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Der Balkan und die Kriegsverbrechen
Selektives Erinnern in Serbien

In Serbien wird mancher verurteilte Kriegsverbrecher heute noch als Held verehrt - oder hat gar ein wichtiges Amt inne. Einen wirklichen Neustart habe es nie gegeben, sagt der Menschenrechts-Aktivist Marko Milosavljevic. Er sieht eine historisch ahnungslose Generation heranwachsen.

Von Dirk Auer |
Der ehemalige bosnisch-serbische General und verurteilter Kriegsverbrecher Ratko Mladic auf einer Flagge
Ein Porträt des Kriegsverbrechers Ratko Mladic auf dem Transparent eines seiner Anhänger (ANDREJ ISAKOVIC/AFP)
Vor der albanischen Bäckerei "Roma" in Borca, einem Vorort der serbischen Hauptstadt Belgrad, herrscht Hochbetrieb. Etwa 40 junge Leute haben sich versammelt, um ein Zeichen zu setzen: für Toleranz und gegen Nationalismus. Eine Woche zuvor waren hier Rechtsradikale aufmarschiert.
Der Bäcker Mon Duraj tritt auf die Straße, sofort ist er umringt von Journalisten. "Danke allen, die gekommen sind", sagt er, "und danke für die Unterstützung". Was es mit dem Zwischenfall von vor einer Woche auf sich hat, will eine Journalistin wissen. "Ach", sagt er, "das war keine große Sache, ein paar Leute hätten sich versammelt und etwas gerufen".
"Es werden nur die serbischen Opfer benannt"
Marko Milosavljevic steht daneben und wiegt den Kopf. Er ist Aktivist der Jugendinitiative für Menschenrechte, die zu dieser Solidaritätskundgebung aufgerufen hat. Er sieht die Geschichte in einem größeren Zusammenhang:
"Der Angriff auf diese Bäckerei vor sieben Tagen hat damit zu tun, dass wir heute immer noch nicht in der Lage sind, über die albanischen Opfer des Kosovo-Krieges zu sprechen. Gerade jetzt, 20 Jahre nach dem Ende des Kriegs. Wir sehen in Serbien nicht den gesamten Konflikt von 1998 bis 1999, sondern nur das Ende, die Bombardierung Serbiens durch die NATO. Und das ist das generelle Problem: Es werden nur die serbischen Opfer der NATO-Angriffe benannt, aber nicht jene des vorausgegangenen Kriegs."
Ultranationalisten gedenken der serbischen Opfer der NATO-Angriffe von 1999 - nicht aller Opfer des mehrjährigen Konflikts
Ultranationalisten gedenken der serbischen Opfer der NATO-Angriffe von 1999 - nicht aller Opfer des mehrjährigen Konflikts (Srdjan Ilic/PIXSELL / picture alliance)
Marko schaut auf die andere Straßenseite. Dort haben sich gut zwei Dutzend Gegendemonstranten versammelt: bullige Typen, die mit ihren Handys das Geschehen filmen. Viele von ihnen sind vielleicht so alt wie Marko selbst. Er ist 1991 geboren, da hatte gerade der Krieg in Kroatien angefangen.
"Ich war Teil dieser nationalistischen Folklore"
Und obwohl er davon selbst kaum etwas mitbekam, ist, wie er sagt, auch er damals langsam in diesen ganzen Nationalismus hineingewachsen. Bis 2008, als Kosovo seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte.
"Da gab es einen seltsamen Aufruf an uns Schüler, dass wir auf die Straße gehen und dagegen protestieren sollen. Ich war da vollständig Teil dieser ganzen nationalistischen Folklore, und es war total normal für mich - bis zu dem Moment, als eine Gruppe zu skandieren begann: 'Messer, Draht, Srebrenica.'"
Der Schlachtruf von serbischen Hooligans und anderen rechtsradikalen Gruppen, mit dem das Massaker von Srebrenica glorifiziert wird.
"Und als ich das hörte, war mir klar, dass das nicht in Ordnung ist, dass das irgendwie ein Aufruf zu Gewalt ist. Und dass ich mich besser entferne."
Ein Schlüsselerlebnis, wie Marko heute sagt - obwohl auch er da noch nicht wusste, was ganz genau in Srebrenica geschehen war. Aber er hat sich dann informiert.
Verurteilte Kriegsverbrecher in einflussreichen Positionen
Und wenn er heute, viele Jahre später, Jugend-Austauschprogramme in den Kosovo organisiert und Bildungsveranstaltungen für junge Leute, dann überraschen ihn die großen Bildungslücken nur wenig.
"Wir haben heute 20-Jährige, die überhaupt nichts vom Krieg mitbekommen haben. Und wenn sie zu unseren Veranstaltungen kommen und wir ihnen erklären, was in den Kriegen passiert ist - dann sind sie schockiert! Niemand hatte ihnen bislang gesagt, dass diese Dinge überhaupt passiert sind. Und so wächst eine neue Generation mit den ganzen Vorurteilen gegenüber anderen Nationalitäten heran, besonders gegenüber Albanern - und dann kommt es zu solchen Ereignissen wie dem Angriff auf diese Bäckerei."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Der Balkan und die Kriegsverbrechen - Verklärte Helden, verurteilte Mörder".
Doch das Problem in Serbien, sagt Marko, sei nicht nur das Schweigen. Sondern dass selbst verurteilte Kriegsverbrecher nach ihrer Haft wieder einflussreiche Positionen einnehmen.
Die Liste solcher Fälle ist lang: Vladimir Lazarevic etwa, verurteilt zu 14 Jahren Gefängnis wegen Verbrechen im Kosovo. Nach seiner Entlassung wurde er mit einem Regierungsflugzeug aus Den Haag nach Serbien zurückgeflogen, er erhielt dort einen ehrenvollen Empfang und wurde Gastlektor an der Militärakademie. Dort unterrichtet er die zukünftigen Offiziere der serbischen Armee. Oder Veselin Sljivancanin, verurteilt zu zehn Jahren Gefängnis, heute regelmäßiger Redner bei Veranstaltungen der Regierungspartei SNS, der Partei von Präsident Aleksandar Vucic.
Schlussstrich ziehen und nach vorne schauen?
Marko holt sein Handy heraus und zeigt ein Video. 150 Leute wollten den Ex-General vor zwei Jahren bei einer Veranstaltung hören, die Stimmung war gut - bis die Aktivisten der Jugendinitiative ein Transparent entrollten: "Kriegsverbrecher, seid still, damit wir über die Opfer reden können", stand darauf geschrieben. Auf verwackelten Bildern ist zu sehen, wie die Veranstaltung im Tumult endete.
"Es war eine Lynch-Atmosphäre: Wir sind verprügelt worden, unser Auto wurde beschädigt. Und obwohl die Polizei gegenüber war, ist niemand gekommen. Am Ende sind wir wegen Störung der öffentlichen Ordnung vom Gericht verurteilt worden und mussten jeder um die 400 Euro Strafe zahlen - während unsere Strafanzeigen abgelehnt wurden."
Demonstrantin hält ein Transparent mit der Aufschrift, der Mythos Srebrenica sei eine Lüge der Nato
Vergangenheitsbewältigung ist in Serbien politisch höchst umkämpft (ANDREJ ISAKOVIC/AFP)
Drinnen in der Bäckerei von Mon Duraj herrscht inzwischen Hochbetrieb. Auch die Stammkundschaft kommt - und immer wieder fallen unterstützende Worte für die albanischen Nachbarn. Eine Frau sagt, und dabei schaut sie über die Straße auf die Gruppe der rechtsextremen Gegendemonstranten: "Für mich ist das lächerlich, was diese Leute da machen." Man müsse endlich einen Schlussstrich ziehen und nach vorne schauen - Hass und Nationalismus bräuchte hier doch keiner.
"Es gab nie einen wirklichen personellen Wandel"
Die Versammlung geht zu Ende, die Menge verstreut sich. Mit einem Taxi fahren die Aktivisten zurück nach Belgrad. Das mit dem Schlussstrich ist so eine Sache, sagt Marko. Denn das sei ja schließlich auch das ewige Mantra der serbischen Politiker: Dass man nach vorne schauen müsse und die Vergangenheit den Historikern überlassen solle - womit sie aber doch nur von ihrer eigenen Vergangenheit ablenken wollten.
"Diese ganze Schicht, die Milosevic überlebt hat: Es gab in den Institutionen niemals einen wirklichen personellen Wandel, dass etwa bestimmte Leute nicht mehr beschäftigt werden können. Wenn es das gegeben hätte, könnten auch unser Präsident Vucic und Außenminister Dacic keine öffentlichen Funktionen haben – oder auch nur kandidieren. Das wäre einfach nicht möglich."