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"Der Stich im Herzen" von Andrzej Stasiuk
Prosaischer Blick nicht nur auf den Osten

Das Unterwegssein als Lebensform ist seit Langem das große Thema des polnischen Autors Andrzej Stasiuk. In seinem neuen Buch "Der Stich im Herzen" muss es auch nicht immer der Osten sein. Dort aber erlebt er die für ihn wichtigen großen, epischen Dinge, die er prosaisch verarbeitet.

Von Marta Kijowska | 10.09.2015
    "Wir wandern durch die Welt, um von ihr zu erzählen. Und keineswegs, um sie zu erobern, zu verändern, zu erkennen und zu verstehen, sondern lediglich, um ihre Schönheit zu beschreiben. Eine Schönheit, die wir oft nicht begreifen können; doch wir spüren, dass sie in uns fährt mit der Kraft der ersten Liebe."
    Diese Sätze, die ziemlich genau aus der Mitte von Andrzej Stasiuks neuem Buch stammen, klingen genau so verlockend wie sein Untertitel: Geschichten vom Fernweh. Wenn man allerdings den schmalen Band aufmacht und den Anfang der ersten dieser Geschichten liest, spürt man einen leichten Anflug von Ungeduld und Enttäuschung. Schon wieder, denkt man, geht es also um den Osten, um irgendein sibirisches Kaff, wo es nur "Sand, alten Beton und Unkraut" gibt. Man weiß ja seit Langem, wie gern Stasiuk die Länder des einstigen sowjetischen Imperiums erkundet und wie sehr ihn dabei das Hässliche, Verlassene, Heruntergekommene fasziniert.
    Und doch ist diesmal einiges anders: Zum einen führen die Reiseberichte, die der schmale, doch immerhin aus 50 Prosastücken bestehende Band enthält, keineswegs nur in den Osten. Zum anderen lassen sie einige Texte einen neuen, reifen Stasiuk erkennen: Porträts, Erinnerungen, Selbsterkenntnisse, Lebensweisheiten. Manchmal ergeben sie sich direkt aus dem Reisen, manchmal nicht, aber sie machen fast alle den Eindruck, als wäre der Autor ununterbrochen in Bewegung, ständig unterwegs, was auch – wie er selbst sagt – gewissermaßen zutreffe:
    "Hans Christian Andersen hat einmal gesagt: Reisen ist Leben, dann wird das Leben reich und lebendig. Und er hat natürlich recht. Nur darf man nicht vergessen, dass diese Potenzierung des Lebens durch das Reisen am schönsten eben in der Literatur wirkt. Wenn man zum Beispiel meine Bücher liest, hat man tatsächlich den Eindruck einer permanenten Reise, einer ständigen Wanderung. Dabei ist es nur ein literarisches Stilmittel, denn auch bei mir nehmen die Reisen viel weniger Zeit in Anspruch als das normale Alltagsleben, wie bei den meisten Menschen. Das sieht nur so aus, als wäre ich ununterbrochen in Bewegung. Aber das ist wiederum der Vorteil der Literatur: Sie potenziert ihrerseits das Reisen."
    Leben an der polnisch-slowakischen Grenze
    Diese Ansicht verdankt Stasiuk nicht zuletzt dem Ort, an dem er seit Jahren lebt. Das kleine Bergdorf an der polnisch-slowakischen Grenze habe ihn gelehrt, dass alles in Bewegung sei und aus Fragmenten, aus kleinen Bruchstücken bestehe. Diese Art Wahrnehmung behält er freilich auch auf seinen Reisen – das Ergebnis sind Berichte und Impressionen, in denen er sich wieder mal als Meister der kritischen Beobachtung und der pointierten Poesie erweist. Das gilt für Orte, zu denen es ihn immer wieder hinzieht – in Polen, Russland, Albanien, Rumänien oder der Mongolei. Aber auch für solche, die er nur einmal besuchte, allen voran Amerika, an dem er sofort Gefallen fand,
    "Ich liebte dieses Land vom ersten Blick an. Dafür, dass es sich nicht beirren lässt, dass es im Grunde genommen reine Energie ist und sich um die Form nicht schert. Ja, für seine Barbarei liebe ich Amerika. Und genau dafür liebe ich auch Polen. Das es ihm sonst wo vorbeigeht, ob es schön ist. Es ist ein wunderbarer Proteus der gemäßigten Zone und sucht eine entsprechende Verkörperung. Und sicher wird es seine endgültige Form nie finden."
    Der berühmte Mangel an Form, den schon viele Schriftsteller an Polen kritisierten – etwa Witold Gombrowicz, der es darin zu einer Meisterschaft brachte. Stasiuk aber, den die Tristesse der armen Ecken Amerikas offenbar an das kommunistische Polen erinnert, kann dieser Assoziation durchaus einen Reiz abgewinnen:
    "Dieses kommunistische Polen war gar nicht so trist. Was immer wir von diesem System halten, wie schlecht, hässlich oder menschenfeindlich wir es auch finden: Tatsache ist, dass unser Land damals an einem einzigartigen Experiment, an einem Projekt von planetarischen Ausmaßen teilgenommen hat. Diese Dinge beschäftigen mich bis heute. Ich fahre in den Osten, weil mich der Kommunismus und der Postkommunismus immer noch interessieren. Ich frage mich ständig, was der Mensch imstande ist, zu vollbringen – im Namen einer Idee, einer Abstraktion, einer Einbildung. Und die Antwort darauf finde ich eben dort, im Osten.
    Der Westen hingegen hat für mich kein Sexappeal, regt meine Fantasie nicht an. Ich langweile mich dort einfach – was nicht unbedingt abwertend gemeint ist. Es ist eine Frage des Geschmacks, der individuellen Präferenzen."
    Abschied von der Jugend
    Es ist auch eine Frage der Erinnerung. Denn Abschied, Verlust, Vergänglichkeit sind ebenfalls Themen, um die diese Geschichten oft kreisen. Etwa der Abschied von seiner Jugend, die er schon in seinem letzten Erzählband "Kurzes Buch über das Sterben" beschrieben hat und an die er sich auch jetzt erinnert – vor allem an den Alltag in dem armen Warschauer Stadtteil Grochów, der für ihn und seine Freunde nur Langeweile und Perspektivlosigkeit bedeutete:
    "Ich gehe in Gedanken zu jener Zeit zurück und sehe deutlich, wie wir unsere Eltern verraten, wie wir ihr Leben verlassen, um nie wieder zu ihm zurückzukehren. Wie hilflos wir unsere Väter zurücklassen, die den ersten Takten von "Hey Joe", der Mundharmonika von Bob Dylan oder der heiseren Stimme von Janis Joplin lauschen. Sie waren nicht imstande zu begreifen, was mit uns geschah. Und wir verrieten sie einfach, indem wir die Illusion wählten statt des echten Lebens."
    Im Osten versteht er die Welt am besten
    Wie sich doch die Perspektive ändern kann: Als Jugendlicher schwärmte Andrzej Stasiuk vom Westen und wollte dahinziehen, als reifer und vielgereister Mann sagt er, das echte Leben spiele sich im Grunde doch im Osten ab – für ihn zumindest. Dort verstehe er die Welt am besten. Wenn er etwa an der russisch-chinesischen Grenze stehe, könne er auf der einen Seite sehen, wie die Welt einmal gewesen sei, wie der Kommunismus die Erde verwüstet habe, und gleichzeitig – auf der anderen Seite, in China – wie die Welt in Zukunft sein werde:
    "Dort passieren wirklich große, epische Dinge. Es gibt weite Landschaften, menschliche Dramen, eben all das, was einem Gänsehaut macht, wovon aber gute Prosa nun mal lebt. Deswegen zieht es mich immer wieder hin. Dieses Freiheitsgefühl und diese Weite sind für einen Prosaschriftsteller sehr wichtig, weil sie eben Epik bedeuten. Nicht zufällig kommt große Literatur so oft aus Ländern wie Amerika und Russland, wo man frei atmen kann, wo sich die Menschlichkeit in der Geografie auflöst, wo es Wüsten, Steppen, Prärien oder diesen chinesischen Gigantismus gibt. Das regt einfach die Fantasie enorm an."
    Es bedarf allerdings nicht immer großer geografischer Dimensionen, um seine Fantasie anzuregen. Manchmal genügt ein Detail, eine Information oder ein kleiner Abstecher, und schon kreiert er gewagte, aber sehr ansprechende Bilder – etwas dann, wenn er den New Yorker Künstler Andy Warhol und den polnischen "naiven" Maler Nikifor Arm in Arm über den Broadway spazieren lässt. Oder sich in die Jugendzeit von Herta Müller zurückversetzt. Es sind auch Bilder dabei, die zeigen, dass er sich viel öfter als früher mit Themen wie Alter, Krankheit und Sterben beschäftigt. In seinem letzten Buch staunte er darüber, wie sehr wir den natürlichen Umgang mit dem Tod verlernt hätten, der einmal Teil der bäuerlichen Kultur gewesen sei. Jetzt scheint er in der Intensität des geführten Lebens ein Antidotum gegen die Todesangst zu sehen.
    "Je reicher, intensiver, stärker das Leben war, desto mehr übergeben wir dem Tod. Wir können unsere Tage unbeweglich in einer Ecke verbringen und zulassen, dass die Schönheit der Welt an uns vorbeigeht, vielleicht sterben wir dann mit weniger Wehmut. Wir haben die Wahl."
    Welche Wahl Andrzej Stasiuk für sich getroffen hat, weiß man spätestens nach der Lektüre dieses Buches: Er hat sich für die Beweglichkeit, für das Unterwegssein entschieden. Am liebsten in einem wenig bekannten, unbeschriebenen Raum, in dem sich – wie sein kleines, aber sehr eindrucksvolles Buch zeigt – all die Stimmungen, Gerüche, Farben und Geräusche, die ihm "einen Stich ins Herz" versetzen, besonders gut einfangen lassen.
    Buchinfos:
    Andrzej Stasiuk: "Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh", Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 207 Seiten, Preis: 10,00 Euro