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Der Vatikan und der Beginn des Lebens
Beseelt von Anfang an

Wann beginnt das menschliche Leben? Ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Eine Debatte, die so aktuell wie auch uralt ist. Philosophen, Forscher, Ärzte und auch Päpste wie Pius IX. haben sich immer wieder mit der Frage des Lebens beschäftigt. Ein aktueller Blick zurück.

Von Kirsten Dietrich | 27.12.2019
Papst Pius IX (Giovanni Maria Mastai Ferretti 1792-1878) eröffnet das Erste Vatikanischen Konzil im vollen Petersdom, farbige zeitgenössische Abbildung.
Eröffnung des Ersten Vatikanischen Konzils im Jahr 1869 im Petersdom (picture alliance / Heritage-Images)
Wann ist der Mensch ein Mensch? Heute redet man da von Ei- und Samenzelle, von Nidation, Einnistung, Verschmelzung von Chromosomensätzen, überhaupt: vom Zusammenwirken männlicher und weiblicher Zellen – Stand der biologischen Forschung eben. Doch bis vor 200 Jahren umgab die menschliche Fortpflanzung noch ein großes Rätsel.
"Man muss sich vergegenwärtigen, welche Umstellung es für das grundsätzliche Verständnis des Menschen und seiner intimsten Beziehungen gewesen ist, dass ein Kind allein durch zwei Elternteile entstehen soll, die sich vereinigen; dass die Befruchtung jedes Mal aufs Neue die genuine Erzeugung eines Lebewesens ist und nicht die Entfaltung eines lange gefassten, göttlichen Plans."
Das schreibt der Kulturwissenschaftler Andreas Bernhard in seinem umfassenden Überblick über Fortpflanzungsmedizin und aus ihr folgende Familienbilder. Was bei der Zeugung geschieht, war ein Rätsel, bis 1827 zum ersten Mal die weibliche Eizelle gesehen und beschrieben wurde durch den Embryologen Karl Ernst von Baer. Vorher hatte man zwar schon die männlichen Samenzellen entdeckt, aber was genau geschieht, damit aus dem Zusammenwirken geheimnisvoller Lebenskräfte ein neues menschliches Wesen entsteht, war unbekannt.
Die Naturphilosophen arbeiteten sich also ohne Bilder an der Frage ab: Wann wird der Mensch zum Menschen? Der katholische Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl:
"Da konkurrierten auch im katholischen Denken zwei Modelle: einmal das Modell der sogenannten Sukzessiv-Beseelung, also dass sich erst im Verlauf der Schwangerschaft die Beseelung einstellt, und mit der Beseelung war dann eben der Mensch voll Mensch."
"Mit dem Zeitpunkt der Beseelung war das Leben voll Mensch"
Vom Philosophen Aristoteles über den Kirchenvater Augustin kam dieses Modell der allmählichen Beseelung zu Thomas von Aquin, der die Grundlagen für das philosophisch-theologische Denken des gesamten Mittelalters prägte.
"Und deshalb muss man sagen, die Seele existiere im Embryo; vom Beginne an zwar eine Nährseele, später aber eine Sinnesseele, und endlich eine vernünftige."
Wann diese vernünftige, menschliche Seele im Embryo entstehe, war in diesem System übrigens ans Geschlecht geknüpft: nach 40 Tagen beim männlichen Embryonen, weibliche bräuchten dafür doppelt so lange.
Andreas Lob-Hüdepohl: "Dann gab es die konkurrierende Auffassung der sogenannten Simultanbeseelung. Das heißt, mit dem Beginn der Fruchtbarkeit, also mit der wie auch immer gearteten Einnistung, wurde dieses neue Leben auch beseelt, und mit dem Zeitpunkt der Beseelung war es voll Mensch."
Dieses Konzept machte Papst Pius IX. vor 150 Jahren, im Jahr 1869 in seinem dogmatischen Erlass "Apostolicae sedis" zur Grundlage des katholischen Umgangs mit dem menschlichen Leben. Dabei hat der Papst den wissenschaftlichen Forschungsstand wohl durchaus wahrgenommen, die Erkenntnis, dass am Beginn dieses Lebens die Verschmelzung zweier Zellen steht. Wichtiger aber war ihm ein anderer Gedanke: Wenn die Jungfrau Maria, wie von ihm 1854 dekretiert, unbefleckt empfangen wurde, dann durfte sie auch zu keinem Zeitpunkt im Mutterleib ohne perfekte Seele gewesen sein. Deswegen also: keine Entwicklung der Seele und damit des vollen Menschseins in Schritten, sondern von Anfang an.
Die Vorstellung der Beseelung lebt auch heute weiter
Andreas Lob-Hüdepohl: "Beseelung heißt nicht, dass da irgendwie etwas zucken kann und wir etwas Lebendiges erkennen können, sondern hier ist es das Eintauchen des göttlichen Fluidums in etwas Neues."
Papst Pius IX. legte vor 150 nicht ausdrücklich fest, dass dieses göttliche Fluidum von Beginn an im Menschen wirksam sei. Er unterschied im Text seine Bulle einfach nicht mehr, wie das vorher geschah zwischen beseeltem und unbeseeltem Embryo beziehungsweise Fetus. Das hatte natürlich gravierende Konsequenzen: So wurde mit dieser Vorstellung der Schwangerschaftsabbruch in jedem Stadium zum Mord an einem beseelten Menschen.
Andreas Lob-Hüdepohl: "Weil vom ersten Tag der Empfängnis alle Formen sowohl der Kontrazeption abzulehnen war, die verhinderten, dass die befruchtete Eizelle sich einnisten kann, das wurde abgelehnt, und auch in folgenden Jahrzehnten, insbesondere in letzten vier Jahrzehnten, alle Formen der künstlichen Befruchtung, die in Gefahr stehen, dass dabei Embryonen zerstört werden. Das ist der Kern der Forderung: Alles, was Embryonen verbraucht, ist verboten."
Der katholische Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl befasst sich als Mitglied des Nationalen Ethikrates viel mit Fragen der Bioethik:
"Gibt es gute Gründe, die Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle als den Beginn menschlichen Lebens zu bezeichnen oder überzeugen die Gründe nicht? Mit Verlaub: Nicht nur das katholische Lehramt hat diese Feststellung getroffen, sondern das ist die gültige Grundlage des bundesdeutschen Embryonenschutzgesetzes."
Aber auch die Vorstellung der allmählichen Beseelung des im Mutterleib heranwachsenden Wesens lebt weiter. Wenn auch nicht mehr mit der bei heutigem Kenntnisstand nur noch als hanebüchen zu bezeichnenden Begründung durch Aristoteles oder Thomas von Aquin. Aber die Fristenlösung, mit der zum Beispiel in der Bundesrepublik ein Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche nicht strafrechtlich verfolgt wird, geht von genau dieser Vorstellung aus: dass es nämlich unterschiedliche Schutzstufen für das Leben gibt, das in der Gebärmutter heranwächst.