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De Vigan "Nach einer wahren Geschichte"
Psychothriller zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Eine Schriftstellerin, die Delphine heißt, ein Buch über eine Schreibblockade schreibt und in deren Leben sich eine Frau als gute Freundin einschleicht: Ist die nun gleichzusetzen mit der Autorin oder nicht? Delphine de Vigan spielt in "Nach einer wahren Geschichte" ein raffiniertes Vexierspiel mit den Ebenen Fiktion und Wirklichkeit.

Von Dina Netz |
    Buchcover: Delphine de Vigans "Nach einer wahren Geschichte", rechts: die Autorin selbst.
    Buchcover: Delphine de Vigans "Nach einer wahren Geschichte", rechts: die Autorin selbst. (Dumont / dpa / picture alliance / EPA / ANDREU DALMAU)
    Schon in ihrem vorigen Buch hat Delphine de Vigan aus ihrem eigenen Leben erzählt. Der 2011 erschienene, autobiografisch grundierte Roman "Das Lächeln meiner Mutter" handelte von ihrer Mutter, einer unkonventionellen Frau, die eines Tages Selbstmord beging. Nach Erscheinen dieses Buches wurde De Vigan von ihren Leserinnen und Lesern mit Fragen geradezu gelöchert, was daran Wahrheit und was Fiktion sei. Dieses brennende Interesse am Autobiografischen hat die Autorin offenbar überrascht und verstört, sodass man ihren neuen Roman "Nach einer wahren Geschichte" auch als Antwort auf die Reaktionen ihrer Leser verstehen kann.
    "Ich frage mich wirklich, warum die Leser so nach dem Wahren gieren. In Frankreich sind wahre Geschichten ein starker Trend in der Literatur und im Film, das ist inzwischen geradezu ein kommerzielles Argument: Wenn auf einem Filmplakat steht "nach einer wahren Geschichte", dann werden vermutlich mehr Zuschauer kommen."
    Mit ihrem neuen Buch pariert de Vigan diese Faszination für das Biografische geschickt. Die Erzählerin ist nämlich eine Schriftstellerin namens Delphine, die kürzlich einen erfolgreichen Roman über ihre Mutter veröffentlicht hat, zwei Kinder hat, die gerade flügge werden, und mit einem Fernsehmoderator namens François liiert ist. Alles Informationen, die auch auf die Autorin Delphine de Vigan zutreffen. Aber natürlich ist die Erzählerin im Buch nicht mit der realen Schriftstellerin gleichzusetzen – oder etwa doch? Und damit sind wir schon mitten im Thema des Buches.
    Es gibt aber nicht nur ein Meta-Thema, sondern auch eine Geschichte: Die Erzählerin Delphine ist vom Erfolg ihres Mutter-Buches überrascht worden, sie ist erschöpft und überfordert von zahllosen Veranstaltungen und Gesprächen mit Lesern. Außerdem erhält sie anonyme Drohbriefe. In dieser angeschlagenen Verfassung lernt sie auf einer Party eine Frau kennen, deren Namen sie mit L. abkürzt. Sie freunden sich an. Und bald schon nimmt L. in Delphines Leben eine wichtige Rolle ein. So wichtig, dass L. schließlich Delphine ihr nächstes Roman-Vorhaben ausreden kann, weil es nicht genug Wahrheit enthalte. Delphine entwickelt eine Schreibphobie.
    Einige Monate nach dem Erscheinen meines jüngsten Romans hörte ich auf, zu schreiben. Fast drei Jahre lang schrieb ich keine Zeile. Solche Redewendungen sind manchmal wörtlich zu nehmen: Ich schrieb kein einziges Behördenschreiben, keinen Dankesbrief, keine Ansichtskarte, keinen Einkaufszettel. Nichts, was irgendein Formbemühen oder Formulieren verlangt hätte. Keine Zeile, kein Wort. Beim Anblick eines Blocks, eines Hefts oder einer Briefkarte wurde mir übel.
    L. ist die Ursache des Problems
    Wie gelegen kommt in dieser Situation L.'s Angebot, Delphine zu helfen, ihre Korrespondenz zu übernehmen. Bis ihr klar wird, dass L. nicht die Lösung, sondern die Ursache des Problems ist, ist diese schon weit in ihr Leben eingedrungen. Viel weiter, als Delphine zunächst ahnt. Die Beziehung der beiden Frauen endet – vorerst – in Stephen-King-Manier in einem Haus ohne Kontakt zur Außenwelt, aus dem Delphine wegen eines verletzten Fußes nicht weg kann.
    Dieser Showdown ist vielleicht ein wenig pompös geraten. Aber wie de Vigan erzählt, wie L. wie eine Spinne ihr Netz immer enger um Delphine herum webt, das hat echte Psychothriller-Qualitäten. Und diese Ebene ihres Buches kostet De Vigan auch sichtlich aus, indem sie immer neue irritierende Details einfügt und ihre sich vor unguten Vorahnungen windenden Leser längst ahnen lässt, dass Delphine ein williges Opfer ist, während diese noch an seltsame Zufälle und das Gute in L. glaubt. Delphine lotet in der Retrospektion so genau die Begegnungen mit L. und ihre eigenen Gefühle von damals aus, als rekonstruiere sie ein Verbrechen. Und diese präzisen und zugleich empathischen Beschreibungen von Gefühlszuständen und Figuren sind eine Stärke de Vigans.
    Mir fiel ziemlich schnell auf, dass L. ein unerhörtes Gespür für den anderen hatte, die Gabe, die richtigen Worte zu finden, jedem zu sagen, was er brauchte. Es dauerte nie lange, bis L. die richtige Frage stellte oder die Bemerkung machte, an der ihr Gesprächspartner merkte, dass nur sie imstande war, ihn zu verstehen und zu trösten. L. wusste nicht nur auf den ersten Blick den Grund der Verstörung herauszufinden, vor allem fand sie den Riss, der, so tief er auch vergraben sein mag, in jedem von uns steckt.
    Was ist Realität, was Fiktion?
    Ein Schriftsteller, der im Licht der Öffentlichkeit steht, ist ein gefundenes Fressen für obsessive Charaktere, hat Delphine de Vigan in einem Interview gesagt. Und damit bewusst offengelassen, ob sie tatsächlich selbst Opfer eines solchen Übergriffs geworden ist. Sie hat lediglich durchblicken lassen, dass sie sich von wahren Begebenheiten hat inspirieren lassen. Und zitiert immer wieder den Schriftsteller Jules Renard: "Sobald eine Wahrheit länger als fünf Zeilen ist, ist es ein Roman." Erzählen bedeutet nämlich immer formen, so De Vigan. Und deshalb trägt ihr Buch auch die fünf Buchstaben auf dem Titelblatt, die Fiktion signalisieren: Roman. Es ging ihr aber nicht nur um die eigene Auseinandersetzung mit Fiktion und Wirklichkeit:
    "Mir war daran gelegen, dass jeder Leser sich während der Lektüre selbst mit seiner Beziehung zum Lesen und zur Fiktion beschäftigt. Und mein Kalkül ist offenbar aufgegangen: Die meisten Leser erzählen, dass sie an einen Punkt kommen, an dem sie sich fragen: Ist das wahr? Oder was ist daran wahr? Warum mag ich überhaupt sogenannte wahre Geschichten? Oder warum lese ich lieber Fiktionales? Ich wollte, dass die Leser sich während der Lektüre mit diesen Fragen auseinandersetzen."
    Wie auch immer die Leser diese Frage beantworten: De Vigan hält in ihrem Buch jedenfalls kein Literaturseminar, sondern sie hat, bei aller Meta-Ebene, einen überraschenden, spielerischen und raffinierten Roman geschrieben.
    Delphine de Vigan: "Nach einer wahren Geschichte"
    Aus dem Französischen von Doris Heinemann
    DuMont Buchverlag, Köln 2016, 350 Seiten, Preis: 23 Euro
    -> Das Hörbuch, gelesen von Martina Gedeck, ist bei Random House Audio erschienen: 8 CDs, Laufzeit 9'37 Stunden, Preis: 22,99 Euro