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Abmeldungen nach Bedrohungen
Der große Twitter-Koller

Auf Twitter streiten Politik, Wissenschaft und Medien, während andere zuschauen oder kommentieren. Doch der Ton wird rauer, klagen viele schon lange. Vor allem Corona wurde von Anfang an zur Zerreißprobe. Einige bekannte Stimmen haben nun die Plattform verlassen. Ist gesellschaftlicher Diskurs weiterhin möglich?

Von Michael Borgers | 03.08.2022
    Eine Hand hält ein Smartphone
    "Dieser Account existiert nicht" - diesen Hinweis faden zuletzt User, die nach dem Würburger Medienanwalt Chan-jo Jun auf Twitter suchten (Deutschlandfunk / Borgers)
    Der Tod von Lisa-Maria Kellermayr – für Chan-jo Jun war er eine Zäsur. Er sei von dieser Nachricht entsetzt gewesen, sagte der Würzburger Medienanwalt im Deutschlandfunk . „Ich dachte, dass wir nach Lübcke etwas gelernt hätten, dass wir wachgerüttelt worden wären“, so Jun. Und meint den rechtsextrem motivierten Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke vor fast genau drei Jahren.
    Lübcke war zuvor in den sogenannten Sozialen Netzwerken angefeindet worden. Genau wie Lisa-Maria Kellermayr. Die Österreicherin hatte sich als Ärztin gegen Corona eingesetzt und für das Impfen gegen das Virus. Öffentlich, als Gesprächspartnerin für Medien und auf eigenen Kanälen im Internet. Die Folgen waren Beschimpfungen und Morddrohungen. Nun hat sie sich selbst ihr Leben beendet.
    Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen
    Wenn Sie das Gefühl haben, an einer psychischen Krankheit zu leiden oder Suizidgedanken Sie beschäftigen, wenn Sie sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden oder das auf einen Ihrer Angehörigen zutrifft, zögern Sie nicht, Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten. Hilfe bietet unter anderem die Telefonseelsorge in Deutschland unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 (gebührenfrei) und im Internet unter telefonseelsorge.de.
    Für Chan-jo Jun war der Tod der 36-Jährigen der Anlass, sich von Twitter zu verabschieden. Gut 74.000 Menschen waren ihm dort zuletzt gefolgt, vor allem seit der Pandemie war Jun zu einer wichtigen Stimme für viele geworden. Ein Anwalt, der sich mit juristischen Einschätzungen gegen selbsterklärte „Querdenker“ und „Reichsbürger“ engagiert. Der Weggang von Twitter – „kein leichter Schluss“ für Jun. Doch Twitter sei zum „Schlachtfeld“ geworden, und die Idee der „sachlich-neutralen Aufklärung“ funktioniere dort nicht mehr.

    Ärztin Grams: „Hate“ bleibt nicht in den sozialen Medien

    Und Jun ist nicht der Einzige, der die Plattform seitdem verlassen hat. Auch die Virologin Isabella Eckerle und die Ärztin Natalie Grams haben ihre Accounts deaktiviert. Eckerle spricht von einer Pause, bei Grams scheint die Entscheidung endgültig. „Ich ertrage es nicht mehr, in diese Hölle zu blicken“, so Grams im Interview mit dem MDR.
    Das Schicksal von Lisa-Maria Kellermayer sei „ein schreckliches Beispiel dafür, wie wenig man als Ärztin oder Impf-Aufklärer in den sozialen Medien geschützt wird, und auch ein schreckliches Beispiel dafür, dass dieser ‚Hate‘ nicht in den sozialen Medien bleibt, sondern ins reale Leben überschwappt“. Außerdem zeige sich, dass „wir diesem ‚Hate nichts entgegenzusetzen haben“, so Grams.

    Publizistin Nocun: Kein Hass, sondern Bedrohung im Netz

    Sie halte den Begriff „Hass im Netz“ mittlerweile sogar für problematisch, so Katharina Nocun im Deutschlandfunk. „Wenn mir jemand beispielsweise eine Drohung schreibt, einen Erpresserbrief oder einen Brief, wo es heißt, ich bringe dich morgen um, dann würde ich auch nicht sagen Hass in der Post, sondern ich würde sagen, ich werde bedroht“, erklärt die Publizistin weiter.

    Meine große Sorge ist, dass so etwas natürlich in der verschwörungsideologischen Szene als Sieg gefeiert wird – nach dem Motto: Jetzt müssen wir noch lauter sein, jetzt müssen wir noch mehr Hass verbreiten, noch aggressiver sein, dann schaffen wir es, noch mehr Leute von dieser Plattform zu mobben und dadurch natürlich auch den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen.

    Katahrina Nocun im Deutschlandfunk
    Dass es sich grundsätzlich um Hass handele, bestreitet Nocun nicht. Im Gegenteil: Vor allem Frauen würden diesen abbekommen, so ihre Erfahrung. „Da geht es viel schneller meinen Erfahrungen nach in den Bereich, dass man körperlich bedroht wird, dass geschrieben wird, ich lauere dir auf oder ich vergewaltige dich.“

    Strobl macht Drohungen öffentlich

    Drohungen wie diese, erhält Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl regemäßig. Eine aus der jüngsten Vergangenheit – eine Morddrohung, die auf Lisa-Maria Kellermayr Bezug nimmt – hat sie öffentlich gemacht. „Ich mute es euch zu, weil es mir zugemutet wird“, schrieb Strobl zu einem ihrer letzten Tweets.

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    Auch Strobl hat ihren Account, dem Hunderttausende auf Twitter gefolgt waren, vorerst deaktiviert. Auch sie spricht von einer Pause. Strobl hat sich schon einmal zurückgezogen, im vergangenen Jahr. Vorangegangen waren damals Drohungen gegen ihre Familie, unter anderem in Folge einer Hasskampagne, die ihren Ursprung in Erwähnungen eines „Welt“-Kolumnisten hatte – ein Mechanismus, über den in der Folge viel geschrieben wurde, etwa in der „taz“, „Zeit“ oder bei HateAid.

    Die Probleme bei der Strafverfolgung

    HateAid unterstützt Opfer von Online-Hass. Genau wie Medienanwalt Chan-jo Jun macht die Organisation das Unternehmen Twitter mitverantwortlich für die gesamte Entwicklung. „Macht endlich euren Job und schützt die Betroffenen“, heißt es in einem aktuellen Tweet. „Man muss leider sagen, dass das deutsche Recht und das Grundgesetz auf Twitter keine Anwendung findet“, stellt Jun resigniert fest.
    Für die Probleme bei der Strafverfolgung macht der Brandenburger Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger vor allem die Sicherheitsstrukturen in Deutschland verantwortlich. Es brauche eine bundesweit - im besten Fall global - koordinierte Polizeiarbeit, forderte Rüdiger im Deutschlandfunk . Kriminalität im Netz sei zu einer „Normalität“ geworden, doch die Behörden seien noch immer mit der Masse an Straftaten dort überfordert.
    „Wann haben Sie das letzte Mal zufällig im Netz eine Polizeistreife gesehen?“, kritisiert Rüdiger – und fordert mehr Personal für die digitale Streife.

    Social-Media-Analyst Hammer: Diskurs weiterhin möglich

    Seit 2015 seien Debatten auf Twitter „immer weiter von der Sachebene weg und in emotionale, zum Teil strafrechtlich relevante Bereiche abgerutscht“, sagt gegenüber dem Deutschlandfunk Social-Media-Analyst Luca Hammer. Lange sei Twitter ein Ort gewesen mit einem großen „demokratischen Lager“, sagt Hammer. Ein Ort, an dem Wissenschaftlerinnen, Politiker und Medienschaffende miteinander gestritten hätten, zum Teil auch hart, „wo man sich aber nicht direkt hasst“.
    Demgegenüber gestanden habe eine kleinere Gruppe, die sich inhaltlich vor allem an der AfD orientiert habe. Den Menschen hinter diesen Accounts gehe es zum Teil nur noch darum, bestimmte Personen aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen, Stichwort Silencing. „Und derzeit wirkt es so, als würde das gelingen, weil wir schon viele wichtige Stimmen verloren haben“, beobachtet der Social-Media-Analyst.
    Dennoch bleibe Twitter eine „tolle Plattform“. Außerdem gebe es Möglichkeiten, im Fall der Fälle mit Angriffen umzugehen. Dazu gehöre beispielsweise auch, eine Pause zu nehmen, so beschreibt es Hammer in einem langen Thread. (Auch das Online-Portal der Amadeu-Antonio-Stiftung Belltower.News hat Tipps zusammengefasst, wie man sich besser vor Anfeindungen im Netz schützen kann.)

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    Er glaube weiterhin daran, „dass im Internet ein Diskurs möglich ist“, betont der Social-Media-Analyst. Und das sei auch auf Twitter so. Noch.