Freitag, 29. März 2024

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Der Konflikt zwischen Indien und Pakistan
Das Trauma ewiger Feindschaft

Ein Strich auf der Landkarte besiegelte 1947 das Schicksal von Millionen: Bezirke mit muslimischer Mehrheit sollten zu Pakistan, der Rest zu Indien gehören. So endete der Freiheitskampf Mahatma Gandhis in Gewalt, Tod und Vertreibung. Bis heute sind Pakistan und Indien verfeindet - und sich doch so nah.

Von Silke Diettrich und Jürgen Webermann | 27.02.2019
Pakistanische Soldaten in schwarzen Uniformen treffen auf indische Soldaten während einer Fahnenzeremonie am einzigen Grenzübergang in Wagah. Viele Zuschauer aus den verfeindeten Staaten verfolgen die "Beating retreat ceremony".
Pakistanische Soldaten in schwarzen Uniformen treffen auf indische Soldaten während einer Fahnenzeremonie am einzigen Grenzübergang in Wagah. Viele Zuschauer aus den verfeindeten Staaten verfolgen die allabendliche "Beating retreat ceremony". (imago / Xinhua)
Es ist ein bizarres Schauspiel, jeden Abend, kurz vor Sonnenuntergang. Der Grenzübergang Wagah verwandelt sich in eine Arena. Auf beiden Seiten stehen Tribünen, sie sind voll besetzt. Es ist ein Volksfest zwischen Stacheldrähten, Grenztürmen, Flutlichtmasten und Maschinengewehren.
"Pakistan Zindabad!" – Lang lebe Pakistan, rufen hunderte Pakistaner auf ihrer Seite. Grenzschützer marschieren in schwarzen Paradeuniformen. Sie tragen Hüte, die an den Federbusch eines Pfaus erinnern. Sie rennen geradezu auf das grün-weiß gestrichene Grenztor zu. Angefeuert vom Takt der Trommeln.
Der einzige Grenzübergang zwischen Indien und Pakistan
Jeder Schritt, jede Sekunde dieser Zeremonie ist mit den Indern abgestimmt. Auf der anderen, der indischen Seite, sind die Uniformen zwar beigefarben, aber ebenso pfauenähnlich. Hier rufen sie "Hindustan Zindabad!" – Lang lebe das Land der Hindus! Zeitgleich öffnen die Pfauensoldaten symbolisch die Tore. Für einen Moment stehen sich die Grenzer gegenüber, Brust raus, das Kinn hochgestreckt.
Feierlichkeiten an der Indisch-Pakistanischen Grenze in Wagah - einem Grenzübergang an der Straße zwischen Amritsar, Punjab (Indien) und Lahore, Punjab (Pakistan) sowie Teil der Grand Trunk Road. Es ist der einzige Grenzübergang in den genannten Bundesstaaten zwischen Indien und Pakistan. Im Vordergrund sind die Flaggen Indiens und Pakistans zu sehen.
Grenzübergang Wagah (dpa / CTK / Krystof Kriz)
In Wagah, zwischen dem indischen Amritsar und dem pakistanischen Lahore gelegen, wird die Teilung des indischen Subkontinents jeden Tag aufs Neue zelebriert. Wagah ist der einzige Grenzübergang zwischen Pakistan und Indien. Wer die Grenze überqueren will, läuft zu Fuß durch die tagsüber leeren Arenen. Bewaffnete Soldaten beobachten argwöhnisch jeden Schritt. Einem "Namaste" – "Guten Tag" auf Hindi – für den letzten indischen Soldaten direkt an der weiß gestrichenen Grenzlinie folgt das "Salaam Aleikum" für den ersten pakistanischen Soldaten direkt dahinter. Ein großes Bild von Mahatma Gandhi ziert die indische Seite, ein Bild des Staatsgründers Jinnah die pakistanische.
Tea Time in Islamabad, der pakistanischen Hauptstadt. Muhammad Akram Khan bittet um Entschuldigung. Es könne sein, dass das Gedächtnis ihm Streiche spiele, sagt er. Dann atmet er kurz tief durch, nippt an seinem Tee, schließt die Augen und erinnert sich.
"Ich wurde 1941 in einem kleinen Dorf in der Nähe des Flusses Beas geboren, es hieß Gadriwal. Das liegt heute in Indien. Ich kann mich noch gut an die Kindheit dort erinnern. Ich habe im Fluss Schwimmen gelernt. Nur im Monsun war der Strom zu reißend. Sonst konnten wir immer dort schwimmen."
Gadriwal war damals ein friedlicher Weiler. Sechs Jahre lang lebte Akram Khan dort. Seine Nachbarn waren überwiegend Muslime. Aber das sei damals egal gewesen, sagt Khan – bis die Weltpolitik auch Gadriwal erreichte.
"Im Sommer 1947 waren wir im Dorf. Es waren Ferien. Mein Vater war Lehrer. Dann erfuhren wir, dass das Dorf von Hindus angegriffen werden sollte. Wir mussten flüchten. Wir sind nachts über den Fluss, in Booten. Tagsüber haben wir uns aus Angst vor den Hindus in den Feldern versteckt. Drei Nächte lang waren wir unterwegs, bis wir die Hauptstraße nach Lahore erreichten. Dort waren riesige Menschenmassen unterwegs."
Ein Federstrich auf der Landkarte zerteilt den Punjab
Im Punjab, Akram Khans Heimat, war in jenem Sommer 1947 die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Jahrzehntelang hatten die Menschen in Britisch-Indien für ihre Unabhängigkeit gekämpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Kolonialmacht Großbritannien pleite. Sie entschloss sich, das Vizekönigreich Indien aufzugeben. Die Anführer der Muslim-Liga, Muhammad Ali Jinnah, und der Chef der indischen Kongresspartei, Jawaharlal Nehru, hatten sich nach dem 2. Weltkrieg nicht auf ein einheitliches Staatsgebilde einigen können.
Die Hindus waren in Britisch-Indien in der Überzahl. Jinnah befürchtete, dass die Muslime in einem gemeinsamen Staat politisch keine Chance hätten. Der britische Vizekönig Lord Mountbatten stimmte Jinnahs Forderung nach einer Aufteilung zu. Die Federstriche auf der Landkarte zog ein britischer Jurist, Sir Cyril Radcliffe. Radcliffe hatte keine Ahnung von Indien. Aber er hatte eine einfache Idee: Bezirke mit muslimischer Mehrheit sollten zu Pakistan, der Rest zu Indien gehören. Gemischte Gebiete wurden einfach geteilt, so auch das ehemalige Königreich Punjab.
Harmandir Sahib - der "Goldene Tempel" in der Stadt Amritsar, Indien
Harmandir Sahib - der "Goldene Tempel" in der Stadt Amritsar im Punjab (imago / imagebroker)
Millionen Menschen entschlossen sich nach der Bekanntgabe der neuen Grenzen innerhalb weniger Stunden zur Flucht. Gurbhajan Kaur stammt aus einer wohlhabenden Sikh-Familie. Sie lebte in dem Teil des Punjab, der zu Pakistan gehören sollte. Gurbhajan war damals, 1947, neun Jahre alt:
"In dieser Nacht heulten auf einmal die Sirenen. Leute haben gerufen: Ihr müsst weg, ihr müsst weg! Wir hatten ein riesiges Haus und haben versucht, alles, was wir besessen haben, auf Holzkarren zu packen. Mein Vater ist zu den Ställen gegangen, um die Tiere zu holen. Dort haben sie ihn umgebracht. Seine Leiche haben sie einfach in den Fluss geworden."
Gurbhajan starrt auf den Wohnzimmertisch und knetet ihre knöchernen Hände. Ihre Enkel sitzen um sie herum, die wollen ihre Geschichten sonst nie hören, sagt die 79-Jährige. Bis heute könne sie sich vor allem noch an ihr Gefühl von damals erinnern: Die nackte Angst, die sie die gesamte Flucht über begleitet hat.
"Wir waren völlig verstört. Vor allem wir Mädchen haben uns sehr gefürchtet. Die Männer in unserem Treck hatten Dolche unter dem Tierfutter versteckt."
Die Waffen dienten nicht nur dazu, sich gegen Muslime zu verteidigen.
"Wenn unsere Männer Gefahr gewittert hätten, hätten sie uns Mädchen mit den Dolchen umgebracht."
Tausende starben vor Erschöpfung am Wegesrand
Anderswo warfen Väter ihre eigenen Töchter in Brunnen. Keine Frau sollte den Feinden in die Hände gelangen. Dennoch wurden viele entführt oder vergewaltigt, Musliminnen von Hindus und Hindufrauen von Muslimen. Tagelang lief die 9-jährige Gurbhajan mit ihrer Familie durch den Schlamm in Richtung Indien. Der Monsunregen prasselte auf die Flüchtlinge herab. Zeitungen aus dem Jahr 1947 berichten, dass es Mitte August ohne Unterbrechung 60 Stunden lang geregnet hatte. Unzählige Karawanen schleppten sich über Feldwege, Bahngleise und Straßen über die neue Grenze. Tausende Kinder und alte Menschen starben vor Erschöpfung am Wegesrand.
Der berühmt gewordene, friedliche Freiheitskampf Mahatma Gandhis endete in Chaos und Gewalt. Mehr als eine Million Menschen starben. Bis zu 20 Millionen verließen ihre Häuser. Diejenigen, die ihre neue Heimat Pakistan oder Indien erreichten, standen vor dem Nichts.
Beraubt. Beschossen. Begraben. Gurbhajan Kaur war in eine reiche Familie hinein geboren worden. Ihre wertvollsten Schätze lagen auf Holzkarren, die sich auf der Flucht überschlugen oder im Schlamm stecken blieben. Als sie mit ihrer Familie in der Nähe von Amritsar auf der indischen Seite ankam, besaß sie nur noch das, was sie am Leib trug:
"Ein Onkel hat uns erst einmal auf seinem Hof aufgenommen. Später hat uns die indische Regierung ein Stück Land hier im Punjab zugeteilt, das war sogar noch größer als das, was wir in Pakistan besessen hatten."
Kein Sieger nach dem Krieg
Akram Khan ahnte 1947 noch nicht, dass die Flucht aus seinem Heimatdorf nicht das einzige Abenteuer bleiben sollte. Seine Geschichte ist eng verbunden mit den Folgen der Teilung, mit dem Trauma – und der ewigen Feindschaft zwischen Indien und Pakistan, die bis heute andauert.
Khan erzählt von seinem Einsatz 1965 in Sialkot an der Grenze zu Indien. Damals brach ein Krieg zwischen beiden Staaten aus. Khan war ein einfacher Soldat in der pakistanischen Armee, der indische Panzer abschießen sollte.
"Aber in Wahrheit haben wir nur versucht, zu überleben. Wir haben uns tagsüber fast nur versteckt, und als es dunkel war, sind wir weggerannt. Ich war dreimal im Feld. Ich glaube, ich habe keinen einzigen Panzer erwischt."
Der Krieg endete ohne einen Sieger. Aber er vertiefte die Gräben zwischen Indern und Pakistanern. Nach 1965 errichteten beide Staaten Stacheldrahtzäune an der gemeinsamen Grenze. Akram Khan stieg in der Armee auf – und erlebte 1971 Pakistans wohl schwerste Stunde: den Verlust des heutigen Bangladesch. Damals hieß das Land noch Ost-Pakistan. Es lag tausend Kilometer vom restlichen Pakistan entfernt. Nirgends war die britische Grenzziehung absurder als hier.
Brutaler Krieg Pakistans gegen Bangladesch
Aber in Ost-Pakistan lebten nun einmal vor allem Muslime. Die pakistanische Armee führte dennoch einen brutalen Krieg gegen das bengalische Volk, dessen Mehrheit unabhängig werden wollte. Hunderttausende Zivilisten wurden ermordet. Indien griff in den Konflikt ein. Mitten im Dschungel kämpfte Akram Khan mit seiner Einheit gegen die vorrückenden Inder – bis ihn mehrere Kugeln aus einer Maschinenpistole trafen.
"Ich bin gestürzt, habe mich versteckt und versucht, die Blutungen mit einem Tuch zu stillen. Dann wurde ich bewusstlos. Als ich wieder zu mir kam, gab mir jemand Wasser. Es war ein indischer Soldat."
Die indische Armee rettete Akram Khan das Leben. Zehn Monate lang wurde er in einem Krankenhaus südlich von Neu-Delhi gepflegt und dann in ein Gefangenenlager gebracht. Später durfte er nach Pakistan zurückkehren. Den Krieg hatte seine Armee verloren. Bangladesch hatte sich von Pakistan abgespalten.
Kaschmir – fast alle Kriege entzündeten sich hier
Mit dem Verlust von Bangladesch musste sich Pakistan abfinden. Anders ist die Lage im Kaschmirtal im Himalaja. 1947 hatte sich der Maharaja von Kaschmir, ein Hindu, entschlossen, sein Fürstentum in den indischen Staat einzugliedern. Um das zu verhindern, schickte Pakistan freiwillige Kämpfer und Soldaten. Die meisten Kaschmiris sind Muslime. Indien hielt die pakistanischen Kämpfer zwar auf, aber das Kaschmir wurde geteilt. Statt einer Grenze gibt es eine so genannte "Line of Control". Beide Staaten beanspruchen das gesamte Kaschmirtal für sich. Indien nennt den pakistanischen Teil "von Pakistan okkupiert". Pakistan nennt ihn dagegen "Azad Kaschmir", was so viel heißt wie freies Kaschmir. Regelmäßig schießen beide Seiten Granaten über die "Line of Control". Fast alle Kriege zwischen beiden Staaten entzündeten sich an der offenen Kaschmir-Frage.
Indien hatte den Kaschmiris stets Autonomie versprochen, aber diese Zusagen nicht eingehalten. Als dann 1987 auch noch lokale Wahlen zugunsten der pro-indischen Kräfte gefälscht wurden, brach ein bewaffneter Aufstand aus. Pakistan schickte gut ausgebildete "Gotteskrieger". Der pakistanische Geheimdienst baute Terrorgruppen auf, die bis heute aktiv sind. Junge indische Kaschmiris beteiligten sich am Aufstand. Indiens Armee reagierte brutal: Zehntausende verschwanden in den 90er Jahren.
Gebirge in der Region Kaschmir
Kaschmir ist zwischen Indien und Pakistan geteilt und umstritten (AFP/Tauseef Mustafa)
Akram Khan nippt an seinem Tee. Der pensionierte Armee-Offizier, der in sämtlichen Kriegen gegen Indien dabei war, könnte noch Stunden von seinen Abenteuern als Soldat erzählen. Doch immer wieder kehren seine Gedanken zurück in das Dorf seiner Kindheit: Gadriwal, das heute in Indien liegt. Die Sehnsucht nach dem Fluss, in dem er schwimmen gelernt hat, nach dem Wald, in dem er mit seinen Freunden spielte, war so groß, dass Akram Khan unbedingt zurückkehren wollte. Tatsächlich gelang ihm das in den 80er Jahren, und in geheimer Mission. Khan, ein begeisterter Bergsteiger, erhielt damals eine Einladung eines italienischen Alpenvereins zu einer Veranstaltung in Neu-Delhi.
"Ich bekam ein Visum, weil die Inder nicht wussten, dass ich in der pakistanischen Armee war. Ganz heimlich nutzte ich die Gelegenheit und fuhr in mein Heimatdorf. Ich sagte den Leuten dort, dass ich nur ein Fremder auf Durchreise sei. Das Dorf hat sich so verändert. Die alten Häuser aus Lehm standen nicht mehr. Die Bewohner leben jetzt in Steinhäusern. Den Wald am Dorfrand und den Fluss habe ich sofort wieder erkannt. Es war sehr emotional. Kurz darauf bin ich noch einmal zurückgekehrt. Ein indischer Politiker hatte mich zu einem Ballonfestival nach Indien eingeladen. Wir hatten in den USA gemeinsam den Pilotenschein für Ballonfahrer gemacht. Ich bekam ein Visum, mit dem ich mehrere Städte besuchen durfte. Ich fuhr also auch in mein Heimatdorf. Ich gab diesmal meine Identität zu erkennen. Die Leute empfingen mich sehr, sehr freundlich. Mit einigen bin ich in Kontakt geblieben."
Der Tag, als Bin Laden starb
2011, fast 30 Jahre nach den ersten Besuchen, erhielt Akram Khan wieder ein Visum für Indien. Diesmal wollte er seine Frau in sein Heimatdorf mitnehmen. Khan war inzwischen ein 70 Jahre alter Veteran. Aus dem Besuch aber wurde nichts. Am Tag, an dem das Paar die Grenze zu Indien überquerte, töteten amerikanische Spezialeinheiten den Terror-Paten Osama bin Laden. Bin Laden hatte offenbar unbehelligt mitten in Pakistan gelebt. Die Freunde aus Gadriwal wollten mit Akram Khan, dem Pakistaner, fortan nichts mehr zu tun haben.
In Wagah, dem einzigen Grenzübergang zwischen Indien und Pakistan, nähert sich die abendliche Parade dem Ende. Trompeter schmettern ihre Fanfaren, Offiziere in Pfauenkostümen brüllen in lang gezogenen Tönen die Befehle. Einpeitscher sorgen auf den Tribünen für Stimmung.
Zwei Soldaten, ein indischer und ein pakistanischer, holen die Fahnen ein. Auf die Sekunde genau, völlig synchron, falten sie die Tücher ein. Zwei andere Soldaten marschieren zu den Grenztoren, dem grün-weißen auf pakistanischer Seite und dem orange-weiß-grünen auf indischer. Einen kurzen Moment lang stehen sie sich gegenüber und schauen sich in die Augen. Dann reichen sie sich die Hand, ganz kurz, ganz fest. Die Tore fliegen zu. Die Menschen verlassen das Niemandsland. Es herrscht wieder Stille, zwischen Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und Maschinengewehren.