Mittwoch, 17. April 2024

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Demarkationslinie von Indien und Pakistan
Leben in der Krisenregion

Das Grenzgebiet zwischen Pakistan und Indien sieht auf den ersten Blick idyllisch aus. Aber unter den grasbewachsenen Hügeln liegen Bunker, in der Ferne stehen Zäune mit Stacheldraht. Die Menschen fürchten einen erneuten Krieg - verlassen wollen sie die Region trotzdem nicht.

Von Silke Diettrich | 02.03.2019
Männer laufen in Kaschmir vor Bunkern der indischen Armee zu ihren verlassenen Häusern. Dort war es in Uri, 120 Kilometer nordwestlich von Srinagar, der Sommerhauptstadt des indischen Teils von Kaschmir, wieder zu Feuergefechten gekommen.
Die Grenzregion Kaschmir ist seit mehr als sieben Jahrzehnten ein Zankapfel. Indien und Pakistan haben bereits mehrere Kriege um die Region im Himalaya geführt. (dpa / NurPhoto / Yawar Nazir)
Keiner will hier weg, auch wenn es zu einem Krieg zwischen Indien und Pakistan kommen sollte. Die Bewohner aus dem Dorf Jerda bauen gerade Bunker. Das Dorf liegt im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir, nur wenige hundert Meter von der pakistanischen Grenze entfernt. Die Weltpolitik interessiert hier kaum jemanden. Auch wenn gerade zwei Atommächte heftig mit den Muskeln zucken, die Bauern und Familien in Jerda wollen einfach nur, dass die ständigen Gefechte, die seit Jahrzehnten immer wieder aufflammen, endlich ein Ende nehmen.
Soldaten halten sich verdeckt
Hügelige Felder mit knallgelben Senfblumen. Die Grenze zwischen Pakistan und Indien sieht auf den ersten Blick idyllisch aus. Aber unter den grasbewachsenen Hügeln liegen Bunker, in der Ferne stehen Zäune mit Stacheldraht. Am Mittag schallen die Laute des Muezzins herüber auf die indische Seite. Sie kommen aus Pakistan. Der Erzfeind von Indien ruft zum Mittagsgebet.
Das sei einer der gefährlichsten Posten in Indien, sagt ein junger Grenzbeamter. Offiziell darf er kein Interview geben. Leiser erzählt der Soldat, dass er und seine Kollegen sich seit Tagen verdeckt halten, den pakistanischen Feind würden sie nur über Spiegel beobachten. Hier, im südlichen Teil des Bundesstaates Jammu und Kaschmir, seien sie direkt von Pakistan umzingelt. Seit zwei Wochen gelte die allerhöchste Alarmbereitschaft.
2 Frauen, 3 Männer und ein Junge - Bewohner des Dorfes Jerda im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir, wenige hundert Meter von der pakistanischen Grenze entfernt.
Die Dorfbewohner aus Jerda sind unterschiedlicher Meinung, was den Umgang mit dem Erzfreind Pakistan angeht (ARD/Silke Diettrich)
In den grenznahen Dörfern fahren die Soldaten nur in gepanzerten Fahrzeugen. Gleich dahinter folgen die Dorfjungs auf ihrem Mofa, sie tragen nicht einmal einen Helm. Mohan Singh Bhatti schaut den jungen Männern gedankenverloren hinterher. Er steht in seiner Toreinfahrt, trägt einen blauen Turban und eine Sonnenbrille.
"Krieg ist immer schlecht. Der bringt doch nur noch mehr Probleme", sagt der 65-jährige Bhatti. "Für jeden Menschen, egal ob Inder oder Pakistaner, ist Krieg sehr gefährlich."
"Das hat doch nur mit Wahlkampftaktik zu tun"
Mohan Singh Bhatti weiß, wovon er spricht. Er ist im Grenzdorf Jerda groß geworden und hat schon drei große Kriege zwischen Indien und Pakistan mit erlebt. Seit vielen Jahren schlagen um ihn herum Granaten ein. Eine hat seinem Neffen das Leben gekostet. Dieser ständige Kleinkrieg sei das wahre Übel, sagt Bhatti. Das große Getöse derzeit, so bezeichnet er die Gefechte in der Luft zwischen den beiden Ländern, würde zwar weltweit Aufmerksamkeit erregen. Aber Bhatti glaubt nicht daran, dass er nun seinen vierten Krieg hier mit erleben muss:
"Das hat doch nur mit Wahlkampftaktik zu tun. Wenn diese Attacken vorbei sind, sollte auch unser Premier nicht mehr auf Vergeltung aus sein. Das muss jetzt aufhören. Für seine Wiederwahl sollte das jetzt ausreichen."
In wenigen Wochen finden in Indien Parlamentswahlen statt. Der amtierende Premierminister Narendra Modi stellt sich erneut zur Wahl. Dass er ausgerechnet kurz davor eine harte Hand gegenüber dem Erzfeind Pakistan erhebt, kommt bei vielen gut an.
"Nicht bei mir", sagt der 65-jährige. Darauf falle er nicht herein. So wie Bhatti tragen viele Männer in seinem Dorf einen Turban. Sie gehören zur Religionsgemeinschaft der Sikhs. Hier im Süden des Bundesstaates Jammu und Kaschmir leben überwiegend Sikhs und Hindus. Im Gegensatz zum Norden, in dem vor allem Muslime leben. Sowohl Indien als auch Pakistan beanspruchen jeweils den gesamten Bundesstaat für sich. Pakistan regiert heute in rund einem Drittel, Indien in rund zwei Drittel. An den Grenzen leiden die Menschen unter der ständigen Feindschaft. Überall in seinem Dorf zeigt uns Bhatti Einschusslöcher in den Wänden oder Löcher von Granaten in den Mauern. Im Hof seiner Nachbarin Harbhan Kaur wird gerade ein Bunker gebaut. Bezahlt wird der von der Regierung Modi:
"Es sollte einen Krieg mit Pakistan geben, ob jetzt oder später, egal. Modi ist stark und er hat das Zeug dazu."
"Wir sind es leid. Ständig geraten wir hier unter Beschuss, lass uns das ein für allemal mit einem Krieg beenden. Wir können hier doch nicht für immer in ständiger Angst leben…."
Zermürbende Situation
Seine Stärke habe der Premierminister ja gerade bewiesen. Vor wenigen Tagen ist die indische Luftwaffe in Pakistan eingedrungen und hat dort Bomben abgeworfen. Angeblich auf ein Hauptquartier von Terroristen, die in Indien Attentate geplant hätten. Dabei seien zahlreiche Terroristen ums Leben gekommen, zitieren die indischen Medien vermeintliche Quellen aus dem Verteidigungsministerium. Beweise dafür gibt es bislang nicht. Danach fragt aber auch niemand hier im Grenzgebiet. Kaurs Tochter besucht die zehnte Klasse und auch sie erzählt, sie habe ständig nur Angst. Damit die aufhöre, gäbe es nur eins:
"Krieg", sagt die 15-jährige überzeugt. Schlimmer als diesem ständigen Terror ausgesetzt zu sein, könne es nicht werden.
Wenige Kilometer weiter an der nationalen Grenze von Pakistan und Indien, liegt das Dorf Nanga. Dutzende Männer schleppen Steine und mischen Beton, auch sie bauen hier Bunker. Bis der von Bauer Ramesh fertig ist, schläft er fast jede Nacht mit seiner Familie bei Verwandten, weiter im Landesinneren:
"So zwischen sechs und sieben Uhr machen wir uns hier auf, viele Leute aus dem Dorf machen das", erzählt Ramseh, "vor allem wegen der Kinder. Morgens kommen wir dann zurück und schauen, ob unser Haus noch steht und das Vieh noch lebt."
Das sei zermürbend und auch Ramesh ist der Meinung, nur ein Sieg gegen Pakistan, wie vor über 40 Jahren, könne das ändern. Doch im Gegensatz zu den vorherigen Kriegen besitzen sowohl Pakistan als auch Indien nun Atomwaffen. Dass die – egal ob Sieg oder Niederlage – hier alles zerstören könnten, darüber möchte keiner recht nachdenken.