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Debatte um Mindestlohn
"Wir wollen keinen Schweizer Käse"

Die SPD will beim geplanten flächendeckenden Mindestlohn keine weiteren Ausnahmen zulassen. Die Forderung nach etlichen Sonderregelungen sei Lobbyinteressen geschuldet, sagte Parteivize Ralf Stegner im Deutschlandfunk. In einem Punkt zeigte er sich jedoch kompromissbereit.

Ralf Stegner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 13.06.2014
    Der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende Ralf Stegner
    Der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende Ralf Stegner (dpa / picture-alliance / Carsten Rehder)
    Deutschland habe keine Chance als Niedriglohnland, sagte der SPD-Bundesvorsitzende Ralf Stegner im Interview mit dem Deutschlandfunk. Deswegen sei der Mindestlohn flächendeckend "ohne 17 Ausnahmen" einzuführen. "Wir wollen keinen Schweizer Käse", sagte Stegner. Szenarien, Unternehmen könnten sich dann keine Praktikanten mehr leisten, seien grober Unfug.
    "Die Verelendungsszenarien werden nicht eintreten", prophezeit der Politiker. Diese Drohungen seien bekannt. Kompromisse könne sich der SPD-Politiker lediglich bei der Anpassung vorstellen: Es könne sein, dass die alle zwei Jahre erfolgen werde.

    Das Interview mit Ralf Stegner in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Thomas Strobl isst gern weißes Stangengemüse. Das hat uns der stellvertretende CDU-Partei- und Fraktionsvorsitzende gestern in dieser Sendung verraten.
    Thomas Strobl: " Wir haben gerade eine Zeit, viele Menschen essen gerne Spargel, ich selber auch, und ich möchte schon, dass wir auch in Zukunft eine regionale Produktion von Erdbeeren, von Kopfsalat, von Gurken und von Spargel haben und wir das nicht alles aus dem Ausland importieren müssen. Das betrifft die Saison-Arbeitskräfte und da brauchen wir zumindest eine Übergangsregelung, weil ansonsten eine landwirtschaftliche Produktion dieser Sonderkulturen in Deutschland nicht mehr möglich ist."
    Heinemann: Zumindest eine Übergangsregelung, sagt der CDU-Politiker Thomas Strobl, beim Mindestlohn. – Flächendeckend 8,50 Euro, wie von der Koalition geplant. Ganze Branchen stöhnen auf und ärgern sich über vorgebliche Besserwisser in der Politik, wobei sich die schwarz-rote Koalition bei diesem Thema selbst noch nicht ganz grün ist.
    Am Telefon ist jetzt der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner. Guten Morgen!
    Ralf Stegner: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Essen Sie gern Spargel?
    Stegner: Sehr gerne sogar, muss ich sagen. Die Saison geht ja fast zu Ende.
    Heinemann: Wie viel wären Sie denn bereit, für ein Kilo zu zahlen?
    Stegner: Na das wird sicherlich 50 Cent mehr kosten, ...
    Heinemann: Nur 50 Cent?
    Stegner: ..., wenn wir den Mindestlohn einführen. Ich bin vor kurzem auf einem Spargelhof gewesen in Beelitz in Brandenburg und habe dort mit den Spargelbauern darüber diskutiert, über das Thema Mindestlohn, und ja, da wird es eine Veränderung geben. Aber nun sind die Lebensmittel in Deutschland wirklich nicht zu teuer insgesamt, und wenn wir für Mindestlöhne eintreten, dann gelten sie überall und das wird sich einspielen. Und ja, das eine oder andere Lebensmittel wird etwas teurer werden. Aber ich glaube, dass das vertretbar ist, weil am Ende es volkswirtschaftlich ein Minusgeschäft wird, wenn wir Menschen nicht so bezahlen für ihre Arbeit, dass sie davon leben können, sondern das mit Steuermitteln aufstocken. Das tun wir nämlich. Das ist weder marktwirtschaftlich, noch ist das sozial und christlich ist es auch nicht. Deswegen beenden wir das.
    Heinemann: Wird sich die SPD-Fraktion die jährliche Spargelfahrt auf dem Wannsee noch leisten können?
    Stegner: Ich glaube, das wird sie können, und noch mal: Ich glaube, die Horrorgemälde, die man da sich anhören kann, sind alle großer Unfug. Schauen Sie sich in Europa um, wir haben fast überall Mindestlöhne. Nirgendwo ist das eingetreten, was hier behauptet wird. Und allen Ernstes hier wie Herr Strobl zu sagen, Porsche könne sich nicht mehr leisten, Praktikanten zu beschäftigen, also da lachen ja die Hühner. Das kann ja bald niemand glauben.
    Heinemann: Wir reden ja nicht unbedingt über kraftstrotzende Industrieriesen. Aber wieso pfeifen Sie zum Beispiel auf die Sorgen der Landwirte?
    Stegner: Wir pfeifen überhaupt nicht auf die Sorgen der Landwirte. Aber alle wussten, dass der Mindestlohn kommen wird, und der kommt ja auch nicht sofort, sondern das ist angekündigt worden, man kann sich darauf vorbereiten. Und es ist immer auch Schutz gegen Dumping-Anbieter. Die Handwerker sagen uns doch alle, wenn wir Mindestlöhne haben, dann schützen wir sie vor der Dumping-Konkurrenz aus anderen Ländern. Dieser Negativwettbewerb nach unten, der taugt doch nichts. Deutschland hat als Niedriglohnland keine Chance. Wollen wir mit chinesischen Löhnen konkurrieren? Das kann doch nicht die Zukunft sein. Nein, es wird Anpassungsschwierigkeiten geben, jawohl, aber unterm Strich ist es für die Menschen besser und ich kann auch keine Rechtfertigung erkennen dafür, Leute nicht so zu bezahlen, dass sie von ihrer Arbeit leben können, wenn sie die ganze Woche arbeiten. Das werden wir beenden, wir haben es angekündigt, und da können die noch so dagegen jaulen, auch die Leute aus der Union. wir werden das tun.
    Heinemann: Kann aber trotzdem Unsinn sein, denn ist für 8,50 Euro pro Stunde geernteter Spargel - wir können auch über Gurken, Zwiebeln, Erdbeeren reden, was Sie wollen -, ist das noch konkurrenzfähig, oder ist das nicht das Einfallstor für Importware?
    Stegner: Na ja, am besten und am günstigsten ist es, wenn wir die Menschen gar nicht bezahlen, wenn die das kostenlos machen. Das kann doch nicht der Punkt sein, sondern es geht doch darum, dass Menschen arbeiten. Wir kriegen den Spargel ja nur, wenn Menschen dafür arbeiten und den stechen. Das tun wir ja nicht selbst, sondern gehen zum Markt und kaufen den dort. Und noch mal: Wenn Menschen arbeiten, müssen sie davon leben können. Das ist für uns eine Grundüberzeugung, das ist kein lästiges Detail. Und das, was überall in Europa funktioniert, wird ja wohl auch in dem reichen großen Deutschland funktionieren. Ich glaube, diese ganzen Horrorankündigungen taugen nichts. Sie sind im Übrigen teilweise auch Lobbyinteressen geschuldet und da sollten wir den Rücken gerade machen und sagen, nein, wir machen das, und das wird zum 1. Januar 2015 Gesetz werden. Und Sie dürfen ja nicht vergessen: Wir haben auch noch Übergangsregelungen. Da wo wir Tarifverträge haben, die anders sind, gelten die noch bis 31. Dezember 2016. Ich glaube, dass es ein großer Durchbruch ist, wenn endlich gute Arbeit auch entsprechend entlohnt wird.
    Heinemann: Bleiben wir bei den Horrorszenarien. Theaterintendanten, Verlagsmanager und Musikunternehmen haben angekündigt, wegen des Mindestlohns keine freiwilligen Praktika mehr anzubieten. Das heißt, den Türöffner in den Beruf für junge Leute abzuschaffen. Herzlichen Glückwunsch!
    Stegner: Wir haben doch eine ganz andere Situation. Wir haben teilweise die Generation Praktikum, wo man von einem Praktikum zum anderen sich hangelt, nicht ordentlich bezahlt wird. Wie gehen wir mit unseren jungen Menschen um? Da wo Praktika Teil der Ausbildung sind, fallen sie ja gar nicht drunter unter das, worüber wir hier reden. Und noch mal: Da kann noch so viel gejammert werden darüber. Zu glauben, wenn wir ernsthaft mit einem Modell, das wie ein Schweizer Käse aussieht, mit 17 Löchern und Ausnahmen das machen könnten, das geht nicht, weil dann wird das Verfassungsgericht übrigens auch Klagen Recht geben gegen Gleichbehandlung. Das ist ja das, was viele wollen. Die wollen noch ein paar Ausnahmen mehr. Dann kippt die ganze Regelung, weil sie nicht verfassungsgemäß ist. Ich sage es noch mal: Das wird gegen die Sozialdemokratie nicht passieren. Wir haben das den Menschen vor der Wahl versprochen und es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit, das nach der Wahl auch umzusetzen. Darauf können sich alle verlassen. Die Wissenschaftler sind das eine, die Lobbyisten sind das andere. Fragen Sie mal die Bevölkerung. Die Zustimmung zu dieser Frage in der Bevölkerung ist bei 90 Prozent. Wo haben wir das schon?
    Heinemann: Auch wenn Sie jungen Leuten den Einstieg in den Beruf erschweren damit?
    Stegner: Das stimmt überhaupt gar nicht!
    Heinemann: Doch. Wenn die Praktikumsplätze gestrichen werden, erschweren Sie natürlich den jungen Leuten den Einstieg.
    Stegner: Wenn meine Großmutter vier Räder hätte, wäre sie ein Autobus. Diese Drohungen, sozusagen immer zu sagen, wenn ihr dies und das in der Politik nicht macht, dann drohen wir mit irgendetwas, das kennen wir. Das ist, glaube ich, nicht die Entscheidungsgrundlage für Politik. Noch mal: 90 Prozent der Bevölkerung findet das richtig. In der Demokratie tut man das, was man vorher gesagt hat. Wir werden das umsetzen und ich möchte mit Ihnen wetten, wenn wir in zwei Jahren miteinander telefonieren, sind diese ganzen Verelendungsszenarien nicht eingetreten, sondern im Gegenteil: wir werden Verbesserungen geschafft haben für viele Menschen, für junge Menschen, die momentan sich von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten hangeln.
    Heinemann: Kennen Sie eine Kultureinrichtung, die nicht über mangelnde Finanzen klagt? Wovon, von welchem Geld sollen die diese Praktikumsplätze bezahlen?
    Stegner: Aber das ist doch eine ganz andere Frage!
    Heinemann: Nein, ist es nicht!
    Stegner: Doch, natürlich!
    Heinemann: Sie müssen es doch irgendwie finanzieren!
    Stegner: Das ist doch die Frage darüber, was uns die Kultur wert ist und wie wir Kulturförderung betreiben und ob wir Kultur als Hauptsparkasse benutzen. Das muss die Gesellschaft sich fragen lassen. Aber das löse ich doch nicht darüber, dass ich Menschen ausbeute und ihnen für ihre Arbeit nicht ordentliches Geld gebe. Warum ist eigentlich immer die einzige Reformantwort von Leuten, die sagen, wir haben nicht genug Geld, dass die Arbeitnehmer darunter leiden sollen? Die Arbeitnehmer sind die große Mehrheit der Menschen in diesem Land, die übrigens unseren Reichtum erwirtschaften. Warum gucken wir nicht mal auf die andere Seite des Spektrums, wo Menschen so hohe Gehälter haben, dass das schon unanständig hoch ist im Vergleich zu denen, die normal arbeiten.
    Heinemann: Das ist die andere Geschichte, Herr Stegner. Wollen Sie jetzt den Kämmerern von Oberhausen oder von Duisburg sagen, hört mal zu, ihr Faulpelze, nehmt endlich mal Geld in die Hand?
    Stegner: Das ist Unsinn.
    Heinemann: Finde ich auch.
    Stegner: Die SPD ist genau die Partei, die sich um die Kommunalfinanzen kümmert. Wir haben Vereinbarungen in der Großen Koalition in Berlin erzielt, dass die Kommunalfinanzen deutlich verbessert werden. Wir tun das hier auch im Lande. Und noch mal: Kommunalfinanzen werden auch dadurch verbessert, dass man weniger Sozialtransfers bezahlen muss, denn die Milchmädchenrechnung, dass Menschen von ihrem Geld nicht leben können und dass der Staat dann mit Kohle bereitsteht, um das aufzustocken, weil Unternehmer nicht ordentlich zahlen, das kann nicht marktwirtschaftlich sein. Das ist Misswirtschaft. Also unterm Strich sparen wir Sozialtransfers, wenn wir endlich faire Mindestlöhne haben und wenn wie überall in Europa die dann immer wieder angepasst werden. Nein, noch mal: Mit der SPD - das war unsere Eintrittsbedingung in die Große Koalition - wird es nur einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn geben und keinen Schweizer Käse.
    Heinemann: Eine nach dem Sozialdemokraten Peter Struck benannte parlamentarische Gepflogenheit besagt, dass kein Gesetz aus dem Bundestag herauskommt, wie es hineingelangte. Was bedeutet das für den Mindestlohn?
    Stegner: Das heißt möglicherweise, dass wir dem Vorschlag der Tarifparteien folgen, dass wir die Anpassung alle zwei Jahre vornehmen, anders als das bisher im Entwurf vorgesehen ist. Das könnte so kommen, weil wir ja die Tarifautonomie nicht aushebeln wollen, sondern nur diesen Missstand beheben wollen. Aber jeder, der darauf hofft, dass im Gesetzgebungsverfahren die SPD 17 weiteren Ausnahmen zustimmt, der wird sich täuschen, auch Herr Kauder. Das wird nicht passieren, sondern wir haben das fest vereinbart. Ich bin dabei gewesen bei den Koalitionsverhandlungen. Und die Menschen in Deutschland können sich darauf verlassen, der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt.
    Heinemann: Gilt auch für Rentner, Praktikanten und studentische Hilfskräfte?
    Stegner: Natürlich, weil wenn wir das nicht machen, dann kommen die Unternehmen mit den ganzen Missbrauchsmodellen. Das haben wir doch erfahren bei der Leih- und Zeitarbeit, wenn man das nicht ordentlich gesetzlich regelt, dass jede Ausnahme genutzt wird, um das Gegenteil zu bewirken, was wir eigentlich politisch wollten. Hier gilt der Primat der Politik. Wir wollen den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn und der wird kommen.
    Heinemann: Sollte in der Kommission auch die Wissenschaft am Tisch sitzen und Stimmrecht haben?
    Stegner: Ich finde, dass das eine Frage der Tarifparteien ist. Mindestlohn ist ja ohnehin nur, wenn Sie so wollen, eine Notwehrregelung gegen Ausbeutung, weil wir teilweise wirklich beschämend niedrige Löhne haben in Deutschland. Aber im Prinzip wollen wir natürlich Tarifautonomie. Das heißt, es geht um die Arbeitgeber und um die Gewerkschaftsseite. Die sollen das entscheiden am Ende und nicht Dritte und Vierte.
    Heinemann: Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner in den "Informationen am Morgen" bei uns im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Stegner: Sehr gerne! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.