Samstag, 20. April 2024

Archiv

Debatte um innere Sicherheit
"Trittbrettfahren auf den Ereignissen des islamistischen Terrors"

Bundesinnenminister Thomas de Maizière konstruiere mit seinen Vorschlägen für eine neue Sicherheitsstruktur eine Art Notstand, den es nicht gebe, sagte die Linken-Politikerin Martina Renner im DLF. Das sei "kreuzgefährlich", weil es die AfD in ihrer Behauptung bestärke, der Staat sei gegen neue Formen der Kriminalität quasi schutzlos.

Martina Renner im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 04.01.2017
    Die Linken-Politikerin Martina Renner hält während eines Interviews gestikulierend die rechte Hand hoch.
    Die Linken-Politikerin Martina Renner ist Mitglied im Innenausschuss und war Obfrau im NSA-Untersuchungsausschuss. (imago/IPON)
    De Maizière gehe es um eine ganz neue Definition der Innenpolitik, sagte die Linken-Politikerin Martina Renner im DLF. Wenn er von einem starken Staat spreche, stelle er nicht mehr die Frage nach einer funktionierenden Gefahrenabwehr oder effektiver Strafverfolgung. Die Notstandssituation, in die der Innenminister die Menschen hineinrede, existiere jedoch nicht, wenn man sich die Kriminalitätsstatistik ansehe. De Maizière negiere durch seine Vorschläge auch die Verantwortung des Bundes in der Sicherheitspolitik. Die Linke sei sehr skeptisch, was eine Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz angehe.
    Renner nannte eine Zentralisierung "absurd". Eine solche Debatte jetzt zu führen, sei Trittbrettfahren auch auf den schrecklichen Ereignissen des islamistischen Terrors. Ihrer Ansicht nach muss der Verfassungsschutz andere Kompetenzen bekommen, um Radikalisierungswege von Tätern zu verstehen und Gefährder intensiver beobachten zu können.
    Renner kritisiert Vorgehen der Behörden im Fall Amri
    "Man ist nicht bereit, eigene Versäumnisse aufzuarbeiten", sagte die ehemalige Obfrau im NSA-Untersuchungsausschuss im DLF. So sei der Verdacht im Fall des Terrorverdächtigen Anis Amri relativ stark, dass V-Leute zu lange mit der Nachrichtengewinnung beschäftigt gewesen seien, bevor man interveniert habe.
    Renner kritisierte auch die Idee de Maizières, "wir müssten im Cyberwar mitmischen". Der Innenminister wolle, dass "wir genauso werden wie die Hacker, die uns angreifen". Dabei handele es sich um ganz alte Vorstellungen der inneren Sicherheit, die nun aus der Schublade gezogen würden und von denen man sich erhoffe, angesichts des Terroranschlags in Berlin Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche hat konkret vor Augen geführt, dass auch Deutschland im Fadenkreuz islamistischer Terroristen ist und dass die Behörden offenbar nicht so aufgestellt sind, dass sie selbst polizeibekannte Individuen unter Kontrolle halten können. Der Berlin-Attentäter Anis Amri war den Behörden als Gefährder bekannt, er wurde zeitweise überwacht, saß auch bereits in Abschiebehaft, und dennoch konnte er sich frei innerhalb Deutschlands bewegen. Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas hatten angekündigt, gemeinsam Vorschläge zu unterbreiten, ob und wie die Sicherheitsgesetze verändert werden müssen. Gestern ist der Innenminister via "FAZ" vorgeprescht und forderte nichts weniger als einen Umbau der Sicherheitsstrukturen und mehr Befugnisse für den Bund. Am Telefon ist dazu jetzt Martina Renner, Die Linke, Mitglied im Innenausschuss, Obfrau im NSA-Untersuchungsausschuss, ehemals auch Obfrau im NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen. Sie kennt sich also bestens aus in den Strukturen auch der Verfassungsschutzämter. Schönen guten Morgen, Frau Renner!
    Martina Renner: Guten Morgen, Herr Heckmann!
    Heckmann: Frau Renner, Ihre Parteikollegin, Ulla Jelpke hat von einem Frontalangriff auf das föderale Prinzip gesprochen. Geht es nicht auch eine Nummer kleiner?
    Renner: Ich denke schon, dass es bei Thomas de Maizière um eine ganz neue Definition der Innenpolitik geht. Wenn er vom starken Staat spricht, dann stellt er eben nicht mehr die Frage nach funktionierender Gefahrenabwehr oder effektiver Strafverfolgung, sondern er konstruiert quasi eine Art Notstandssituation, in die er uns hineinredet, und die es nicht gibt, wenn wir uns die Zahlen der Kriminalitätsentwicklung zum Beispiel ansehen. Und ich finde tatsächlich, das ist kreuzgefährlich, weil es zum einen diese AfD-Interpretation der derzeitigen Situation bestärkt, dass quasi der Staat schutzlos sei vor neuer oder anderer Kriminalität, und auf der anderen Seite die eigene Verantwortung ja negiert, die die Bundespolitik hat, gerade in der Sicherheitspolitik. Sie haben eben den Fall Amri angesprochen. Wer hat denn falsche Analysen geliefert? Das war das GTAZ, das war das zentrale Institut für Terrorabwehr des Innenministeriums. Wer hat möglicherweise – das wissen wir noch nicht genau, aber wir vermuten es – Nachrichtengewinnung vor Strafverfolgung gestellt? Das war möglicherweise auch das Bundesamt für Verfassungsschutz. Und dieses soll jetzt quasi eine Zentralstellenfunktion gegenüber den Landesämtern bekommen, die sie dann als Filialen betreiben. Da sind wir doch sehr skeptisch, und ich sag mal, so eine Debatte jetzt zu führen, auch vor dem Hintergrund des schrecklichen Anschlags in Berlin ist quasi Trittbrettfahren auch auf den schrecklichen Ereignissen des islamistischen Terrorismus. Und ich finde, da sollte der Innenminister doch seine Vorschläge im Kabinett beraten, mit der Opposition im Innenausschuss, und nicht populistisch über eine Zeitung nach außen gehen.
    "Er will, dass wir also zum Gegenschlag ausholen"
    Heckmann: Ich verstehe Sie richtig, Sie halten den Innenminister Thomas de Maizière für einen Trittbrettfahrer des islamistischen Terrors?
    Renner: Natürlich. Weil die Vorschläge, die er bringt, das sind ja die Untoten der konservativen Sicherheitsdebatte. Bundeswehr im Innern, jetzt kaschiert über den Begriff der nationalen Katastrophe, Abschiebezentren, dann auch den Missbrauch der Abschiebehaft für Repressionsmaßnahmen, aber auch diese Idee, wir müssten im Cyberwar mitmachen, also nicht nur, und das ist eine ganz wichtige Aufgabe, Cyberabwehr betreiben – das müssen wir, wenn wir an den Bundestag denken, den Hackerangriff, den wir selbst erlebt haben. Aber er will ja quasi, dass wir mitmischen, dass wir also zum Gegenschlag ausholen, dass wir Sicherheitslücken kaufen, dass wir genauso werden wie die Hacker, die uns angreifen. Und all das, das sind schon ganz alte Vorstellungen aus der inneren Sicherheit, und die zieht man aus der Schublade in einer solchen Situation, wo man angesichts eines schweren Terroranschlags erhofft, dann in der Öffentlichkeit Zustimmung zu erhalten.
    Heckmann: Das sind Vorwürfe, die Thomas de Maizière sicherlich zurückweisen würde. Ihm geht es darum, zu sagen, dass Deutschland vor Herausforderungen steht, die Cyberangriffe hat er gestern auch noch mal in dem ZDF-"Heute-Journal" genannt, aber auch dies Abschieben von vielen Menschen, aber natürlich auch die Gefahr von Terroranschlägen, die ja manifest geworden ist. Und man muss doch sagen, Frau Renner, die Sicherheitsbehörden, die sind doch offenbar nicht optimal aufgestellt, wenn man sich das anschaut, dass dieser Mann sich in Deutschland frei bewegen konnte. Und da haben doch nicht nur die Bundesbehörden offenbar versagt.
    Renner: Ja, genau, und das ist ja auch der Punkt, weswegen jetzt eine Zentralisierung solcher Aufgaben so absurd ist. Man will den Föderalismus in der Sicherheitspolitik abschaffen, dem BfV zum Beispiel mehr Kompetenzen geben, aber man ist eben nicht bereit, die eigenen Versäumnisse aufzuarbeiten, und das wäre genau auch unser Punkt, zu sagen, was müssen wir denn aus dem Fall Amri für Konsequenzen ziehen? Offenbar hat es ja nicht funktioniert, dass man rechtzeitig eine geeignete Gefahrenprognose abgegeben hat, dass man die Daten richtig bewertet hat, nicht nur ausgetauscht, sondern auch richtig bewertet und dann die polizeilichen Schlüsse gezogen hat. Wie gesagt, der Verdacht ist relativ stark, dass die ganzen dort im Umfeld platzierten V-Personen, V-Leute eben zu lange mit der Nachrichtengewinnung befasst waren, bevor man interveniert hat, bevor man ihn dann auch in Gewahrsam hätte nehmen können und Ähnliches mehr. Und ich will noch eines sagen: Herr de Maizière hat ja jetzt noch mal zurückgewiesen, dass der Missbrauch solcher zentralstaatlicher Instrumente vielleicht in den Fünfzigerjahren gegeben sei, aber nicht heute. Aber wir haben doch, wenn wir uns das Bundesamt für Verfassungsschutz ansehen, bis in die 90er-, 2000er-Jahre und teilweise auch in den Landesämtern den Missbrauch dieser Institution für politische Zwecke – denken Sie an die Bespitzelung von Journalisten oder eben auch zum Beispiel Abgeordneter oder auch, und das ist ja auch ganz gravierend, von Anwälten und Anwältinnen, wie der Fall Gössner. Es ist ja eben nicht so, dass nicht die Gefahr besteht, dass solche Einrichtungen wie ein zentraler Inlandsgeheimdienst auch dann eben für politische Zwecke missbraucht werden. Das wissen wir aus der deutschen Geschichte.
    "Herr de Maizière sollte dringend in Köln aufräumen"
    Heckmann: Aber Thomas de Maizière hat eben auch noch mal konkret gestern Abend auf Missstände hingewiesen und hat darauf hingewiesen, dass es zum Beispiel in den Bundesländern unterschiedliche Regelungen gibt, ab welchem Alter ein Extremist beobachtet werden darf. Und auch deshalb bedürfe es mehr Steuerung durch einen starken Staat.
    Renner: Man kann das ja auch umdrehen, man könnte ja auch so argumentieren, dass in den Bundesländern unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, inwieweit man Grundrechtsschutz, Bürgerrechtsschutz auch in der Arbeit der Verfassungsschutzbehörden zur Geltung bringt. Und die Frage der Überwachung von Minderjährigen ist ja eine, die ist nicht so einfach zu beantworten. Zum einen gibt es schon jetzt die klaren Befugnisse auch in den Ländern, Personen ab 16 und auch darunter, wenn es konkrete Anhaltspunkte gibt, zu beobachten. Wenn Thomas de Maizière das eben sehr grundsätzlich aufmachen möchte und sagen, er will weg von den konkreten Anhaltspunkten und quasi schon bei dem leisesten Verdacht auch Kinder und Jugendliche observieren, möglicherweise dann auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln, Einsatz bearbeiten, dann ist das eine Frage, wo ich sage, dann ist es gut, wenn Landesämter da vielleicht zögerlich sind. Und wir haben ja auch die Situation, Sie haben es angesprochen, ich war auch im NSU-Untersuchungsausschuss in Thüringen, dass nach den Arbeiten der entsprechenden Untersuchungsausschüsse ja auch einige Landesämter tatsächlich Reformbedarf gesehen haben, und zwar schon insbesondere beim Einsatz von V-Leuten, ja auch nun die Befugnisse restriktiver handhaben und die Kontrolle geschärft haben. Denken Sie an Thüringen, oder denken Sie auch an Niedersachsen. Diese Möglichkeiten der Länder, auf solche Skandale zu reagieren, wäre dann auch nicht mehr gegeben, weil eben das BfV eine ganz andere Politik verfolgt bei dem Einsatz von Spitzeln. Und letztes Wort, Herr de Maizière sollte dringend in Köln aufräumen, nicht nur noch mal im Zusammenhang des NSU. Wir haben auch noch den offenen Fall, wie es sein kann, dass ein Islamist dort im Bereich von Observationen eingesetzt werden sollte – man muss sagen, vermeintlicher Islamist. Aber über solche Sachen geht Herr de Maizière einfach so nonchalant hinweg –
    Heckmann: Da wir jetzt nicht mehr so viel Zeit haben, Frau Renner, letzte Frage an Sie: Untern Strich, würden Sie sagen, im Prinzip, was die Sicherheitsstrukturen in Deutschland angeht, kann alles so bleiben, wie es ist. Entspricht das dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung?
    Renner: Ich glaube, wir brauchen keine neuen Gesetze und auch keine neuen Befugnisse, aber wir brauchen eine andere Kompetenz in den Sicherheitsbehörden, insbesondere im Bereich des islamistischen Terrorismus. Die Radikalisierungswege der Täter zu verstehen und bei den Gefährdern genau zu unterscheiden, bei wem liegen konkrete Anhaltspunkte vor, dass Anschläge vorbereitet werden, dass Waffen und Sprengstoff besorgt werden. Wer ist eingebunden in islamistische Netzwerke, und bei wem müssen wir jetzt sofort mit Exekutivmaßnahmen auch im Bereich der Gefahrenabwehr aktiv werden und bei welchen nicht. Und diese Personen dann tatsächlich durch die Polizeibehörden so weit dann unter nicht nur Observation und Kontrolle zu bringen, wie es oft heißt, sondern tatsächlich dann auch die Anschläge zu verhindern. Das wäre tatsächlich die zentrale Frage.
    Heckmann: Martina Renner war das live hier im Deutschlandfunk, Mitglied im Innenausschuss des Deutschen Bundestags für Die Linke. Frau Renner, Danke Ihnen für dieses Interview, für Ihre Zeit!
    Renner: Ja, danke auch für Ihr Gespräch. Danke, tschüs!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.