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Debatte um Polizeiauslastung
"Genau schauen, was eigentlich wichtig ist"

Ist es nicht möglich, eine Demonstration in Heidenau zu beschützen? Fast ein Drittel der Bereitschaftspolizei komme alleine bei Fußballspielen zum Einsatz, sagte Rainer Wendt im DLF. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft bemängelt die Kürzung von Planstellen in den letzten Jahren - und fordert die Politik auf, den Aufgabenkatalog zu überprüfen.

Rainer Wendt im Gespräch mit Thielko Grieß | 28.08.2015
    Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft
    Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft. (Picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Thielko Grieß: Jetzt begrüße ich ebenfalls (Anm. der Red.: Das Interview wurde geführt, bevor das Dresdner Oberlandesgericht das Versammlungsverbot für rechtswidrig erklärte) am Telefon Rainer Wendt, den Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft. Herr Wendt, guten Tag.
    Rainer Wendt: Guten Tag. Hallo.
    Grieß: Was haben die Sachsen, was hat die sächsische Polizei versäumt?
    Wendt: Die sächsische Polizei hat in den vergangenen Jahren mehr als 1600 Planstellen abgebaut. Und das ist nicht die sächsische Polizei alleine. Bundesweit wurden mehr als 15.000 Planstellen bei der Polizei abgebaut. Und jetzt trifft Politik auf Realität. Denn das eine ist, was sie sich wünschen und was man machen könnte und was man machen sollte oder unterlassen sollte. Und das andere ist das, was die Politik tut. Ich habe ja eben das Interview mit dem Fraktionsvorsitzenden der SPD mitgehört. Die SPD ist bundesweit an dem Abbau von Polizeiplanstellen alles andere als unbeteiligt.
    Grieß: Und das geht durch alle Parteien oder nehmen Sie eine aus, die noch hinter Ihnen steht?
    Wendt: Nein, das geht durch alle Parteien. Das ist in den Ländern etwas unterschiedlich. Bayern hat sich hier ausgesprochen verantwortungsbewusst verhalten in den vergangenen Jahren, aber ansonsten ist es bundesweit runtergegangen. Und zwar ganz massiv. Leider stehen ja die großen Pensionierungswellen erst noch bevor. Das heißt, wir werden noch mehr Planstellen verlieren. Und bei all den Wortbeteuerungen und den ganzen Wünschen, die die Politiker jetzt so haben: Jetzt treffen sie auf die Realität und die sieht nun einmal so aus, dass es nicht verantwortungsbewusst wäre, schwache Einsatzkräfte in gefährliche Einsätze zu schicken. Dann muss man, um diese Einsatzkräfte zu schützen, auch um die Polizei insgesamt zu entlasten, notfalls einmal temporär das Versammlungsrecht zurücktreten lassen.
    Grieß: Das ist ein interessanter Einwurf. Darauf kommen wir gleich, glaube ich, auch noch mal zurück. Aber lassen Sie mich fragen, Herr Wendt. Es fällt doch schon auf: Jedes Bundesliga-Spiel wird sehr viel besser geschützt als diese, na ja, vergleichsweise eher kleine Herausforderung in einem kleinen Ort, in einem kleineren Bundesland.
    Wendt: 30 Prozent unserer Bereitschaftspolizei wird allein dafür aufgewendet, Fußballspiele zu schützen. Das ist eine Entscheidung, die auch Politik zu verantworten hat. Diesen Schwerpunkt setzen ja nicht wir, sondern das macht der Gesetzgeber, der uns diese gesetzlichen Aufträge gibt. Es gibt auch ganz andere gesetzliche Aufträge, etwa zur Fahrerermittlung bei Verkehrsordnungswidrigkeiten, wo wir Tausende Polizisten einsetzen für völlig sinnlose Dinge. Auch das sind politische Entscheidungen. Es ist deshalb dringend notwendig, dass wir einmal unseren Aufgabenkatalog überprüfen und genau schauen, was ist eigentlich wichtig und was ist weniger wichtig.
    Grieß: Aber jetzt noch mal zurück zu dem, was Sie vorhin gesagt haben, Herr Wendt. Die Versammlungsfreiheit, Artikel acht, ist abhängig von der Personallage der Polizei in einem Land?
    Wendt: Ja, selbstverständlich! Wir können doch nicht die Realität ausblenden, wenn wir Verfassungswirklichkeit gestalten wollen, denn Leib und Leben und Gesundheit von Einsatzkräften sind ja auch Werte, Rechtsgüter von Verfassungsrang. Und wenn wir die gegeneinanderstellen müssen, dann müssen wir eben sagen, Leib und Leben von Einsatzkräften, im Übrigen auch Leib und Leben von Flüchtlingen, die ja von polizeilichen Einheiten geschützt werden müssen zur selben Zeit, das ist alles wichtig.
    Grieß: Alles richtig, Herr Wendt. Aber es wird doch wohl möglich sein, genügend Polizisten aufzutreiben, um in Heidenau an einem Wochenende für Ruhe zu sorgen.
    Wendt: Ja, das ist so leicht dahingesagt. Das heißt, die Polizeikräfte müssen von woanders abgezogen werden. Sehen Sie, in Nordrhein-Westfalen ist jetzt eine komplette Hundertschaft abgeordnet, um in den Erstaufnahmeeinrichtungen für die Registrierung von Flüchtlingen zu sorgen. In anderen Bereichen werden Hundertschaften der Polizei eingesetzt, um Flüchtlingsheime zu schützen. Wenn dann die Entscheidung getroffen wird, die Flüchtlingsheime bundesweit ungeschützt zu lassen, damit man die Einsatzkräfte nach Heidenau schicken kann, damit Herr Özdemir dort demonstrieren kann, dann muss die Politik das so entscheiden. Aber eins muss man klar feststellen: Die Polizei verfügt nicht über die Fähigkeit zur Bilokalität. Das heißt, wir können immer nur an einem Einsatzort gleichzeitig sein.
    Grieß: Niemand kann sich teilen, auch nicht unter den Polizeibeamten. Aber Sie sagen, es gibt flächendeckend zu wenig Polizei, um diesen Aufgaben nachzukommen in Deutschland?
    Wendt: Genau das ist das. Wir können nicht alles gleichzeitig machen. Und endlich, muss man sagen, trifft Politik einmal auf Realität. Offensichtlich hat man das ja in der Vergangenheit ausgeblendet und weiter immer die Sparmaßnahmen realisiert. Jetzt begreift die Politik auf einmal, dass der Rechtsstaat unter dem Spardiktat der Politik leidet. Das heißt, wir können eben nicht mehr alle Grundrechte so durchsetzen, wie wir das gerne würden. Wir würden ja gerne als Polizei, aber wenn man uns die Möglichkeit nicht gibt, dann muss das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in der Güterabwägung zum Grundrecht auf Leben und Gesundheit zurücktreten.
    Grieß: Jetzt haben manche Spitzenpolitiker, unter anderem Cem Özdemir von den Grünen angekündigt, trotzdem, trotz Versammlungsverbot hin oder her, an diesem Wochenende nach Heidenau zu kommen. Ist das eine Provokation?
    Wendt: Das ist eine Provokation und eine ausgesprochene politische Dummheit, denn damit demonstriert Herr Özdemir als führender Politiker der Grünen, dass er nicht bereit ist, rechtsstaatlich getroffene Entscheidungen auch zu akzeptieren. Wenn sich jeder den Rechtsstaat selber so strickt, wie er das gerne hätte, dann ist das kein Rechtsstaat mehr. Insofern ist das unverantwortlich. Es ist im Übrigen auch unverantwortlich gegenüber denjenigen, die die Polizei auch schützen muss, zum Beispiel Flüchtlinge und Flüchtlingseinrichtungen. Dort werden möglicherweise Polizeikräfte abgezogen werden müssen, um die rechtswidrige Demonstration von Herrn Özdemir zu schützen. Das würde ich mal gerne sehen, wie er das begründen möchte.
    Grieß: Das werden wir möglicherweise hören an diesem Wochenende. - Rainer Wendt war das von der Deutschen Polizeigewerkschaft. Danke schön für das Gespräch heute Mittag.
    Wendt: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.