Mittwoch, 24. April 2024

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Debatte um Sozialzuwanderung
"Ein durchsichtiges Wahlmanöver"

Nutzen EU-Zuwanderer deutsche Sozialsysteme aus? Angela Merkel legte das jüngst in einem Interview nahe. Und schüre damit unnötige Ängst, sagte der europapolitische Sprecher der SPD, Norbert Spinrath, im Deutschlandfunk. Die Wirklichkeit sähe anders aus, Ausbeutung fände auf dem Arbeitsmarkt statt.

Norbert Spinrath im Gespräch mit Silvia Engels | 23.05.2014
    Fahrgäste eines aus Rumänien eingetroffenen Reisebusses gehen am 08.01.2014 in Berlin an einer Haltestelle des Zentralen Omnibusbahnhofes Berlin (ZOB) mit ihren Koffern zum Ausgang.
    Ein Reisebus mit Fahrgästen aus Rumänien kommt in Berlin an. (dpa picture alliance / Marc Tirl)
    Der Missbrauch geschehe am Arbeitsmarkt "zulasten von Zuwanderern", wenn Arbeitgeber zu geringe Löhne zahlten, so Spinrath. Hier müsse man ansetzen, mit dem kommenden Mindestlohn würden dem bereits Rechnung getragen.
    Bei Merkels Äußerungen zu dem Thema handle es sich um ein "durchsichtiges Wahlmanöver", die Zahlen zeigten, dass Deutschland "kein signifikantes Problem" mit Zuwanderern habe. Der SPD-Politiker verwies auf den Ende März veröffentlichten Bericht des Staatssekretärsausschusses zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen in der Europäischen Union. Kurz vor der Europawahl sollte man nicht derartige Ängste schüren, sagte Spinrath weiter. Deutschland profitiere "erheblich von der Zuwanderung".
    Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte in der "Passauer Neuen Presse" gesagt, ein Staatssekretärsausschuss prüfe, ob es zu Missbrauch beim Kindergeld oder Hartz IV an EU-Bürger komme. "Denn wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten", sagte Merkel. Die EU sei "keine Sozialunion".

    Das Interview mit Norbert Spinrath in voller Länge:
    Silvia Engels: Gestern hat Bundespräsident Gauck die Deutschen gemahnt, Zuwanderern gegenüber offen zu sein. Das Thema war sicherlich passend gesetzt, denn im Europawahlkampf war Zuwanderung auch hierzulande ein großes Thema. Speziell zum Stichwort Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme hatte sich ja auch nun die Bundeskanzlerin eingeschaltet. In der "Passauer Neuen Presse" sagte sie: "Die EU ist keine Sozialunion. Wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten."
    Norbert Spinrath war von 1998 bis 2002 Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Er ist nun europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Guten Morgen, Herr Spinrath.
    Norbert Spinrath: Guten Morgen, Frau Engels.
    Engels: Ich habe gerade die Äußerung von Frau Merkel noch mal zitiert. Wie sehen Sie das?
    Spinrath: Ich muss mich doch arg wundern. Ich kann nur unterstellen, dass Frau Merkel diese Äußerungen als CDU-Parteivorsitzende gemacht hat, denn als Bundeskanzlerin hat sie mit der Bundesregierung gemeinsam einen Staatssekretärsausschuss zur vorgeblichen Armutszuwanderung eingesetzt, Anfang des Jahres, der zu ganz anderen Ergebnissen gekommen ist. Also kann ich vermuten, dass das ein durchsichtiges Wahlmanöver ist. Drei Tage vor der Europawahl sollte man nicht mit Ängsten schüren, sondern die Situation treffend beschreiben.
    Engels: Ihr Parteifreund, SPD-Vize Stegner, wirft der Kanzlerin in diesem Zusammenhang Angstmacherei vor. Das ist auch Ihre Meinung?
    Spinrath: Das ist auch meine Meinung, denn die Zahlen sind ganz eindeutig andere und die Ergebnisse, die dieser Staatssekretärsausschuss festgestellt hat. Danach haben wir eben kein signifikantes Problem mit Menschen, die alleine aus Gründen einer Wanderung in die Sozialsysteme durch Europa reisen, und wir haben es auch nicht in Deutschland. Ich lege wohl großen Wert darauf, dass der Grundwert der Freizügigkeit, der von Anfang an die Europäische Union geprägt hat, auch weiterhin Geltung haben muss. Und ganz nebenbei gesagt: Wir profitieren in Deutschland ganz erheblich von dieser Zuwanderung. Unser Arbeitsmarkt, unsere Wirtschaft profitiert davon. Wer Missbrauch betreibt, sind aber oftmals nicht die Menschen, sondern Arbeitgeber.
    "Wer so verallgemeinert, schürt Ängste"
    Engels: Hat denn die Bundeskanzlerin von dem, was sie beschreibt, etwas Falsches beschrieben?
    Spinrath: Sie hat etwas Falsches beschrieben, weil es diese Zuwanderung in die Sozialsysteme einfach nicht gibt. Wir sprechen über ganz geringe Zahlen. Diese lagen, in der Mitte des letzten Jahres so erhoben, bei 135.000 Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, aber nicht, um in die Sozialsysteme einzuwandern, sondern um Arbeit zu suchen. Wir beklagen permanent den Fachkräftemangel. Wir brauchen dringend auch den Zuzug von qualifizierten Menschen, damit unsere Wirtschaft weiterläuft, damit unsere Altenpflege zum Beispiel, Gesundheitspflege weiterläuft, damit unser Wohlstand erhalten bleibt.
    Engels: Aber die Union verteidigt die Äußerung der Bundeskanzlerin auch damit, dass sie sich ja letztendlich auf ein Gutachten des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof stützen kann. Danach darf eine Hartz-IV-Zahlung verweigert werden, wenn Zuwanderer nach Deutschland ausschließlich kommen, um Sozialhilfe zu bekommen. Grundsätzlich ist Deutschland verpflichtet, so die Rechtslage, Zuwanderern aus EU-Ländern Sozialleistungen zu zahlen. Klingt alles klar, aber kann man das eigentlich en détail nachweisen?
    Spinrath: Natürlich ist Deutschland verpflichtet, Zuwanderern dann, wenn sie arbeitssuchend sind und hier in Deutschland arbeiten, Sozialleistungen zu zahlen. Ich denke, das ist ein ganz normaler Vorgang. Wer hier arbeitet, wer hier Steuern zahlt und dann in die Arbeitslosigkeit zum Beispiel gerät, der muss natürlich einen Anspruch auch auf Sozialleistungen haben. Das, was sie beschrieben hat, entspricht ja auch dem deutschen Recht, aber sie spricht von Einzelfällen. Wenn sie das so verallgemeinert, wie sie das jetzt getan hat, schürt sie in der Tat Ängste. Aber für mich ist auch ganz wesentlich, dass der überwiegende Teil der Menschen, die hier in Deutschland dann Sozialleistungen in Anspruch nehmen müssen, sogenannte Aufstocker sind. Sie werden durch Lohndumping oder durch illegale, durch Schwarzbeschäftigung von profitsüchtigen Unternehmen so schlecht entlohnt, dass sie anschließend noch aufstocken müssen. Das hat dann aber nichts mit Missbrauch durch diese Arbeit suchenden Menschen zu tun, sondern hier steigern Unternehmen ihre Profite.
    Engels: Wie erleben Sie denn jetzt im ausklingenden Europawahlkampf das Thema Zuwanderung? Sind die Ängste der Menschen bei diesem Thema so groß?
    Spinrath: Es sind nicht die Ängste der Menschen, glaube ich, die da CSU und auch die CDU in die Verzweiflung treiben, sondern sie versuchen, sich jetzt noch, drei Tage vor der Wahl, dort zu profilieren, wo rechtspopulistische Parteien versuchen, Ängste zu schüren. Wir haben ja die große Sorge, dass am Sonntag dann auch viele kleine rechtspopulistische Parteien Zuspruch erhalten. Ich glaube, das ist der falsche Weg, dann in dieser Art und Weise dagegenzuhalten. Es wäre richtiger, die Tatsachen tatsächlich dann auch zu benennen und den Nachweis zu führen, dass es eben nicht in signifikantem Ausmaß zum Missbrauch der Sozialsysteme kommt. Es ist schließlich erst am 26. März gewesen, also vor wenigen Wochen, dass der von der Bundesregierung eingesetzte Staatssekretärsausschuss in seinem Zwischenbericht festgestellt hat, dass es hier nicht zum Missbrauch in großem Ausmaß kommt.
    "Hier wird Ausbeutung betrieben zulasten von Zuwanderern"
    Engels: Das ist die Rechtslage. Kann andererseits, was die Mentalität angeht, Bundespräsident Gauck überhaupt durchdringen, der ja gestern mehr Offenheit gegenüber Zuwanderern verlangte?
    Spinrath: Wir müssen offen sein. Wir sind in einem demografischen Wandel und unsere Bevölkerungszahlen bauen sich ab. Wir sind auf den Zuzug von Menschen angewiesen. Aber dann müssen wir auch in einer offenen Gesellschaft damit umgehen. Wir müssen das bekennen. Wir sind ein multikulturelles Land und wir sind ein Zuwanderungsland und dann Ängste zu schüren, um vielleicht auf dem letzten Meter dann noch die eine oder andere Stimme im Europawahlkampf abzufischen, das halte ich für nicht hinnehmbar. Wir wissen, dass es keinen Missbrauch in großem Ausmaß gibt.
    Aber ich will noch mal auf den Missbrauch durch Arbeitgeber, durch Unternehmen kommen. Ich selbst habe in meinem Wahlkreis erlebt, dass dort ein Subunternehmen im Straßenbau gearbeitet hat. Da wurden slowenische Arbeitskräfte mit 2,85 Euro in der Stunde entlohnt, obwohl nach dem Tarifvertrag für diese Branche 11,80 Euro selbst schon für Fachkräfte bezahlt werden müssen. Dass diese Menschen dann anschließend zum Sozialamt gehen und Aufstockungsleistungen beantragen müssen, das liegt doch ganz klar auf der Hand. Hier wird Ausbeutung oftmals betrieben zulasten von Zuwanderern. Das ist weder unserem Wohlstand angemessen, noch dem Prinzip der Freizügigkeit und den hohen Idealen in der Europäischen Union. Hier muss man ansetzen. Ich denke, da wird der Mindestlohn, den wir jetzt in den nächsten Wochen dann auch gesetzlich beschließen werden, dann Rechnung tragen. Und wir müssen dringend dafür Sorge tragen, dass die Entsenderichtlinien so gestaltet sind, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort gezahlt wird, egal woher die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommen.
    Engels: Zuwanderungs-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik fließen in der Praxis oft ineinander - das war Norbert Spinrath. Er ist der europapolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Danke für Ihre Zeit heute Morgen.
    Spinrath: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.