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Der Weg in den Ersten Weltkrieg
Das Osmanische Reich: Zerreißprobe am Bosporus

Am 2. August 1914 wurde der Deutsch-Türkische Bündnisvertrag unterzeichnet. Das Geheimabkommen sah einen Kriegseintritt an der Seite Deutschlands für den Fall von Feindseligkeiten mit dem Erzfeind Russland vor. Es gab jedoch Kritiker eines Krieges an der Seite des Kaisers. Die finanzielle Lage der Türkei war hoffnungslos, der Zustand von Heer und Flotte erbärmlich.

Von Klaus Kreiser | 31.12.2013
    Undatiertes Archivbild des Hafens von Konstantinopel während des 1. Weltkriegs
    Undatiertes Archivbild des Hafens von Konstantinopel während des 1. Weltkriegs (dpa)
    Alle modernen Konflikte Südosteuropas und des Nahen Ostens haben osmanische Wurzeln, auch wenn die osmanischen Fronten meist nur in den Fußnoten der Geschichtsschreibung des Ersten Weltkriegs auftauchen.
    Bei Ausbruch des Großen Kriegs befand sich das Osmanische Reich in einem Zustand der Schwäche: zurückgeworfen auf seine asiatischen Territorien und das europäische Vorland von Istanbul - nach erfolglosen Verteidigungskriegen gegen Italien in Bengasi und in der Kyrenaika 1911 in Nordafrika sowie gegen die Balkanstaaten ein Jahr später.
    Türkische Politiker und Militärs und ein großer Teil der Presse hatten indes die Hoffnung auf eine Rückgewinnung Makedoniens, des Kosovo und Thessaliens nicht aufgegeben. Aus ihrer Perspektive waren diese Provinzen untrennbare Glieder eines größeren Vaterlandes vom Persischen Golf bis zur Adria. Realisten ahnten freilich, dass es für den geschwächten Staat keine Alternative zum Rückzug ins Kernland Anatolien gab, in dem viele die eigentliche Heimat der Türken erkannten.
    In der Istanbuler Regierung unter dem moderaten Großwesir Said Halim Pascha saß als "Falke" Kriegsminister Enver, der auf die deutsche Karte in einem bevorstehenden Waffengang setzte - und damit auf einen vertrauten Partner. Der Chef der osmanischen "Obersten Heeresleitung" war damals ebenso ein deutscher Offizier wie die Chefs der Generalstäbe der meisten osmanischen Armeen und zahllose Instrukteure. Deutsche Interessen gelangten so später auch in den Kriegsplan der Türken, den der preußische General Bronsart von Schellendorf als ranghöchster deutscher Soldat in osmanischen Diensten gemeinsam mit Kriegsminister Enver ausgearbeitet hatte.
    Deutsch-Türkischer Bündnisvertrag unterzeichnet
    Nach Jahrzehnten immer enger werdender wirtschaftlicher und militärischer Beziehungen unterzeichneten die Türkei und das wilhelminische Deutschland am 2. August 1914 den Deutsch-Türkischen Bündnisvertrag – gegen Bedenken im osmanischen Kabinett, in dem auch Fürsprecher einer stärkeren Bindung an Frankreich vertreten waren. Das Geheimabkommen mit Berlin sah einen Kriegseintritt an der Seite Deutschlands für den Fall von Feindseligkeiten mit dem Erzfeind Russland vor.
    Die Kritiker des Bündnisses mit Deutschland waren gegen einen Krieg an der Seite des Kaisers. Die finanzielle Lage der Türkei war hoffnungslos, der Zustand von Heer und Flotte erbärmlich und die Loyalität großer Teile der Bevölkerung, allen voran der Griechen, am Nullpunkt.
    Einen Tag nach Unterzeichnung des Abkommens mit Berlin erklärte Istanbul öffentlich den Zustand "bewaffneter Neutralität". England reagierte mit der Nichtauslieferung von zwei Kriegsschiffen, die auf britischen Werften gebaut und mit osmanischem Geld bezahlt worden waren. Deutschland antwortete mit der Entsendung zweier schon länger im Mittelmeer stationierter Kreuzer. Während die britische und französische Marine die deutschen Schiffe in der Straße von Gibraltar erwarteten, erlaubte ihnen die Türkei Anfang August die Einfahrt in die Dardanellen.
    Aber noch hielt Istanbul still. Zunächst verlangte die Türkei von Deutschland massive Unterstützung der eigenen Kriegsvorbereitungen. Ende August überreichte der türkische Botschafter in Berlin eine Liste mit kriegsnotwendigen Gütern: 100.000 kg Schuhsohlen, 200.000 tragbare Zelte, 150.000 Aluminiumflaschen, 500.000 kg Fleisch, ebenso viele Gemüsekonserven und 100.000 Hufeisen verschiedener Größe mit Nägeln. Deutschland war bereit, alles zu liefern – mit Ausnahme der Schuhsohlen.
    Auch die Alliierten bemühten sich weiter um den osmanischen Staat, der die strategisch wichtigen Meerengen des Bosporus und der Dardanellen kontrollierte und an den von den Briten bewachten Suezkanal stieß. Zugleich erhöhte sich der Druck aus Berlin. Mitte September erreichten den zögerlichen deutschen Botschafter und den Kommandanten der deutschen Kriegsschiffe Instruktionen Wilhelms II.: Die osmanische Flotte müsse endlich "energische Aktionen im Schwarzen Meer" unternehmen. Es dauerte aber dann noch mehrere Wochen, bis die inzwischen unter türkischer Flagge fahrende Flotte am 29. Oktober die russischen Häfen Odessa und Sewastopol beschoss und damit dem deutschen Drängen nachkam.
    Nach den Angriffen der Marine auf die russischen Häfen sollten die Truppen des Zaren im Kaukasus festgehalten und die Briten am Suezkanal angegriffen werden. Man hoffte, dass Aufstände in der gesamten islamischen Welt das Britische Empire in Indien und die französische Kolonialmacht in Afrika schwächen würden.
    Istanbul war keinesfalls schlafwandlerisch in den Krieg getaumelt, sondern hatte illusionslos zwischen zwei Übeln gewählt. Das größere Risiko war eine Niederlage gegen Russland und seine Verbündeten. Mit ihr drohte der Verlust der Hauptstadt, des Sitzes von Sultanat und Kalifat. Der englische König hatte ja dem russischen Botschafter, zuletzt vertraulich und nicht ganz aufrichtig versprochen: "Was aber Konstantinopel angeht, es gehört selbstverständlich Ihnen." Das Bündnis mit Deutschland und Österreich-Ungarn versprach hingegen militärstrategisches Know-how, Stellung von Truppen, Lieferungen von Waffen und Material sowie eine langfristige, über das Kriegsende hinausreichende "Entwicklungshilfe": von der Reform des Grundschulwesens bis zu Staudammprojekten in Anatolien.
    Geht immer mit fester Entschlossenheit in diesen Krieg, den wir gegen die Feinde unseres Glaubens und unsres teuren Vaterlandes führen. Wie Löwen greift den Feind an! Das Leben und das Bestehen von 300 Millionen Muslimen, die Ich zum heiligen Kriege aufgerufen habe, und jenes unsres eigenen Landes, hängen von Euerm Siege ab. 300 Millionen unschuldiger und bedrückter Muslime beten für Euch und wünschen Euch vollen Erfolg!
    - Sultan Mehmed V. zu seinen Soldaten am 13. November 1914.
    Aufstieg und Niedergang des Hauses Osman
    Unmittelbar nach der Kriegserklärung drohte die von Winston Churchill ausgearbeitete Besetzung Istanbuls durch die englische Flotte. Den Türken gelang es mit deutscher Unterstützung, die alliierten Landungstruppen an den Dardanellen nach verlustreichen Schlachten zurückzuweisen. Die Kämpfe ihrer Dritten Armee im Südkaukasus gegen Russland endeten hingegen schon Anfang 1915 mit einer katastrophalen Niederlage. Nach dem Fall von Bagdad an die Engländer im Frühjahr 1917 war klar, dass der Große Krieg das Ende des Osmanischen Reiches besiegelte. Enver hatte die militärische Stärke seiner Heere ebenso überschätzt wie das Gewicht der deutschen Militärhilfe. Die stärksten Gegner der Osmanen waren die Winterkälte im Kaukasus und die im Heer wütenden Krankheiten - Ruhr und Typhus, Cholera, Fleckfieber und Pest. Ganze Regimenter desertierten.
    Der Krieg gegen Russland bot der osmanischen Führung den willkommenen Vorwand zur Vertreibung und Vernichtung großer Teile der armenischen Bevölkerung. Sie beschuldigte die Armenier als "Verräter und Verschwörer" der Zusammenarbeit mit Russland und ordnete ihre Deportation in die syrische Wüste an. Dahinter stand der Plan einer ethnischen Umgestaltung Kleinasiens zugunsten der Türken. Viele Hunderttausend Armenier und andere Christen kamen zu Tode. Sie starben durch Massaker, Krankheiten und Hunger.
    Begonnen hatte die 600-jährige Geschichte der osmanischen Dynastie unter dem turkmenischen Stammvater Osman Bey. Die Expansion in Südosteuropa unter Osmans Nachfahren war das natürliche Ergebnis eines dynamischen Staates, der sich dorthin ausdehnte, wo sich eine Gelegenheit zur Machterweiterung darbot. Zu den osmanischen Werkzeugen zählten die klassischen imperialen Instrumente wie Heiratspolitik, Allianzen, tributäre Unterwerfung und Krieg. Sultane verbanden sich mit christlichen Prinzessinnen und den Töchtern anatolischer Emire; Bündnisse wurden mit anatolischen Fürsten wie orthodoxen balkanischen Despoten geschlossen.
    Ein buntes Gemisch von Völkersplittern, die von zahlreichen Eroberungszügen her in Vorderasien zurückgeblieben waren, wurde durch das Schwert des Islam erst zu einer einigermaßen homogenen Masse zusammengeschweißt.
    - Freiherr von der Goltz, Generalfeldmarschall, 1913.
    Wer waren die Osmanen?
    Im Abendland sprach man schon lange vor dem Auftreten der Osmanen von der "Türkei", wenn von dem seit dem späten 11. Jahrhundert zügig turkifizierten und islamisierten Anatolien die Rede war. Der Begriff "Osmane" bezog sich allein auf das Herrscherhaus und erweiterte sich erst allmählich auf die Angehörigen der muslimischen Elite. Diese auch steuerlich privilegierte Oberschicht aus Militärs, Verwaltern und Religionsmännern war aber keine geschlossene Kaste. Wie in anderen Imperien war die Oberschicht ethnisch sehr heterogen. Sie veränderte und erweiterte sich ohne Unterlass durch Übertritte zum Islam. Im Sprachgebrauch des Westens wurden "Osmane" und "Türke" zu Synonymen. Die Reformen des 19. Jahrhunderts stellten zwar die Angehörigen aller Bevölkerungsgruppen vor dem Gesetz gleich: Muslime, Christen und Juden, Alteingesessene und Zuwanderer. Aber erst kurz vor dem Untergang von Staat und Dynastie wurde Osmane im offiziellen Sprachgebrauch gleichgesetzt mit allen Staatsangehörigen: vom arabischen Stammeschef am jemenitischen Südpol des Reiches bis zum bosnischen Handwerker auf dem Basar von Sarajevo, vom armenischen Buchdrucker in Istanbul bis zum griechischen Ladenbesitzer in Saloniki.
    Das Osmanische Reich stützte sich in den ersten Jahrhunderten auf zwei militärische Säulen: das stehende Heer und eine Lehensreiterei. Das stehende Heer, die Janitscharen, wurde aus dem Staatshaushalt besoldet. Die Lehensreiterei bestand aus Männern, die für ihre Dienste mit einem Stück Land, in der Regel einem Dorf, belohnt wurden. Das türkische Heer war im Gegensatz zu den Landsknechtsregimentern des Westens disziplinierter, besser ernährt und gekleidet und in soliden Zelten vor Regen und Sturm geschützt. Im 19. Jahrhundert gelang die Modernisierung der Truppe, aus deren Führung bis in die unmittelbare Gegenwart die wichtigsten Reformkräfte der Türkei stammten.
    Als Muslime sunnitischer Prägung wollten die Osmanen die religiöse und politische Ordnung nicht voneinander trennen. Über die Jahrhunderte lassen sich gleichsam Wellen von zunehmender und abflauender Sunnitisierung von Staat und Gesellschaft beobachten. Eine Dynamik, die noch heute die politische Landschaft im Nahen Osten bestimmt.
    Man musste sich empören gegen die osmanische Regierung, gegen den osmanischen Herrscher, gegen den Kalifen aller Muslime, und die ganze Nation und die ganze Armee zur Empörung aufrufen.
    - Mustafa Kemal (Atatürk) - Rede vor der türkischen Nationalversammlung im Oktober 1927.
    Was bleibt von der osmanischen Welt?
    Halten wir fest: Der osmanische Staat wurde nicht vor 700 Jahren oder mehr gegründet. Seine Keimzelle war ein kleines Stammesfürstentum im Nordwesten Anatoliens mit ungewissen.
    Überlebenschancen. Erst durch die Eroberung muslimischer und christlicher Territorien im 15. und 16. Jahrhundert stieg das Sultanat zu einer Großmacht auf. Dieses "Imperium", das sich nie so nannte, erzielte seine größte territoriale Ausdehnung erst im späten 17. Jahrhundert, es verlor im 18. Jahrhundert die Kontrolle über viele Landesteile, konnte aber durch militärisches und administratives Geschick im 19. Jahrhundert wieder den direkten Zugriff auf die Peripherie stärken.
    Dieser späte osmanische Staat war trotz seiner Präsenz auf drei Kontinenten weder ein Kolonialreich noch ein Commonwealth. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass arabische und südosteuropäische Nationalisten das osmanische System schon vor seinem Zusammenbruch als kolonieähnlich betrachteten. Es gab zwar von Anfang an Gebiete, über die – ähnlich wie im Britischen Empire - Istanbul nur eine lockere Oberaufsicht ausübte. Das Staatsziel des späten Osmanischen Reichs aber blieb die Schaffung gleicher oder zumindest ähnlicher Lebensbedingungen in allen seinen Teilen.
    Aber was hatte das "Reich" von 1914 noch gemeinsam mit dem Staat Süleymans oder Mehmeds IV., die mit ihren Truppen bis vor Wien gekommen waren?
    1914 waren alle europäischen Provinzen unter die Königreiche und Fürstentümer Südosteuropas aufgeteilt. Die Kriegsgegner, aber auch das verbündete Deutsche Reich, waren sich in einer Frage einig: Die zukünftige Türkei sollte sich auf ein "asiatisches Osmanien" - Anatolien, Kurdistan und Mesopotamien - zurückziehen.
    Nach dem Ende des Weltkriegs konnte sich der türkische Nationalstaat auf eine loyale, gebildete Elite stützen, die sich nahtlos in die neuen Verhältnisse einfügte. Die Söhne osmanischer Kadis wurden republikanische Richter. Offiziere, die vor dem Weltkrieg Aufständische im Jemen oder in Albanien bekämpft hatten, dienten als Generäle der Armeen Atatürks. Die Trennung vom osmanischen Erbe war durchaus nicht radikal. Beibehalten wurde die staatliche Kontrolle der islamischen Institutionen. Den stärksten Bruch mit der osmanischen Vergangenheit bildeten die Abschaffung der arabischen Schrift und die Einführung einer europäischen Rechtsordnung.
    Die 1923 von Mustafa Kemal ausgerufene Republik Türkei ist das einzige Land, das sich zu dem osmanischen Erbe bekennt - unter den fast 30 modernen Staaten von der Slowakei bis Algerien, die ganz oder teilweise zum Osmanischen Reich gehört hatten. Die Türkei ist – bei allen Brüchen – unzweifelhaft Nachfolgerin nicht nur im rechtlichen und kulturellen Sinn, sondern vor allem auch Schmelztiegel der unterschiedlichsten muslimischen Bevölkerungsteile.
    Durch Flucht und Vertreibung von Muslimen, vor allem aus Südosteuropa und den Kaukasusländern, war in Anatolien und Ost-Thrakien ein Bevölkerungsmosaik entstanden. Es ist noch heute auf der Ebene von Dörfern und Stadtvierteln, vor allem aber in den Erinnerungen der Familien sichtbar. Mehr als 30 Prozent der heutigen türkischen Bevölkerung haben Vorfahren, die von außerhalb der heutigen Staatsgrenzen kommen.
    Die Söhne und Töchter der 1924 exilierten Dynastie beschäftigen heute allenfalls die Regenbogenpresse. Niemand denkt daran, eines der Schlösser am Bosporus für ein Mitglied des Hauses Osman zu räumen oder gar einen Nachkommen als Kalifen oder Sultan auszurufen. Seit der Wahl Recep Tayyip Erdoǧans zum Ministerpräsidenten werden die osmanischen Jahrhunderte von offizieller Seite jedoch stärker als je zuvor idealisiert: als eine von Sicherheit und Toleranz geprägte Epoche. Eine zunehmend kritische, akademische und publizistische Minderheit sorgt aber dafür, dass auch die weniger glanzvollen Seiten dieser Jahrhunderte aufgeschlagen werden.