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Der besondere Fall
Wie Rückenschmerzen Depressionen auslösen

Jahrelang litt ein heute 56-jähriger Softwareentwickler unter chronischen Rückenschmerzen. Eine Odyssee durch Arztpraxen und Klinken blieb erfolglos. Dabei war die Lösung seines Leides gut sichtbar.

Von Mirko Smiljanic |
    Ein Arzt stellt ein Rezept aus.
    Zahlreiche Ärzte konnten dem Softwareentwickler nicht helfen. Sein Leiden wurde zeitweise als "agitiert-depressiv“ eingestuft. (imago )
    Frühsommer 2013, Willich am Niederrhein, in den Räumen des Softwareentwicklers Reiner Voigt. Die Arbeit an seinem Warenwirtschaftssystem geht zügig voran, abgeschlossen ist das Großprojekt aber noch lange nicht. Immerhin haben seine Mitarbeiter zentrale Teile auf Programmfehler überprüft und für sauber erklärt. Zeit für ein paar Tage Pause. Erst jetzt merkt Reiner Voigt ein seltsames Zwicken im unteren Rücken.
    "Es fing erstmal an mit Schmerzen im Rückenbereich, die ich dann einfach einer Wirbelsäulenproblematik zugeordnet hab und dann einen Orthopäden aufgesucht hab", rrinnert sich der heute 56-Jährige an den Beginn einer Odyssee durch Arztpraxen und Kliniken.
    "Der hat verschiedene bildgebende Verfahren gemacht oder in Auftrag gegeben. Das hat gezeigt, dass die Wirbelsäule altersgemäß verschlissen war und dass halt die Möglichkeit einer Schmerzsymptomatik aufgrund des Zustandes der Wirbelsäule durchaus bestehen konnte."
    Der Orthopäde verschreibt Physiotherapie und rät zu sportlicher Aktivität. Parallel konsultiert der im niederrheinischen Geldern lebende Softwareentwickler einen Chiropraktiker – wirklich geholfen hat das alles nicht.
    Vereisung an den Facettengelenken lindert die Schmerzen
    "Ganz zum Schluss als die Schmerzen immer schlimmer wurden, hat mir dann eine Neurochirurgin eine Vereisung an den Facettengelenken der Wirbel durchgeführt, was dazu führt, dass Schmerzleiterbahnen unterbrochen werden und man dann die Schmerzen, die aus dem unteren Rückbereich kommen, nicht mehr so spürt."
    Ein erster bescheidener Therapieerfolg. Aber keiner, der die Ursachen der Schmerzen im Fokus hat. Nun zählen Rückschmerzen, so eindeutig sie auch sein mögen, zu den besonders schwierig zu diagnostizierenden Leiden. "Rücken" kann vieles sein.
    "Zum Beispiel Nierenschmerzen, Gallenkoliken, Bauchspeicheldrüsenprobleme, Magenprobleme, das alles kann auch 'Rücken' sein."
    Janusz Dzielgielewsk, Chefarzt der Klinik für Urologie am St. Clemens-Hospital Geldern. Woran Reiner Voigt tatsächlich leidet, hat zu diesem Zeitpunkt noch niemand herausgefunden. Erschwerend kommt hinzu, dass wenige Wochen nach der Vereisung an den Facettengelenken der Wirbel ihn seltsame Gefühlszustände erfassen.
    "Ich wachte eines Morgens auf und hatte erst einmal das Gefühl, als würde Strom durch meinen Körper fließen, und dieses Gefühl manifestierte sich dann innerhalb von Stunden in einen Unruhezustand."
    Psychopharmaka bestimmen für Monate den Alltag
    Nach wenigen Tagen ging nichts mehr. Unfähig auch nur ein paar Minuten ruhig auf einem Stuhl zu sitzen, überwies er sich selbst in ein Allgemeinkrankenhaus.
    "Und die haben aufgrund meiner geschilderten Symptomatik mir erst mal ein valiumartiges Mittel, Tavor heißt das, gegeben, und damit fuhr dann dieser Unruhezustand von seiner Symptomatik auch runter."
    Ein zweiter bescheidener Therapieerfolg, der aber den Haken hat, dass Voigt in eine Klinik für Neurologie wechseln muss. Tavor in größeren Mengen verschreibt das Allgemeinkrankenhaus nicht. Die Ärzte der neuen Klinik untersuchen ihn und stufen sein Leiden als "agitiert-depressiv" ein.
    "Das ist keine Depression, bei der man in einen lethargischen Zustand verfällt, der Hoffnungslosigkeit, sondern in einen Unruhezustand."
    Naiv wie er damals gewesen sei, so Voigt, habe er allen alles geglaubt, vor allem aber habe er alle Medikamente geschluckt, die man ihm gab. Ein buntes Portfolio an Antidepressiva und Neuroleptika, die immer mal wieder gewechselt wurden, um zu sehen, welches wirkt und welches nicht. Zeit genug haben seine Ärzte, für vier Monate nehmen sie ihn stationär auf. An dieser Stelle macht der Hinweis Sinn, dass Reiner Voigt als privat Versicherter für das Gesundheitswesen ein klassischer Goldesel ist. Geholfen haben ihm die Medikamente übrigens überhaupt nicht.
    "Es ging mir nur schlechter, die extremen Nebenwirkungen dieser Medikamente haben mich in noch viel schlimmere Zustände versetzt."
    Ein Internist schaut genauer hin
    Nach vier Monaten verlässt er die Klinik und bleibt mehr als ein Jahr "todkrank", wie er es selbst sagt, zu Hause. Immer wieder suchte er neue Ärzte, helfen konnte ihm niemand. In dieser Situation sind seine Rückenbeschwerden – mit denen ja alles begann - kaum der Rede wert, zumal die Vereisung die Schmerzen tatsächlich stark reduziert hat.
    "Bis ich dann nach ungefähr anderthalb Jahren nach dem Klinikaufenthalt an einen Internisten gekommen bin, der dann eine Sonografie gemacht hat."
    Eine Ultraschalluntersuchung – und seinen Augen nicht traut. In der linken Niere sieht er einen außergewöhnlich großen Nierenstein! "Ein großer Stein kann sich nicht in den Harnleiter setzen, verursachen also keine typischen Nierenkoliken."
    Koliken, ausgelöst durch kleine Nierensteine, werden sofort als solche erkannt und behandelt. Bei den diffusen Rückenproblemen hat einfach niemand daran gedacht, dass sie von großen Nierensteine ausgelöst werden können, so Thomas Kothen, Urologe am St. Clemens-Hospital Geldern.
    Der Nierenstein wird entfernt, die Depressionen verschwinden
    "Der Befund war eindeutig, der Nierenstein war nachvollziehbar von den Bildern und den Unterlagen, die er auch mitgebracht hatte, und ansonsten haben wir einfach nur festgelegt, was wir machen wollen, den Stein rausholen."
    Eine Woche nach der Operation waren die jahrelangen "Rückenprobleme" Geschichte. Bleibt zum Schluss die Frage, ob es einen Zusammenhang gibt zu Voigts vermeintlich psychischen Problemen? Den gibt es. Große Nierensteine verursachen in den meisten Fällen einen Rückstau des Urins mit der Folge von Infektionen. Diese Infektionen können motorische Unruhezustände auslösen, die häufig fälschlicherweise psychisch erklärt werden.
    Beruflich endete Reiner Voigts Krankengeschichte übrigens im Desaster: Sein Softwareunternehmen ging im April 2015 in die Insolvenz.