Die EU, die USA und weitere westliche Verbündete haben wegen des russischen Einmarsches in die Ukraine umfangreiche Sanktionen gegen Moskau verhängt. Am 22. Februar hatte Bundeskanzler Olaf Scholz angesichts des Entsendungsbefehls russischer Soldaten in den umkämpften Osten der Ukraine den Stopp des Genehmigungsverfahrens für die Erdgaspipeline Nord Stream 2 angekündigt. Die Lage sei heute eine grundlegend andere. Die internationale Staatengemeinschaft müsse nun reagieren, hatte Scholz betont.
Alle aktuellen Entwicklungen: Newsblog von den Nachrichten zum Krieg in der Ukraine
- Was ist das Projekt Nord Stream 2?
- Wie abhängig ist Deutschland vom russischen Erdgas?
- Welche politischen Interessen sind mit Nord Stream 2 verbunden?
- Welchen Einfluss haben die USA auf das europäische Projekt?
- Wie stark würde Russland ein Ende von Nord Stream 2 treffen?
- Welche klimapolitischen Aspekte gibt es?
Was ist das Projekt Nord Stream 2?
Nord Stream 2 ist das Nachfolgeprojekt der 2005 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) geplanten und seit 2011 bestehenden Pipeline Nord Stream, die Erdgas aus Russland direkt nach Deutschland liefern soll. Bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas sollen künftig pro Jahr durch die neue Pipeline geleitet werden - ohne Umweg über Transitländer und über eine Strecke von rund 1.230 Kilometern mit zwei parallelen Strängen auf dem Grund der Ostsee, vom russischen Ust-Luga bis zur Anlandestation in Lubmin bei Greifswald.
Die Leitung ist fertiggestellt, aber noch nicht in Betrieb. Die ursprünglich für 2019 anvisierte Inbetriebnahme wurde mehrfach verschoben, weil seit Jahren ein politischer Streit um die Ostsee-Pipeline tobt. Die Arbeiten waren zudem unterbrochen worden, da Umweltschutzverbände mit dem Hinweis auf rastende Vögel im Schutzgebiet vor Gericht gezogen waren.
Hinter Nord Stream 2 steht der russische Staatskonzern Gazprom als alleiniger Eigentümer, der auch die Hälfte der geplanten Gesamtkosten von 9,5 Milliarden Euro übernimmt. Chef des Aktionärsausschusses von Nord Stream 2 ist Altkanzler Gerhard Schröder. Finanziert wird das Konsortium außerdem von großen Energiekonzernen, neben OMV aus Österreich, Royal Dutch Shell aus Großbritannien und der französischen Engie haben auch die deutschen Firmen Wintershall Dea und Uniper investiert.
Der Bau einer zweiten Pipeline durch die Ostsee hat vor allem politische Gründe - auch weil andere Transportwege über Transitländer blockiert werden können. Claudia Kemfert, Energieexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), hält das Projekt Nord Stream 2 für nicht rentabel. Es gebe bereits ausreichend Pipeline-Kapazitäten, zusätzlich gebaute Flüssiggasterminals und Transportrouten, die für den in Zukunft abnehmenden Bedarf von fossilem Erdgas reichen würden, sagte Kemfert im Deutschlandfunk.
Mitte November 2021 hat die Bundesnetzagentur in Bonn ein Zertifizierungsverfahren vorerst ausgesetzt. Hintergrund des Verfahrens ist die EU-Gasrichtlinie, die eine Trennung von Betrieb der Leitung und Vertrieb des Gases vorschreibt. Einziger Anteilseigner der Nord Stream 2 AG ist formal der russische Gaskonzern Gazprom. Die Nord Stream 2 AG mit Sitz im schweizerischen Zug hatte bei der Bundesnetzagentur die Zertifizierung als unabhängige Betreiberin beantragt.
"Die Bundesnetzagentur ist nach eingehender Prüfung der Unterlagen zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Zertifizierung eines Betreibers der Leitung Nord Stream 2 nur dann in Betracht kommt, wenn der Betreiber in einer Rechtsform nach deutschem Recht organisiert ist", teilte die Bundesnetzagentur mit. Dem will das Unternehmen mit der Gründung einer Tochterfirma mit Sitz in Deutschland entsprechen.
Wie abhängig ist Deutschland vom russischen Erdgas?
Die Gasförderung innerhalb der EU ist stark rückläufig. Fossile, klimaschädliche Brennstoffe wie Erdgas gelten aufgrund der EU-Klimaziele als Energieträger mit Ablaufdatum. Deutschland selbst hat kaum Erdgasvorkommen - fünf Prozent des Verbrauchs könnte Deutschland selbst decken - Tendenz fallend. Während der Energiewende wird Deutschland noch für einige Zeit weiter auf russisches Erdgas angewiesen sein, als Brückentechnologie beim Ausbau der Versorgung mit erneuerbaren Energieträgern.
Laut dem "Statistic Review of World Energy" von BP hat Deutschland 2019 gut die Hälfte seiner Erdgasimporte aus Russland bezogen (51 Prozent). Die weiteren Hauptlieferanten für Erdgas sind Norwegen (27 Prozent) und die Niederlande (21 Prozent). Innerhalb der Europäischen Union ist Deutschland mit 55,6 Milliarden Kubikmetern der größte Importeur von Erdgas aus Russland.
Zwar hat Deutschland Gas gebunkert, doch liegen die Füllstände bei gerade einmal 35 Prozent der möglichen Auslastung und somit deutlich unter den Füllständen vor einem Jahr. Sollte Russland wirklich aufhören Gas zu liefern, wäre das mit deutlichen Einschnitten verbunden. Sollte es in diesem Winter dann noch mal kalt werden, würden nach Berechnungen der Denkfabrik Bruegel die europäischen Gas-Speicher bereits Ende März 2022 leer sein. Dann könnten in Deutschland Heizkörper kalt bleiben.
Einfach mehr Gas einkaufen und speichern ist allerdings nicht ohne weiteres möglich. Zwar erfüllt Russland weiter seine Verträge, aber bietet aber trotz der immensen Nachfrage auf dem Weltmarkt nicht mehr an. Andere Gaslieferanten können nicht ohne weiteres einspringen. Norwegen produziert bereits am Anschlag und die Niederlande wollen nach Erdbeben in Region Groningen eigentlich aus der Erdgasproduktion aussteigen. Zwar bieten die USA Gas an, Deutschland selbst hat aber keine eignen LNG-Terminals. Ein solcher Gas-Hafen soll in Brunsbüttel entstehen - einen konkreten Zeitplan gibt es dafür bisher aber nicht.
Welche politischen Interessen sind mit Nord Stream 2 verbunden?
Der Bau der Pipeline sorgte weltweit für politische Diskussion. Aus einem Wirtschaftsprojekt ist ein politischer Konflikt entbrannt - zwischen den USA und Russland, aber auch zwischen mehreren EU-Ländern und Deutschland. Polen und die baltischen Länder befürchten, dass sich die Europäische Union mit der neuen Ostsee-Pipeline in eine größere wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland begibt. Betroffen sind sie auch als bisherige Transitländer für Erdgas, das auf dem Landweg aus Russland nach Europa gepumpt wird. Auch die Ukraine befürchtet einen Wegfall von Transiteinnahmen aus dem Erdgas-Export, nach Schätzungen rund zwei Milliarden Euro jährlich.
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki setzt darauf, dass die neue Ampel-Bundesregierung einen Kurswechsel im Streit um die Gas-Pipeline vollzieht. Die Pipeline könne von Russland genutzt werden, um die Ukraine und Moldau zu erpressen und Energiepreise zu manipulieren, warnte er am 28.11.2021. Morawiecki warf Russland vor, Energie quasi als Waffe gegen die Ukraine nutzen zu wollen. Die Ukraine sei auf russische Lieferungen von Öl, Gas und sogar Kohle angewiesen, sagte er.
In ihrem Koalitionsvertrag gehen SPD, Grüne und FDP nicht direkt auf das Thema ein. Es findet sich dort aber der Satz: "Für energiepolitische Projekte auch in Deutschland gilt das europäische Energierecht." Das kann nach Angaben von Verhandlern als Hinweis darauf verstanden werden, dass nach europäischem Recht der Betreiber der Pipeline vom Gasproduzenten getrennt werden müsse. Der Betreiber ist eine Tochterfirma des russischen Gaskonzerns Gazprom. Die Grünen lehnen das Problem aus geostrategischen und klimapolitischen Gründen ab. Auch die FDP ist skeptisch, die SPD dagegen deutlich offener. Die Pipeline kommt in dem von der SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig regierten Mecklenburg-Vorpommern an.
Dänemark hat vor allem klimapolitische und ökologische Bedenken geäußert – und sieht sich zwischen deutscher Handelspolitik und den geopolitischen Interessen der USA eingekeilt: Die US-Regierung tritt als scharfer Gegner der neuen Ostsee-Pipeline auf. Auch deshalb, wie immer wieder vermutet wird, um mit Sanktionen gegen das Nord Stream Projekt den Absatz des eigenen Flüssiggases auf dem europäischen Markt anzukurbeln.
Welchen Einfluss haben die USA auf das europäische Projekt?
Einen großen. Die USA sorgten für einen fast einjährigen Baustopp - als Folge der von den USA gegen Russland verhängten Sanktionen, als Strafe für die Einmischung in die US-Wahlen und die Annexion der Krim. Firmen, die an der Fertigstellung von Nord Stream 2 mitwirken, wurden Strafmaßnahmen angedroht. Anfang 2021 nahm das russische Verlegeboot "Fortuna2" die Arbeiten wieder auf.
Den jahrelangen
Konflikt um Nord Stream 2 legten Deutschland und die USA Ende Juli bei
. In einer gemeinsamen Erklärung betonen Deutschland und die Vereinigten Staaten, sie unterstützten die Energiesicherheit der Ukraine und der Länder Mittel- und Osteuropas. Nach Angaben beider Seiten verpflichtet sich die Bundesregierung für den Fall, dass Russland seine Energie als politische Waffe einsetzt, nationale Maßnahmen zu ergreifen und auch auf EU-Ebene auf Sanktionen hinzuwirken.
Deutschland verpflichtet sich in der Vereinbarung mit den USA zur Ernennung eines Sondergesandten. Dieser soll die Verlängerung des Gas-Transitabkommens zwischen Russland und der Ukraine um bestenfalls bis zu zehn Jahre aushandeln. Die Ukraine erhält für den Gastransit per Landleitung jährlich rund drei Milliarden Dollar aus Russland. Dieser Vertrag läuft 2024 aus.
Eine zusätzliche Säule der Vereinbarung ist der deutliche Ausbau der Energiepartnerschaft mit der Ukraine. Es soll ein Fonds eingerichtet werden, mit dem Berlin und Washington die Energiewende in der Ukraine herbeiführen wollen.
Doch im Winter 2021 sorgt Nord Stream 2 erneut für Konflikte. Die USA drohten Russland für den Fall eines Angriffs auf die Ukraine mit Maßnahmen gegen Nord Stream 2. "Das ist ein Druckmittel des Westens", sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am 7.12.2021. "Denn wenn (Russlands Präsident) Wladimir Putin will, dass Gas durch diese Pipeline fließt, will er vielleicht nicht das Risiko einer Invasion in der Ukraine eingehen".
Wie stark würde Russland ein Ende von Nord Stream 2 treffen?
Die Einnahmen aus Rohstoffexporten machen den Löwenanteil des russischen Haushalts aus. Für Russland ist die Gas-Pipeline dennoch weniger aus wirtschaftlicher Sicht wichtig, denn der Export von Erdöl ist ein viel größerer Faktor in der russischen Exportwirtschaft. Ohne Nord Stream 2 wäre allerdings ein wichtiger Antrieb für die Erschließung der neuen Vorkommen in Russland entfallen: Die alternativen Transportrouten wären deutlich teurer. Die Kosten würden steigen, die Rentabilität sinken.
Ohne Nord Stream 2 müsste das Gas weiter über den Landweg, also über Transitländer wie die Ukraine oder Polen, die in Moskau weniger gut gelitten sind, transportiert werden. Die zweite Ostsee-Pipeline ist aus russischer Sicht vor allem ein politisches Prestigeprojekt, das eine direkte Verbindung nach Deutschland darstellt.
Welche klimapolitischen Aspekte gibt es?
Aus klimapolitischer Sicht hätte man die Pipeline nicht bauen dürfen. Mit jährlich 100 Millionen Tonnen CO2 stehe Nord Stream 2 im Widerspruch zu den Klimazielen, sagt die Deutsche Umwelthilfe und bezeichnet die Pipeline als "Relikt aus einer fossilen Vergangenheit". Neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge sei die Erdgasförderung klimaschädlicher als angenommen.
Niklas Höhne, Leiter des New Climate Instituts in Köln, sagte im Dlf: "Wenn wir das 1,5 Grad Ziel einhalten wollen, dann bräuchten wir die Pipeline überhaupt nicht, und wenn sie fertig gebaut wird, dann müsste sie in einer Größenordnung fünf bis zehn Jahre abgeschaltet werden." Die Pipeline sei eine Investitionsruine. Flüssiggas-Terminals als Alternative seien ebenfalls kritisch zu sehen, weil das Gas aktuell vorwiegend aus den USA kommt. "Dort wird es durch Fracking generiert und pro Kilowattstunde Gas haben wir hier so hohe Emissionen wie von Kohle."
(Quellen: Gesine Dornblüth, Thielko Griess, Theo Geers, Doris Simon, Marcus Pindur, tei, dpa, Reuters, AP, AFP)