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Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg 2015
Die letzten Zeugen

Die 89-jährige Eva Pusztai-Fahidi ist eine der letzten Zeugen, die dem Auschwitz-Prozess in Lüneburg gegen Oskar Gröning beiwohnten. Für die KZ-Überlebende sei die Verhandlung eine mehr als wichtige Erfahrung gewesen, sagt sie. "Ich habe das Gefühl, mir war das Leben noch etwas schuldig – und jetzt hab' ich es!"

Von Alexander Budde | 07.01.2016
    Eva Pusztai-Fahidi - aufgenommen am 26.1.2015 bei der Auftaktveranstaltung des Gedenkens zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz.
    Eva Pusztai-Fahidi - aufgenommen am 26.1.2015 bei der Auftaktveranstaltung des Gedenkens zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. (dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka)
    Lüneburg, Niedersachsen, im April vorigen Jahres: Journalisten und Zuschauer aus aller Welt drängen sich in der Ritterakademie. Das Landgericht hat die geräumige Veranstaltungshalle zum Ort der Verhandlung bestimmt. Schwarze Tücher bedecken Bühne und Richterpult – die Kammer ist erkennbar um ein würdevolles Ambiente bemüht. In ihren verglasten Kabinen lauschen Dolmetscher, sie sollen die folgenden Wortwechsel ins Englische, ins Ungarische, ins Hebräische übersetzen. Hinter der Phalanx ihrer Anwälte sitzen einige der über 70 Nebenkläger: Überlebende von Auschwitz und deren Angehörige.
    Éva Pusztai-Fahidi ist aus dem ungarischen Budapest gekommen um Klage zu führen. Die 89-Jährige mit dem schlohweißen Haar bahnt sich eine Gasse durch die Medienmeute, vorbei an Kameraobjektiven und Mikrofonen. Éva Pusztai-Fahidi sagt, sie empfinde an diesem Morgen so etwas wie eine späte Genugtuung.
    "Weil ich da bin! Es ist mehr als ein Wunder! Ich hab das Gefühl, mir war das Leben noch etwas schuldig – und jetzt hab ich es!"
    Eine Zumutung für die wenigen Überlebenden
    Eine Zumutung ist dieser Prozess für die wenigen Überlebenden, die noch die Kraft haben, sich persönlich als Zeugen der Anklage zur Verhandlung einzufinden. Viele sind längst zu gebrechlich, zu krank für die Reise ins norddeutsche Lüneburg. Ein Greis ist auch der Angeklagte.
    Gestützt erst auf seinen Rollator, dann auf seinen Strafverteidiger kommt Oskar Gröning herein: schlohweißes Haar, Brille, Strickjacke. Gröning ist der Beihilfe zum Mord an 300.000 ungarischen Juden angeklagt. Gröning, verwitwet, Vater zweier Söhne, hat lange unbehelligt in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide gelebt.
    Kein Leugner
    Gröning ist kein Leugner. Er hat nie bestritten, im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau Dienst getan zu haben - auch im Sommer 1944, als 425.00 Juden aus Ungarn dorthin deportiert und die allermeisten binnen weniger Wochen in die Gaskammern getrieben und ermordet wurden. Bei ihrer Ankunft in Eisenbahnzügen mussten die Menschen ihr Gepäck auf der Zugrampe zurücklassen. Gröning bewachte es, im Dienst der sogenannten Häftlingsgeldverwaltung. Die ließ ihre Kommandos in Mänteln, Schuhen, Koffern nach verborgenem Schmuck und kostbaren Devisen suchen.
    Gröning führte Buch über das nach Berlin gelieferte Raubgut. Allein bei der sogenannten "Aktion Reinhardt" wurden für das "Reich" 2-einhalb Tonnen Zahngold und Devisen im heutigen Wert von 100 Millionen Euro erbeutet. Ein kleines Rädchen nur im Getriebe der Todesfabrik?
    Mit dem Heraustreiben der Menschen aus den Waggons habe sein Mandant nichts zu tun gehabt, argumentiert Strafverteidiger Hans Holtermann aus Hannover. Die Opfer auszuplündern, das sei allenfalls ein Nebeneffekt, nicht die eigentliche Absicht der Mordaktion gewesen.
    "Herr Gröning hatte eine ganz besondere Aufgabe: Er sollte ausschließlich aufpassen und verhindern, dass aus dem Gepäck etwas gestohlen wird. Er war gerade nicht dafür zuständig, das Verladen des Gepäcks zu beaufsichtigen, die Häftlinge anzutreiben, die dafür zuständig waren, oder dafür zu sorgen, dass die Rampe geräumt wird."
    Beispielloes Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz
    Tatsächlich brauchten Gehilfen wie Gröning jahrzehntelang keine Nachforschungen fürchten. Nach herrschender Rechtsauffassung konnte kein NS-Verbrecher verurteilt werden, wenn ihm nicht eine persönliche Beteiligung an konkreten Mordtaten nachzuweisen war. Die Nebenklägerin Hedy Bohm lebt heute in Toronto, Kanada. Sie spricht von einem beispiellosen Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz:
    "Ich verspüre keine Rachegelüste, aber der Schuldspruch ist von größter Bedeutung! Wer heute Verbrechen verübt, muss wissen: Eines Tages wird er sich für seine Taten rechtfertigen müssen.
    Niemals wieder darf sich einer darauf berufen, er sei ja nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen! Ohne Männer wie Gröning, die den Mördern halfen, wäre das Geschehene nicht möglich gewesen."
    71 Jahre nach dem Ende ihrer Leidenszeit suchen Éva Pusztai-Fahidi und Hedy Bohm vor einem deutschen Gericht nach Antworten. Ihre Anwälte Thomas Walther und Cornelius Nestler haben dafür gesorgt, dass es diesen Prozess gibt. Der Kölner Strafrechtsprofessor Nestler sieht das Verfahren grundsätzlich um die Frage kreisen.
    "... ob man in Auschwitz mitmachen konnte, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. Das ist das, was Herr Gröning ja sagt. Und in vielerlei Hinsicht gebührt ihm auch Respekt! Er ist eben einer von denen, die ihre Anwesenheit in Auschwitz zugegeben haben."
    Der große Auschwitz-Prozess gegen den Hauptangeklagten und stellvertretenen Lagerkommandanten Robert Mulka und Mittäter in den 60er-Jahren: Die Angeklagten leugnen den Massenmord, berufen sich auf lückenhafte Erinnerung und Befehlsnotstand. Vergessen wollen auch die vielen Ex-Nazis, die in Nachkriegsdeutschland einflussreiche Posten in der Justiz bekleiden.
    Der damalige Chefankläger Fritz Bauer bewirkt zwar gegen allerhand Widerstand die Verurteilung von 17 der 22 Angeklagten, Mulka muss für 14 Jahre ins Zuchthaus.
    Abertausende Ärzte, Fahrer, Buchhalter - Helfershelfer wie Gröning – kommen damals jedoch ungestraft davon. Ein erstes Ermittlungsverfahren gegen Gröning hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main 1985 ohne Begründung eingestellt, bemerkt Cornelius Nestler:
    "Die Justiz hat über fünf Jahrzehnte lang versagt, indem sie Verfahren, die sie eigentlich hätte durchführen müssen, nicht durchgeführt hat. Die hat das mit unterschiedlichsten und zum Teil vollkommen unvertretbaren Begründungen eingestellt.
    Eine Begründung, die 2005 noch vertreten wurde, war, dass die gesamten SS-Wachmannschaften an der Rampe eigentlich vollkommen überflüssig waren, dass die SS-Wachmannschaften an der Rampe so eine Art Ehrenspalier für die Menschen waren, die in die Gaskammer gegangen sind!"
    Erst 2008 mit dem sogenannten Demjanjuk-Prozess kommt wieder Bewegung in die strafrechtliche Verfolgung der inzwischen hochbetagten NS-Verbrecher. Der Wachmann des KZ Sobibor wird zu 5 Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Rechtskraft erlangt das Urteil nie, weil Demjanjuk noch im laufenden Revisionsverfahren verstirbt.
    "Tatsächlich ist es wohl so, dass Demjanjuk so eine Art Türöffner war, ein Türöffner, der so das Nachdenken und auch Initiative auf der Ebene der Justiz für solche Verfahren in Gang gebracht hat. Aber die Rechtsalge war vorher klar und die ist auch hinterher klar!"
    Gutachter schildern detailliert wie das KZ Auschwitz auf die Massenvernichtung vorbereitet wurde, 13 Überlebende sagen in Lüneburg als Zeugen der Anklage aus. Die Kammer hört von den unmenschlichen Zuständen schon bei den tagelangen Transporten im Viehwaggon. Nicht immer machte der mittlerweile 94-jährige Gröning den Eindruck, als könne er all dem noch folgen.
    In seinen Einlassungen schildert Gröning wie er, der gelernte Bankangestellte und "gläubiger Nationalsozialist" begeistert der SS beitritt. Gröning will dazu gehören, zur "zackigen Truppe" wie er sagt. Hitlers Eliteeinheit, die den Massenmord an den europäischen Juden organisiert. 1942, da ist er Anfang 20, wird der SS-Unterscharführer nach Auschwitz kommandiert. Vor Gericht berichtet Gröning von Gräueltaten, die ihm angeblich die Augen öffneten. Vehement habe er fortan auf seine Versetzung zur kämpfenden Truppe gedrungen, führt er aus. Gröning spricht von Verdrängung, von der "Bequemlichkeit des Gehorsams", zu dem man ihn erzogen habe. Erst am Ende seiner Ausführungen bemerkt er wie beiläufig, moralisch mitschuldig zu sein. Auf eine Geste, die Bitte um Verzeihung, hoffen die weit gereisten Nebenkläger jedoch vergeblich.
    "Es ist schwer, sich das anzuhören. Ich sehe einen Mann, der seine Schuld nicht in Gänze ertragen kann. Der sich herausredet, wo es um seine Taten geht und die des Systems. Ich habe ihn nicht sagen hören: "Es tut mir leid. Ich trage Schuld." Aber wir haben so lange gewartet. Und in meinen kühnsten Träumen hätte ich mir nicht ausmalen können, einem Wachmann der SS entgegen zu treten, der auf der Rampe gewesen sein könnte, als meine Familie und ich dort ankamen. Dass er der Angeklagte und ich die Zeugin bin!"
    Auch Éva Pusztai-Fahidi hört den Greis im Jargon der Nazis von "Versorgung" sprechen. Und weiß, was er tatsächlich meint. Ihre ganze Familie hat sie binnen Minuten im Gas verloren. Auf der Rampe von Auschwitz war es eine Handbewegung von Lagerarzt Mengele, die über Leben und Tod entschied.
    "Mein Zug ist angekommen in der Morgendämmerung. Die Hunde haben draußen gebellt und man hat gebrüllt. Ich weiß nicht, wie mein Vater verschwunden ist. Ich habe keine Ahnung, was war das letzte Wort was ich ihm gesagt hab. Die größte Tragödie meines Lebens ist mir so zugekommen, dass ich überhaupt nichts darüber gewusst habe, was mit mir passiert ist. Dass ich alles verloren habe, meine ganze Familie. Bei dieser kleinen Gebärde. Damals wusste ich auch das nicht, dass ich 49 Familienmitglieder im Holocaust verlieren werde."
    Am Ende eines langen Abends im Ratssaal von Uelzen drängen sie heran: Hedy Bohm mit jungen Leuten ins Gespräch vertieft. Eva Pusztai-Fahidi signiert ihr Buch. "Die Seele der Dinge" beschreibt den Untergang ihrer Familie. Leben, um davon zu erzählen. Die beiden tun es oft gemeinsam, vor Schulklassen, in Ratssälen und – wenn die Zeit reif ist – auch vor den Schranken des Gerichts.
    Am 15. Juli – nach 17 Verhandlungstagen – verkündet die vierte große Strafkammer unter Vorsitz des Richters Franz Kompisch das Urteil: Schuldig der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen. Vier Jahre Haft für Oskar Gröning, denn der sei nicht einfach nur der Buchhalter, sondern Teil einer Tötungsmaschinerie gewesen.
    Einer Struktur, ohne die das Vernichtungslager nicht funktionieren konnte. Grausam und heimtückisch habe Gröning geholfen, den ahnungslosen Menschen auf der Rampe vorzugaukeln, sie bekämen ihr Gepäck zurück und es ginge nur zum Duschen.
    Ein salomonisches Urteil
    "Auschwitz war eben nicht nur Einzelakte einzelner Täter, sondern Auschwitz war ein System. Und jeder, der an dem System mitgewirkt hat, ist mit dafür verantwortlich."
    Feiert Nebenklage-Anwalt Cornelius Nestler das aus seiner Sicht salomonische Urteil. Doch Gröning und seine Anwälte suchen die Revision. Die Justiz habe die Ermittlungen gegen Gröning erst jahrzehntelang verschleppt, dann frühere Aussagen gegen die einstigen Kameraden nicht angemessen bewertet.
    Auch einige Anwälte der Nebenklage fechten das aus ihrer Sicht zu milde Urteil an. Möglicherweise im Frühjahr könnte der Bundesgerichtshof entscheiden. Solange das Urteil nicht rechtskräftig ist, muss Gröning nicht ins Gefängnis.
    Für die Überlebenden war der Prozess die wichtigste Erfahrung ihres Lebens, sagt Eva Pusztai-Fahidi. Ein ganzes Menschenleben haben sie darauf warten müssen. Doch von Auschwitz gibt es keine Befreiung:
    "Ich sage immer, wir die auf der Rampe zum Leben verurteilt wurden: Auf einmal sind wir dagestanden, kahl geschoren, splitternackt. Alle Auschwitz-Überlebende müssen etwas im Leben mit diesem Trauma anfangen. Wir wollen nicht hassen, einfach aus diesem Grund, weil wir unsere Seele nicht mit dem Hass beflecken wollen. wir haben die Auseinandersetzung entdeckt! Aber verzeihen können wir nicht! Und wollen wir nicht!"