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Deutsche Mutter, Übermutter

Kinderbetreuung in öffentlichen Einrichtungen ist in Frankreich selbstverständlicher als in Deutschland. Diese Erfahrung hat die in Berlin lebende französische Journalistin Pascale Hugues gemacht. In Deutschland gebe es immer noch die Vorstellung, das allein die Erziehung durch die Mutter gut für das Kind sei.

Moderation: Friedbert Meurer | 17.01.2007
    Friedbert Meurer: Eine Nachricht von gestern: Die Geburtenrate in Frankreich ist um 50 Prozent größer als in Deutschland. Die Rate statistisch liegt hier bei 1,3 pro Frau, und in Frankreich sind es stolze 2,07 Kinder pro Frau. Davon können deutsche Familienpolitikerinnen und -politiker nur träumen. Eine, die beide Seiten gut kennt, ist Pascale Hugues, Deutschland-Korrespondentin des Magazins "Le Point" in Berlin. Sie ist Mutter von zwei Jungs im Alter von sieben und zehn Jahren. Guten Tag, Frau Hugues!

    Pascale Hugues: Guten Tag!

    Meurer: Warum bekommen französische Eltern so viel mehr Kinder als deutsche?

    Hugues: Ich glaube ganz pragmatisch, weil es für Frauen in Frankreich einfacher ist, einen Beruf auszuüben und Kinder zu kriegen. Sie haben Kindergartenplätze. Ab drei Jahre ist es Pflicht und frei, sie müssen nichts zahlen und das flächendeckend. Jeder kriegt einen Platz. Sie haben Krippen für die ganz Kleinen. Es gibt so eine ganz große Vernetzung von Kinderfrauen, die die Kinder auch zu Hause betreuen. Es gibt Geld, viel Geld. Wir kriegen vom Staat Geld für die Familien und, und das ist auch sehr wichtig und vielleicht mehr untergründig, es gibt nicht diesen Perfektionismus wie hier und auch nicht diese Geschichte, dass die Mutter das einzige Gute ist für das Kind. Es gibt eine Tradition in meiner Generation. Viele unserer Mütter haben gearbeitet. Meine Mutter hat gearbeitet, meine Großmutter hat gearbeitet und die waren beide sehr froh. Und es war selbstverständlich, dass ich auch arbeite.

    Meurer: Inwiefern sind deutsche Mütter und Väter perfektionistisch?

    Hugues: Dieses Rabenmutter-Syndrom in Deutschland, das hören Sie nicht. Es gibt keine Übersetzung für das Wort. Das hören Sie nicht in Frankreich. Die einzige, die gut ist für das Kind, ist die Mutter.

    Ich bin zum Beispiel Jahrgang '59, und ich bin auch in den Kindergarten gegangen, natürlich. Die Schule ging bis vier Uhr nachmittags. Man ist nach Hause gekommen mittags zum Essen. Jetzt gehen die Kinder in die Kantine. Das ist aber selbstverständlich seit mehreren Generationen. Meine deutschen Freunde waren alle zu Hause. Viele sind gar nicht in den Kindergarten gegangen. Die sind dann um eins nach Hause gekommen. Also es ist eine Tradition, und das hat lange Gründe in der Geschichte. In Frankreich die Kinder werden auch von staatlichen Institutionen betreut, und das ist gut so, das ist in Ordnung. In Deutschland wird das sehr, sehr kritisch gesehen. Das liegt auch an der Geschichte. Man gibt nicht die Kinder ab, dieser furchtbare Ausdruck "die Kinder abgeben".

    Meurer: In Frankreich haben die Frauen kein Problem damit, ihr Kind morgens, ich sage mal, um acht Uhr abzugeben und erst um fünf Uhr wieder abzuholen und das jeden Tag?

    Hugues: Die meisten nicht, nein. Da bin ich ein bisschen kritischer geworden. Nein, das ist so gang und gäbe. Das macht fast jeder, der arbeitet. Krippen und Kindergärten haben auf bis fünf, sechs Uhr abends.

    Meurer: Inwiefern sind Sie kritischer geworden?

    Hugues: Ja, weil ich Kinder habe und weil ich jetzt spüre, dass es zu lang ist mit diesen Riesengruppen und diesem Mangel an Entspannung. Das ist sehr, sehr lang für Kinder. Die haben richtige Arbeitstage wie die Eltern. Jeder muss sein Leben steuern, wie er möchte und wie er kann. Manche Frauen müssen arbeiten bis sechs Uhr abends; sonst verlieren sie ihren Job.

    Meurer: Wenn wir, Frau Hugues, in Deutschland Verhältnisse hätten wie in Frankreich, einen Ganztagsbetreuungsplatz garantiert ab drei für alle Kinder, die das in Anspruch nehmen wollten, hätten wir dann auch eine Geburtenquote von 2,07?

    Hugues: Sie haben in Frankreich keine Wahl. Sie müssen mit drei in den Kindergarten. Keiner darf sein Kind zu Hause behalten, bis es sieben und in die Grundschule kommt. Jeder ab drei ist verpflichtet. Man weiß: es ist so und keiner kriegt Schuldgefühle. Hier muss man sich überlegen, es wäre doch besser, wenn er noch ein Jahr zu Hause bliebe.

    Um Ihre Frage zu beantworten, ich bin mir nicht sicher. Erst mal wird es lange dauern. Man muss erst mal gucken, bis die Verhältnisse die gleichen sind, aber ich glaube durch die Geschichte, durch diesen Kult der Mutter auch in der Nazi-Vergangenheit und früher noch, das Petain-Regime hatte auch ein Ideal der Frau zu Hause, aber es war nicht so stark wie hier. Es fordert auch einen großen Mentalitätswechsel. In einer Großstadt wie Berlin sind wir sehr nah. Die Schulen haben fast alle Horte. Die Kinder fast all meiner Bekannten gehen mit eineinhalb Jahren in die Krippe, vielleicht nicht so lange wie in Frankreich. Ich weiß aber, dass es in Baden-Württemberg oder in Bayern ganz, ganz anders geht und dass die Frauen da sehr, sehr viel mehr geplagt sind von Schuldgefühlen, wenn sie ihre Kinder sozusagen "abgeben".

    Meurer: Es wird ja auch immer wieder gesagt, Frau Hugues, die Franzosen hätten gegenüber Kindern eine andere Mentalität als wir Deutschen. Sind die Franzosen kinderfreundlicher? Sind wir Deutschen nicht kinderfreundlich?

    Hugues: Nein. Das ist der deutsche Komplex und der deutsche Selbsthass. Nein, ich finde die Deutschen sogar kinderfreundlicher. Die sind erst mal extrempsychologisch. Ich merke das, meine Kinder sind in einer deutschen Schule, wie man reagiert bei sozialen Konflikten ,oder wenn die Kinder ein Problem haben. Sie sind sehr, sehr kindernah und sehr empathisch, was Kinder angeht. Das ist eine Legende, dass die Deutschen nicht kinderfreundlich sind. Ich glaube, die sind es genauso. Es ist anders. Die Kinder gehen vielleicht früher ins Bett als die Franzosen oder die Italiener und laufen nicht herum im Restaurant bis zehn Uhr abends.

    Meurer: Also wir sind strenger?

    Hugues: Nein, nicht strenger. Nein, überhaupt nicht. Das glaube ich auch nicht. Nein, aber der Rahmen und die Grenzen sind vielleicht klarer oder anders. Ich würde jetzt sagen, es ist einfacher und schöner für ein Kind, in Deutschland aufzuwachsen, als dieses ganz rigide System in Frankreich, wo auch die Leistung , das muss man auch sehen; es sind nicht nur die langen Stunden, in den Kindergärten und Schulen extrem sind. Dagegen ist die deutsche Schule ein Paradies. Es ist sehr, sehr streng, sofort Zensuren ab der ersten Klasse. Da gibt es überhaupt keine Diskussion. Sofort sehr viele Schularbeiten. Manchen Kindern bekommt das gut, aber wenn die Kinder ein bisschen verträumt oder kindlich oder schwierig oder schüchtern sind, ist das ziemlich hart.

    Meurer: Also wenigstens doch eine gute Nachricht, die wir aus Ihrem Munde hören. Das war Pascale Hugues, die Deutschland-Korrespondentin des Magazins "Le Point" zum Umstand, dass in Frankreich die Geburtenrate jetzt bei 2,07 pro Frau liegt. Danke Frau Hugues und auf Wiederhören.

    Hugues: Danke.