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Der Weg in den Ersten Weltkrieg
Die USA und der Aufstieg zur Weltmacht

Der Eintritt in den Ersten Weltkrieg bedeutete für die USA eine entscheidende Wende. Bis Ende des 19. Jahrhunderts außenpolitisch weitgehend ambitionslos, prägte besonders Präsident Woodrow Wilson ab 1913 die Idee einer neuen Weltordnung.

Von Christian Hacke |
    Der Erste Weltkrieg wurde zum Ausgangspunkt für das Jahrhundert, das man als das"amerikanische" bezeichnet, doch die Ursachen für Amerikas Aufstieg zur Weltmacht reichen bis weit in das 19. Jahrhundert zurück. Es war der amerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1866 als der spektakulärste Fall gescheiterter Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert, der das erfolgreichste nation-building der Moderne auslöste.
    Die Ursachen des Krieges waren völlig andere als die in Europa - keine Sklavenrevolte, kein Bauernaufstand oder Arbeiterprotest, keine Befreiung von monarchischer Herrschaft. Es ging vielmehr um Freiheit: Der Norden kämpfte um Freiheit für die Sklaven, der Süden um die Freiheit, Sklaven weiter halten zu dürfen. Der Bürgerkrieg war also Folge unvollendeter Verfassungsmaximen. Die martialische Konfrontation resultierte aus auseinanderdriftenden regionalen Interessen und kulturellen Unterschieden. Politisch betrachtet stellte der amerikanische Bürgerkrieg die Einheit der Nation wieder her. Allerdings eröffnete der Krieg auch neue Dimensionen moderner Militärstrategie, die dann im Aufmarsch der Massenheere und der blutigen Stellungskriege im Ersten Weltkrieg voll zum Tragen kamen.
    Bis 1898 außenpolitisch ambitionslos
    Epochengeschichtlich gesehen, eröffnete er die Zeit des Aufstiegs der USA zur führenden Wirtschaftsmacht. Im Inneren mussten die Amerikaner allerdings mehrere Modernisierungsprozesse gleichzeitig bewältigen: den gesellschaftspolitischen Anschluss der Südstaaten, die Integration von gewaltigen Immigrationswellen und die territoriale Ausdehnung nach Westen. Sie alle absorbierten so viel Kraft, dass expansionistische Vorstellungen über den Kontinent hinaus, wie sie etwa Außenminister William Seward vertrat, am Isolationismus des amerikanischen Kongresses scheiterten.
    Die Folge war eine beispiellose Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Macht und außenpolitischem Desinteresse. Somit blieben die USA bis 1898 ein schwacher und außenpolitisch ambitionsloser Staat. Doch wich das isolationistische Selbstverständnis zusehends einem imperialistischen Zeitgeist, der auch die USA erfasste.
    Die Befreiung Kubas und der Philippinen im Krieg gegen Spanien 1898 befeuerte den antikolonialen Expansionismus der Amerikaner. Scheinbar über Nacht schufen sich die USA durch diesen"wunderbaren kleinen Krieg" plötzlich selbst ein informelles Imperium. Die schnelle Aneignung von Alaska, Kuba, Puerto Rico, der Wake- und Midway Inseln, Hawaii, Samoa, Guam und der Philippinen führte zu einer intensiven Auseinandersetzung zwischen Imperialisten und Anti-Imperialisten in den USA. Das Ergebnis war die Open-Door-Politik, die weder klassisch-kolonialistisch noch strikt antiimperialistisch war. Aber beide Lager begrüßten neue überseeische Märkte zur Sicherung der wirtschaftlichen Prosperität Amerikas.
    Welche Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Politik der territorialen Expansion auch bestehen mögen, alle Amerikaner stimmen darin überein, dass eine kommerzielle Expansion wünschenswert ist. Sie ist notwendig, um neue und größere Märkte für unsere Produkte zu finden. Ohne sie können wir nicht unsere industrielle Prosperität aufrechterhalten.
    - US-Außenminister John W. Foster, 1900
    Wachsende Rivalitäten zwischen den europäischen Mächten
    Die Beziehungen zwischen den USA und den europäischen Großmächten sind im strikt bilateralen Sinne bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs von geringer Bedeutung. Distanz ist das Schlüsselwort. Das Bild verändert sich jedoch völlig, wenn man den weltpolitischen Wettbewerb zwischen den USA und den aufsteigenden europäischen und asiatischen Großmächten ins Visier nimmt. Der wirtschaftliche Aufstieg und die Politik der"Offenen Tür" verstärkten diese Rivalitäten.
    Der neue Aufsteiger auf der internationalen Bühne forderte die etablierten Kolonialmächte heraus. Die USA konnten auf der internationalen Kongokonferenz in Berlin 1884/85 zwar den europäischen Mächten ihre Besitzstände in Afrika nicht streitig machen, aber sie distanzierten sich von deren Kolonialismus. Auf der Konferenz von Algeciras 1905/06 in Marokko gelang es dann Washington erstmals, die imperialistischen Rivalitäten in Nordwestafrika zum eigenen Vorteil zu nutzen. In Mittel- und Lateinamerika setzten sich die USA noch energischer gegenüber den europäischen Kolonialmächten durch. Dort eigneten sich die USA ab 1900 das Erbe des britischen Weltreiches an, nachdem sie schon vorher die spanische Herrschaft in der Karibik gebrochen hatten.
    Als dann amerikanische Wirtschaftsinteressen mit denen der europäischen Großmächte kollidierten, trumpfte Präsident Theodor Roosevelt mit dem später so genannten"Zusatz zur Monroe-Doktrin" auf. Darin hieß es,"die USA könnten nun auch gezwungen sein, eine internationale Streitmacht in der Karibik zu stellen". Die europäischen Mächte hatten der Diplomatie der USA nichts entgegenzusetzen und sie schienen zu sehr mit ihren innereuropäischen Rivalitäten beschäftigt.
    Außenpolitik mit missionarischen Zügen
    Wenn Präsident Roosevelt bei Streitigkeiten asiatischer und europäischer Großmächte vermittelte, wie 1905 und 1906, dann wollte er vor allem das neue Imperium der USA schützen. Theodore Roosevelt betrachtete dabei die autokratischen Monarchien Deutschland und Japan als die gefährlichsten weltpolitischen Rivalen. Die Demokratien England und Frankreich hingegen nahm er lediglich als wirtschaftliche Konkurrenten wahr.
    Diese neue machtpolitische Aufmerksamkeit der USA kam besonders in China zum Tragen. Dort achteten sie penibel auf die Sicherung der eigenen Handelsinteressen gegenüber den Europäern und Japan. Zusätzlich hatten schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts amerikanische Missionare in Asien und in China Einfluss gesucht.
    Zudem entwickelte die US-amerikanische Außenpolitik zusehends missionarische Züge: Amerika sei von Gott auserwählt, die Welt zu verändern. Eine bislang unbekannte Konvergenz von wirtschaftlich, politisch und religiös begründeter Machtausdehnung intensivierte Washingtons Forderung nach gleichberechtigtem Zugang zu den Märkten. Die Politik der"Offenen Tür" vereinte zu Hause jetzt Imperialisten und Anti-Imperialisten.
    Folglich expandierten die USA von 1899 bis 1914 nicht aus einem Gefühl der Bedrohung, sondern aus wachsendem Eigeninteresse, das gern in altruistischer Rhetorik verschleiert wurde: Theodore Roosevelt sei der erste amerikanische Präsident gewesen, der das Land nachdrücklich auf die Pflicht hinwies, seinen Einfluss weltweit geltend zu machen, urteilte rückblickend Henry Kissinger.
    Da der Handel sich über nationale Grenzen hinwegsetzt und der Unternehmer die Welt als seinen Markt beansprucht, muss die Flagge seiner Nation ihm folgen, und die verschlossenen Tore der Nationen müssen aufgesprengt werden.
    - Präsident Woodrow Wilson, 1907
    Der amerikanische Weg in den Krieg
    Woodrow Wilsons Kindheitserfahrungen im Bürgerkrieg beförderten eine starke Friedenssehnsucht. Entsprechend idealistisch umriss der Präsident bei Amtsantritt 1913 seine außenpolitischen Prinzipien: Nicht Gleichgewicht, sondern Völkerrecht, nicht nationale Selbstbehauptung, sondern Vertrauenswürdigkeit, nicht Gewaltanwendung, sondern Schlichtungsverträge sollten die Grundlagen einer zukünftigen internationalen Ordnung bilden. Sein ausgeprägter Antikolonialismus - von tiefem Glauben und Gerechtigkeitssinn durchdrungen - hielt ihn aber nicht von entschlossenem außenpolitischen Interventionismus ab, wie seine Mittelamerika- und Asienpolitik zeigte. Zu Europa bewahrte er dagegen Distanz. Kein amerikanischer Präsident wollte in europäische Händel hineingezogen werden.
    Kein Wunder, dass Amerika vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges völlig überrascht wurde. Konsequenterweise setzte Wilson zunächst alles daran, die USA vom Kriegsgeschehen in Europa fernzuhalten. Nicht zuletzt diese entschiedene Haltung trug 1916 zu seinem Wahlsieg bei. Den uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Kaiserreichs beantwortete er lediglich mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen. Erst nachdem deutsche U-Boote drei amerikanische Schiffe versenkt hatten, sah sich Amerika gezwungen, Deutschland den Krieg zu erklären. Die engen wirtschaftlichen Bindungen an die Alliierten beförderten Wilsons Vorbehalte gegenüber dem deutschen U-Boot-Krieg, den er aus moralisch-humanitären Gründen verurteilte. Die britische Blockadepolitik hingegen lehnte er lediglich aus rechtlichen Gründen ab.
    Widersprüchliche Wirkungen des Krieges
    Doch so distanziert Wilson bis 1917 dem europäischen Krieg gegenüberstand, so entschlossen sorgte er dann durch den massiven Einsatz von Millionen amerikanischer Soldaten 1918 für den Sieg der Alliierten - 100.000 Amerikaner ließen dafür ihr Leben. Allerdings hatte der Krieg auch weitere fatale Folgen. Die Einwanderungsbestimmungen hatten verschärft werden müssen, denn, so diagnostizierte der einflussreiche Publizist H.L. Mencken,"die Masseneinwanderung aus Europa hat aus den USA ein Commonwealth drittklassiger Menschen gemacht." Kein Wunder, dass nach 1919 in den USA Antisemitismus, Antikatholizismus und Fremdenfeindlichkeit um sich griffen.
    US-Soldaten während des Ersten Weltkriegs 1918 in Chateau-Thierry, Frankreich
    US-Soldaten in Chateau-Thierry, Frankreich, 1918 (dpa/picture alliance/Landov 4985222)
    Der Krieg hatte auf Amerika eine widersprüchliche Wirkung: Wirtschaftlich hatte er das Land gestärkt, die USA wurden vom Hauptschuldner zum Hauptgläubiger der Weltwirtschaft. Andererseits hatte er das alte isolationistische Selbstverständnis wieder belebt.
    Wilson hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt, sein Denken ist theologisch, seine Vorstellungen nebulös, sein Intellekt zu träge und sein Informationsstand über europäische Verhältnisse unzureichend.
    - John Maynard Keynes, britischer Ökonom und Politiker
    Woodrow Wilson und die Idee einer neuen Weltordnung
    Seine Kriegsziele hatte Wilson in den berühmten 14 Punkten vom Januar 1918 umrissen:"Die Welt für den Frieden zu sichern" mittels eines"Friedens ohne Sieg". Frieden sollte durch den Rückzug der Kriegsparteien aus den besetzten Gebieten, durch das nationale Selbstbestimmungsrecht und durch Beendigung der Kolonialregime erreicht werden. Freiheit der Meere, Abrüstung, das Verbot von Geheimabkommen und eine Organisation für kollektive Sicherheit, der Völkerbund, sollten diese neuen Errungenschaften sichern.
    Der Völkerbund sollte mithilfe amerikanischer Macht für eine Weltordnung sorgen, in der freiheitlicher Wettbewerb unter friedlichen Bedingungen garantiert werden sollte. Zuerst hatten die Amerikaner ihrem Präsidenten noch begeistert zugejubelt, doch Wilsons noble Ziele kollidierten bald mit denen der europäischen Alliierten. Insbesondere Frankreich, England und Italien konnten in den Waffenstillstandsabkommen im November 1918 und schließlich in Versailles ihre eigenen Ziele im Wesentlichen durchsetzen: Frankreich besetzte Elsass-Lothringen, die Saar und die linksrheinischen Gebiete, deutsche Reparationen wurden auf astronomische Summen festgelegt, Polen und die Tschechoslowakei erhielten Landstriche mit mehrheitlich deutscher Bevölkerung. Deutschland wurde als Alleinschuldiger des Krieges stigmatisiert, deutsche Kolonialgebiete wurden den Siegermächten zugeschlagen, deren Kolonialreiche ihrerseits jedoch erhalten blieben.
    Dies stand zwar im offenen Widerspruch zu Wilsons Zielen, England und Frankreich waren aber, wenn auch durch den Krieg geschwächt, immer noch diplomatisch stark genug, um Wilsons Streben nach einer europäischen Friedensordnung und nach Auflösung der Kolonialreiche schlechterdings zu ignorieren.
    Belastung für Nachkriegsordnung
    Kein fairer Ausgleich der Interessen, sondern die Machtinteressen der Sieger hatten in Versailles obsiegt. Damit war Wilsons Kreuzzug für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit am aggressiven Realismus der europäischen Siegermächte gescheitert.
    Vielmehr hatte Wilsons Diplomatie in Versailles einen unheilvollen Zwitter-Frieden hervorgebracht: zu hart aus der Sicht der Besiegten, zu nachgiebig aus der Sicht der Sieger. Lang anhaltender Revisionismus und Revanchismus zwischen den ehemaligen Kriegsparteien würden bald die Nachkriegsordnung auf das Äußerste belasten. Angesichts dieser Misere obsiegten in den USA enttäuschte Idealisten und skeptische Realisten, angeführt von den Republikanern unter Führung von Henry Cabot Lodge. Wilsons schärfster Kritiker wurde allerdings John Maynard Keynes.
    1920 lehnte der Kongress nach langen Auseinandersetzungen mit dem Präsidenten den Versailler Vertrag ab. Damit hatte Wilson seinen Kampf um eine neue Weltordnung auch an der Heimatfront verloren.
    Trotz dieses realpolitischen Misserfolgs sollte eines nicht in Vergessenheit geraten: Ungeachtet seines tagespolitischen Scheiterns ist Woodrow Wilsons Konzept einer liberalen Weltordnung, in der die USA die führende Rolle einnehmen, bis heute von zentraler Bedeutung geblieben. Er war der erste US-Präsident, der Amerikas Macht in den Dienst eines liberalen Weltfriedens gestellt hat. Seitdem unterlässt es keiner seiner Nachfolger, Wilsons Idealismus weiterhin als Legitimationsressource zu beschwören. Insbesondere Wilsons Überzeugung, dass ein Krieg nur dann legitim sei, wenn man ihn als Kreuzzug für Menschenrechte und freiheitliche Werte führt, hat die Außenpolitik der USA im 20. Jahrhundert dauerhaft revolutioniert.
    Liberale Weltordnung versus kommunistische Weltrevolution
    Wilsons Botschaft"the world must be made safe for democracy" formuliert seitdem universale Ansprüche. Diese sind von großer Anziehungskraft, zeitigen aber auch nicht selten fatale Folgen: Selbstüberschätzung, Vernachlässigung historischer Gegebenheiten und die Missachtung der Interessen anderer Völker begleiten seitdem die übereifrige Außenpolitik der amerikanischen Weltmacht.
    Als erfolgreiche ideelle Mobilisierung bewährte sich Wilsons Idee einer liberalen Weltordnung als Gegenentwurf zur kommunistischen Weltrevolution. Wilsons 14 Punkte entwickelten sich im Laufe der Jahrzehnte zu einem Epoche übergreifenden Werteensemble, das dem Westen als Selbstbehauptung gegenüber dem sowjetrussischen Expansionswillen diente. Man kann deshalb den Ursprung des Kalten Krieges auf 1917 datieren. Erstmals prallten damals die Vorstellungen von Lenin und Wilson kompromisslos aufeinander - die der kommunistischen Weltrevolution und die einer liberalen Weltordnung. Doch war dies lediglich ein ideengeschichtlicher Vorgeschmack auf die Konfrontation mit der Sowjetunion im Kalten Krieg.
    Fataler Selbstzerfleischungsprozess
    Zu Lebzeiten von Woodrow Wilson blieb der Traum einer liberalen Friedensordnung unerfüllt. Nichtsdestotrotz bleibt es sein Verdienst, die beiden großen westeuropäischen Demokratien im Ersten Weltkrieg vor der militärischen Niederlage bewahrt zu haben. Zwar spielten die USA ökonomisch und diplomatisch im Europa der Zwischenkriegszeit weiter eine Rolle, aber militärisch und politisch zogen sie sich zurück. Damit überließen sie Europa einem fatalen Selbstzerfleischungsprozess, der 1945 seinen Höhepunkt erreichte.
    Der Schrecken der Jahre nach 1919 hatte seinen Ursprung nicht Woodrow Wilsons gescheiterter Völkerbundidee, sondern in Europa selbst - im Revanchegedanken, im übersteigerten Nationalismus, in ökonomischen Krisen und in ideologischer Verblendung. Das ahnte wohl der französische Staatsmann George Clemenceau, als er Wilsons Nachfolger Herbert Hoover gegenüber erklärte:"Es wird noch zu Ihren Lebzeiten einen zweiten Weltkrieg geben, und man wird Sie wieder in Europa brauchen." Allerdings unterfütterten die USA erst nach 1945 ihre Europapolitik mit der notwendigen Dosis von machtpolitischem Realismus, der schon nach 1919 so dringlich gewesen wäre.