
„Und weil es einen Eintritt in die ostdeutsche Gesellschaft bedeutete. Man konnte den Leuten, denen man per Vertrag nicht wirklich begegnen sollte, den konnte man begegnen. Kollegen, oder auch Leuten, die mit der Arbeit gar nichts zu tun hatten.“

Permanent unter Abschiebedruck

Nach dem Mauerfall verloren zehntausende Vertragsarbeiter ihre Anstellungen und Wohnplätze. Viele von ihnen gingen zurück in ihre Herkunftsländer. Die vietnamesische Regierung aber sträubte sich gegen die Rücknahme und hoffte weiter auf Geldüberweisungen aus Deutschland. 20.000 Vietnamesen blieben in der vereinigten Bundesrepublik. Viele von ihnen wurden Opfer von Rassismus, erinnert der in Ost-Berlin aufgewachsene Patrice Poutrus:
"Wo es Jahre gedauert hat, bis interessierte Initiativen sich dafür eingesetzt haben, dass deren Status stabilisiert wird. Die permanent unter Abschiebungsdruck standen. Die ihre Existenz ebenfalls neu aufbauen mussten wie alle Ostdeutschen. Und gleichzeitig sich nicht sicher sein konnten, dass ihre ostdeutschen Partner und Partnerinnen nicht eventuell auch ihre rassistischen Feinde sind. Und darüber zu reden, ist einfach auch schwer.“
Auch der langjährige Fußballer Hoang Van Thanh scheint in Leipzig nicht im Detail über die 90er-Jahre sprechen zu wollen. Immer wieder erwähnt er Fleiß, Arbeitsmoral, Anpassungsfähigkeit. Er baute sich ein Textilunternehmen auf. Und organisierte weiterhin Turniere, allerdings mit weniger Teams.

Fußball als Brücke zur Kultur der Eltern

Nun beim Turnier in Leipzig will die vietnamesische Gemeinschaft die Fußballtradition weiter stärken. Am Rand auf einer Holzbank sitzt Bao Linh Huynh, 33 Jahre alt, aufgewachsen in Dresden.
Bao Linh Huynh engagiert sie sich für den Verein der Vietnamesen in Leipzig
Bao Linh Huynh engagiert sie sich für den Verein der Vietnamesen in Leipzig (Ronny Blaschke)
Er engagiert sich für den Verein der Vietnamesen in Leipzig. Sie möchte, dass ihre Gemeinschaft, anders als früher, mehr an die Öffentlichkeit geht. Mit Kulturveranstaltungen oder Fußballturnieren. Das würde dann auch nach innen wirken, sagt sie:

Fußball in der vietnamesischen Community der zweiten Generation ist tatsächlich auch ein Ort, um die junge Generation zusammenzubringen. Das auch als Ort zu sehen, wo man Zugang zur vietnamesischen Sprache hat und zur vietnamesischen Kultur. Vielleicht erweckt das dann auch bei der zweiten Generation, die hier geboren und aufgewachsen ist, das Interesse an Vietnam und deren Heimat. Dass sie Vietnam nicht nur als Urlaubsort sehen, sondern wirklich als Wurzel.

Das bundesweite Fußballturnier soll regelmäßig stattfinden. Die vietnamesische Botschaft möchte eine deutsch-vietnamesische Mannschaft aufbauen, die an internationalen Turnieren teilnimmt. Auch, um an die komplizierte Geschichte zu erinnern, die vor gut 40 Jahren in der DDR begonnen hat.