Archiv

Deutsche Teilung
Der Tränenpalast von Berlin-Friedrichstraße

Ein Symbol der deutschen Teilung war der Grenzbahnhof Berlin-Friedrichstraße. Denn hier konnten Westler in den Osten Berlins reisen. Und es gab einen hermetisch abgeriegelten Ost-S-Bahnhof. Ein Blick zurück.

Von Joachim Dresdner |
    Der dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße vorgelagerte sogenannte Tränenpalast
    Der dem Bahnhof Berlin-Friedrichstraße vorgelagerte sogenannte Tränenpalast (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Bahnhof Friedrichstraße, Berlin-Mitte. Züge aus Dessau, Nauen, Senftenberg halten, vier Regionalbahn-, sechs S-Bahn-Linien aus Teltow, Potsdam, Bernau oder Spandau. Eine U-Bahn-, eine Bus-, zwei Straßenbahnlinien.
    Auf dem Stadtbahnviadukt führen die Gleise der Fernbahnen durch die größere der beiden Bahnhofshallen, in der kleineren halten die S-Bahnen.
    Das war beim Fall der Mauer in Berlin anders. Damals war in der größeren Halle Grenze, war fast schon Westen. In der kleinen drängten sich die Ostberliner auf ihrem Weg zur Arbeit oder in die Theater.
    Über 28 Jahre ein geteilter Bahnhof. DDR-Staatsgrenze. Grenze zwischen Ost- und Westberlin. Über 28 Jahre endeten S-Bahnzüge und fuhren zurück. Der Viermächtestatus bestimmte, dass auch in Westberlin Betrieb und Anlagen der S-Bahn der DDR-Reichsbahnverwaltung unterstehen. Erst am Bahnhof begriffen viele Menschen, was die bevorstehende Trennung von ihren Angehörigen bedeuten würde. Ein Bahnhof der Tränen, vom 13. August 1961 bis zum Fall der Berliner Mauer am 09. November 1989. Der Rentner, der S-Bahner, der Historiker und die Kanzlerin erinnern sich:
    Dagobert Renner: "Da war ich '54 das erste Mal wieder in Berlin, bei meiner Tante in Köpenick. Und da konnte man noch glatt durchfahren, da kam immer nur die Lautsprecheransage, hier beginnt der demokratische Sektor von Berlin. Der demokratische Sektor! Das war ja der größte Hohn!"
    Dieter Reetz: "Der Chef hier, der hat das mal hier als die größte Grenzübergangsstelle der Welt bezeichnet, weil wir ja einmal jeden Morgen Hunderte, wenn nicht Tausende von Rentnern durch diesen Palast der Tränen nach Westberlin fahren haben sehen." Angela Merkel: "Ich persönlich war hier oft mit meinen Eltern und wir haben meine Großmutter Jahr für Jahr verabschiedet, die dann auch immer älter wurde. Und man Angst hatte: Siehst Du sie wieder?" Dagobert Renner: "Naja, man hat die manchmal sogar gesehen, die Leute, die Tränen in den Augen hatten, bei der Verabschiedung, nicht? Die Ostleute, die haben die immer dann, die Westler, bis zur Grenze gebracht oftmals und dann naja, umarmt und "Tschüss" und so. Einige habe ich mit Tränen gesehen, ja ja."
    Philipp Springer: "Der Bahnhof Friedrichstraße war mit Abstand der größte und wichtigste, weil er zentral gelegen ist. Auch die Touristen, die von Westdeutschland einen Städteaufenthalt hier machten, fuhren dann mit der S-Bahn vom Bahnhof Zoo hier zum Bahnhof Friedrichstraße. "
    Philipp Springer, Historiker, Rentner Dagobert Renner, Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bahner Dieter Reetz.
    Keine ruhige Ecke auf dem Bahnhof
    Auf diesem Bahnhof gibt es keine ruhige Ecke, weder im Ladengeschoss, noch oben auf den Bahnsteigen oder im Tunnel. Wir treffen uns auf dem Fernbahnsteig. Dieter Reetz, damals als Abteilungsleiter Reiseverkehr zuständig für den Fahrkartenverkauf:
    "Wir Eisenbahner waren ja eigentlich Gäste auf unserem Bahnhof. Das Gros war natürlich die Grenzsicherung. Und da gab's ja dann auch einen leitenden Kommandanten, der auch regelmäßig ausgetauscht wurde."
    Dagobert Renner: "Eine furchtbare Grenze, viel Schikane dabei. Es gab ein paar nette Typen, die kannten mich schon, weil ich jede Woche kam. Aber die wurden ja, die Leute von der Passkontrolle hauptsächlich, die wurden ja jeden Monat ausgewechselt. Also da standen mehr Sachsen als Berliner an der Grenze, nicht?"
    Dieter Reetz: "Das stand natürlich nirgends geschrieben, aber Faktum war, dass 60 Prozent hier auf der Dienststelle Parteimitglieder sein sollten und mussten, mindestens 60 Prozent."
    Argwöhnische SED-Genossen, eiserne Wachsoldaten, stählerne Vorhänge. Fernzüge hielten unter strengster Aufsicht und Kontrolle. Alltag für Reisende zwischen Ost und West, bis 1989. Für die Ostberliner S-Bahn war hier Schluss, erklärt Phillip Springer:
    "Das ist die S-Bahn Richtung Osten, die ja damals auch fuhr, also, man konnte auch hier vom Bahnhof Friedrichstraße zum Alexanderplatz fahren, aber es gab eben keine durchgehende S-Bahn von West- nach Ostberlin seit dem 13. August '61, seit dem Mauerbau, als die S-Bahn-Verbindung unterbrochen worden ist. Und das war eine der ersten Aktionen des Mauerbaus."
    Aller DDR-Aktionen zum Trotz ließ Dagobert Renner die Verbindung zu seinen Verwandten im Osten nie abreißen. Dafür musste er manches inkauf nehmen, doch er hatte bei seiner Einreise einen Vorteil. Er kam aus dem freien Teil der Stadt:
    "Ich habe die ja manchmal ein bisschen provoziert, die Ostgrenzer. Wo wollen sie denn hin? Ich sage, ja nach Ostberlin! Sie meinen wohl die Hauptstadt der DDR und so, nicht, Scheiße alles."
    Mühsam handelten der Westberliner Senat und DDR-Hauptstadtbehörden Passierscheinabkommen aus, auch die Möglichkeit für Familienzusammenkünfte an Ostern 1972. Radioreporter Peter Klunkert schilderte in der RIAS "Rundschau am Morgen" die Ankunft der vollen Züge aus Westberlin:
    "Über Lautsprecher werden dann die Westberliner begrüßt, ihnen wird ein angenehmer Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR, also in Ostberlin, gewünscht. Man sagt ihnen dann, wie sie zu den Übergang direkt kommen. Allerdings etwas verwunderlich ist, dass sogar ostberliner Bahnpolizei mit Schäferhunden eingesetzt wird. Ich weiß nicht, was das soll."
    Dieter Reetz: "Anfangs ist das vorgekommen, dass welche versuchten, sich gleich im Abstellbahnhof unter diese Züge, woraufhin man dann sofort ja auch später mit den Hunden die Züge hat von unten ablaufen lassen, absuchen lassen und dergleichen auch. Also, das gab es schon, aber ist meistens ja schief gegangen."
    Dieter Reetz erinnert sich, dass die Interzonenzüge verriegelt und von Transportpolizisten begleitet in den Bahnhof rollten. Von all dem war auf dem Ostberliner S-Bahnsteig nichts zu sehen. Mit dem Historiker Phillip Springer schaue ich dort hinüber:
    "Wir stehen hier auf dem West-S-Bahnsteig, also da, wo die Westberliner S-Bahn hielt. Und diesen Blick, den wir jetzt haben, also rüber zu dem Ost-S-Bahnsteig, den hätten wir damals gar nicht machen können, jedenfalls nicht in den 80er-Jahren. Denn da war eine Stahlwand, die bis hoch zur Decke ging, die dann 1990 dann auch sehr schnell natürlich abgerissen worden ist. Diese Stahlwand war ursprünglich nur eine Glaswand. Die ist aber immer mehr ausgebaut worden, weil natürlich Menschen versucht haben, dadurch zu fliehen. Einigen ist es auch gelungen, aber irgendwann war die dann so hoch und so fest, dass da halt niemand mehr durchkam."
    Nur dringende familiäre Angelegenheiten ermöglichten Ausreise
    Es sollte möglichst niemand durchkommen, nicht mal auf dem sehr beschwerlichen Weg einer zeitweisen Ausreise zu "dringenden familiären Angelegenheiten", wie es damals hieß. Bahnverkehrsleiter Dieter Reetz zur befürchteten "Ansteckungsgefahr" im Westen:
    "Wir saßen, es kann so '87, '88 gewesen sein, in dem Reichsbahnamt 4 (Verwaltungssitz Berlin Nordbahnhof) und wollten Platzkarten haben vom Kontingent. Und da saß dann die Hauptabteilungsleiterin vom Ministerium mit dabei, die dann sagte: Wir sind ja gar nicht daran interessiert, dass unsere Bürger da rüber fahren. Jeder, der zurückkommt, bringt eine ideologische Schlammflut mit. Zitat original."
    Dagobert Renner: "Furchtbare Zeit, nicht?"
    28 Monate nach dem Mauerbau machte das erste von vier Passierscheinabkommen zwischen West und Ost diese Grenze, diesen Bahnhof, wenigstens zu Feiertagen durchlässiger. In einem Flugblatt schrieb der Senat, er wisse, dass diese Übereinkunft den freien Personenverkehr in Berlin nicht ersetzen könne. Erst ab 1971 duften Westberliner wieder regelmäßig in den Ostteil der Stadt reisen. RIAS-Reporter Klunkert:
    "Drüben auf der Ostseite des Bahnhofs Friedrichstraße sind behelfsmäßige, kleine, Abfertigungshäuschen errichtet worden. Und es herrscht dort kein allzu großer Andrang, obwohl vor den Häuschen, die geöffnet haben, sich kleinere Schlangen gebildet haben."
    Drüben, auf der Ostseite, wusste Eberhard Lorenz bald nicht mehr, wie er mit dem wenigen Personal, das ihm unterstand, den wachsenden Andrang bewältigen sollte. Lorenz war seit 1982 als Eisenbahner in Berlin tätig, erst 1987 durfte er in den Kontrollteil seines Bahnhofes, als er von Friedrichstraße aus Züge im Interzonenverkehr als Zugführer begleitete. Eine wegen Personalmangels genehmigte Nebentätigkeit:
    "Ich habe mir also von dem Vorgesetzten des Dieter Reetz, vom Leiter des Bahnhofs, manchmal böse Worte anhören müssen, weil wir es eben partout nicht fertig bekamen für den Bahnhof Friedrichstraße, auch für andere Bahnhöfe in Westberlin, Fahrkartenverkäufer, Rangierer und S-Bahnaufsichten zu finden, die hier ihre Arbeit verrichten sollten."
    Ein Tür mit dem Schild "Ausreise für Bürger - Berlin West - BRD - anderer Staaten".
    Ein Tür mit dem Schild "Ausreise für Bürger - Berlin West - BRD - anderer Staaten". (Deutschlandradio / Joachim Dresdner)
    Es musste ran, wer da war, auf dem Grenzbahnhof Friedrichstraße. Eberhard Lorenz konnte ab und zu in den Westen reisen, sein Chef, Dieter Reetz, verkaufte notgedrungen Fahrkarten:
    "Wenn ich dann manchen Montagabend, -nachmittag selber im Fernschalter saß und Fahrkarten verkauft habe, weil Frauen krank waren oder die den berühmten Haushaltstag hatten. Oder Kinder eben krank waren. Oder dergleichen mehr. Dann habe ich mir meine Epauletten (Schulterstücken) abgeschraubt und habe dann selbst am S-Bahn- oder am Fernschalter gesessen und habe Fahrkarten verkauft. Da kamen dann schon manchmal wehmütige Gefühle."
    Denn Dieter Reetz war und ist wie Dagobert Renner Gesamtberliner mit einer Ost/Westbiografie, die zeigt, was die deutsche Teilung für manche Familie bedeutete. Und was es bedeutete, wenn man in der frühen DDR zur Intelligenz gezählt wurde. Menschen mit einem Hochschulabschluss könnten den Arbeiter- und Bauernstaat unterwandern, fürchteten die Herrschenden:
    "Ich durfte 1987 das erste und letzte Mal in diesem Sinne zu meinem Bruder nach Westdeutschland fahren, weil der 50 wurde. Mein Bruder wurde 1952 von meiner Westtante adoptiert, weil er im Osten nicht studieren durfte, weil mein Vater Intelligenzler war. Und da habe ich meinen Chef gefragt, ob ich vielleicht eine Stunde eher mal kommen darf und mit dem Schichtleiter, mit dem diensthabenden Schichtleiter, mir meinen Bahnhof mal von der anderen Seite besichtigen, ansehen, darf. Ich glaube, ich spürte heute noch die Blicke: Ein Uniformierter geht mit einem Zivilisten hier und zeigt ihm und erklärt ihm und so weiter, also da haben natürlich viele Augen geguckt!"
    Kontrolle der Ausreisenden
    Eberhard Lorenz hatte keine Verwandten im Westen. Er stammt aus dem Erzgebirge. Auch er wurde vor seiner ersten Ausreise genauestens durchleuchtet:
    "Ich wurde von sehr geheimen Leutchen dann überprüft. Wir hatten viel Papier einzureichen und 1987 machte ich meine ersten Fahrten über diesen Bahnsteig, hier am Bahnhof Friedrichstraße. Also nach dem Dienst im Reichsbahnamt bekam ich dann planmäßig eine Schicht, in der ich hier am Bahnhof Friedrichstraße meinen Ausweis abholen musste."
    Mit dem kam Lorenz bis Büchen oder Helmstedt. Dann musste der Zugchef zurück zum Bahnhof Friedrichstraße. Dort erhielt er seinen Dienstausweis wieder. Dieter Reetz zur Ausreiseprozedur für die Mitarbeiter der DDR-Reichsbahn:
    "Da war da unten so eine Stelle, eine richtige Schleusenkammer und da musste der Dienstausweis, der übliche, dann abgelegt, hinterlegt werden. Und wenn der Kollege nicht planmäßig maximal 30 Minuten später nicht wieder hier in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen war, dann ging die Suchmaschine los."
    Seine Stullenbüchse hatte Eberhard Lorenz immer dabei, denn die fünf Westmark Verzehrgeld, die gab er lieber für Südfrüchte aus.
    "Da bin ich hier durch den Tränenpalast durch. Da gab es also so einen Nebengang, durch den wir durchgehen durften für Dienstreisende. Da bin ich dann hier unten durch die Gänge gegangen, die ich ja sonst nicht kannte. Wenn ich hier oben lang fuhr, kam ich nicht nach unten, aber am Intershop vorbei."
    Dieser Laden war eigentlich nur für Westler zugänglich. Sie besorgten sich preiswert zum Beispiel Zigaretten. Die holte die DDR unversteuert von holländischen Firmen aus Rotterdam. Bezahlt wurde mit Westmark. Es gab alles Mögliche: Nahrungsmittel, Alkohol, Spielwaren, Schmuck, Kosmetika, technische Geräte.
    Peter Klunkert: "Der größte Intershop-Laden befindet sich auf der anderen Seite, direkt auch im Bahnhofsgebäude Friedrichstraße. Und obwohl dieser Laden wirklich großzügig und großflächig ausgebaut ist, ist hier schon an normalen Werktagen ein großer Andrang."
    Bis 1974 war es DDR-Bürgern verboten, Westgeld zu besitzen. In den 1980er-Jahren konnten sie mittels sogenannter Forum-Schecks auch am Bahnhof Friedrichstraße einkaufen. Da hatte der Umsatz in den mittlerweile 380 Intershop-Filialen mehr als eine Milliarde D-Mark erreicht.
    Peter Klunkert: "Ich habe beobachtet, dass sich bei den beiden Intershop-Läden, die sich auf dem Bahnhof Friedrichstraße befinden, längere Einkaufsschlangen bilden. Und ich habe auch beobachtet, dass das vornehmlich Leute sind, die dann nach Ostberlin einreisen. Diese Waren, die sie dort kaufen, müssen verzollt werden, im Gegensatz zu den Waren, die sie im Intershopladen in der Friedrichstraße, also wenn sie bereits in Ostberlin sind, kaufen."
    Der Ratschlag des Westberliner Reporters. Neben den Reisenden zwischen Ost und West steuerten auch Westler allein zu Einkäufen den Bahnhof Friedrichstraße an. Dieter Reetz:
    "Diese beiden Bahnsteige waren ja S-Bahn. Der mittlere Bahnsteig B war ja auch S-Bahn, wo die Westberliner S-Bahnen endeten, die ja eben fahren mussten, ob sie besetzt waren, gebraucht wurden, oder nicht. Das musste eben sein. Und wir auf dem Bahnsteig C hatten wirklich riesige Probleme mit der Enge. Es kamen ja jeden Morgen viele Beschäftigte, die hier in den umliegenden Büros, Ministerien und dergleichen, arbeiteten."
    Die Physikerin Angela Merkel war damals in der Gegenrichtung unterwegs, zur Akademie der Wissenschaften in Adlershof:
    "Die Atmosphäre, die sich dann anschloss, dass man dann auf dem Bahnhof Friedrichstraße musste - die habe ich auch noch sehr gut im Wesentlichen aus der Ostsicht in Erinnerung. Weil ich damals in der Marienstraße wohnte, jeden Morgen vom S-Bahnhof Friedrichstraße nach Adlershof fuhr. Man war dann auf dem Ost-S-Bahnsteig immer konfrontiert mit einer Wand und dahinter war der West-S-Bahnsteig. Aber der war eben überhaupt nicht zu erreichen. Und dann hörte man immer das Bellen von Hunden, die damals Kontrollen machten. Und so hatte man also morgens beim Weg zur Arbeit schon die erste Erfahrung mit der innerdeutschen Grenze und dieser unmenschlichen Teilung."
    Was die spätere Bundeskanzlerin in den Zeiten der Teilung nicht sehen konnte, beschreibt der Historiker Phillip Springer:
    "Wir stehen hier in der größeren, südlichen Halle, genauso, wie das in den 20er-Jahren errichtet worden ist und am Ende der beiden Bahnsteige. Also da wo die Halle endet, da waren zu DDR-Zeiten Laufstege, weit oben, fast unterm Dach, wo die Grenztruppen der DDR entlang patrouillierten. Und von dort oben natürlich einen sehr guten Blick auf die Reisenden hatten. Auch feststellen konnten, wenn jemand die weiße Linie überschritten hatte, die man nicht überschreiten durfte, bevor nicht die Grenztruppen das frei gegeben hatten. Und man dann die Transitzüge besteigen durfte."
    Der weiße, geriffelte Strich dient heute blinden Fahrgästen zur Orientierung. Auf dem geteilten Bahnhof Friedrichstraße bedeutete er Macht. Auf seiner Arbeitsstätte erlebte Eberhard Lorenz eine Demonstration dieser Macht:
    "Ich stieg also bei einer meiner ersten Fahrten aus und ging unversehens auch innerhalb des Striches lang. Prompt raunzte mich ein Hauptmann dort an und toffelte mich dort 'runter, dass nichts mehr passte! Ich wurde auch wütend. Ich sagte, dann bleibt die Mühle eben hier stehen. Ich habe hier hinten erst mal Bescheid zu geben, dass es überhaupt weitergehen kann. Es gab da kein Nachspiel, aber eben diese Auseinandersetzung, denn die waren hier die Herrscher des Bahnhofs und nicht die Eisenbahner! Ja?"
    140 Kameras beobachteten die Passanten
    Von der ständigen Beobachtung durch etwa 140 Kameras wussten – wie viele Passanten oder Mitarbeiter - auch Dieter Reetz und Eberhard Lorenz. Erst nach der Wende sahen sie, wo die Kabel zusammenliefen:
    "Ich habe hier unten drunter, unter diesem Gleis, mein Büro gehabt, mit Blick auf die Georgenstraße. Hier waren zwei Keller nach unten. Natürlich waren sie alle ausgeräumt, aber wo uns dann auch gesagt wurde, naja, hier war die Staatssicherheit und hier waren die Kontrollkräfte und Donner und Doria, es war auch schon Videoüberwachung. Und da war ein Raum, wo ich auch jeden Morgen vorbeigehen musste. Also, da saßen sie vor Videos."
    Und dann waren da noch Spione, die auch durch die normalen Passkontrollen geschleust wurden, ergänzt Philipp Springer:
    "Gerade in den 80er-Jahren war das für die Stasi ein großes Problem, weil die Zahl dieser Spione immer größer wurde und es dann oft auch drohte, aufgedeckt zu werden. Also wenn beispielsweise zwei Spione sich am Bahnhof erkannten, was nicht unbedingt erwünscht war."
    Draußen in dem Winkel zwischen dem Bahnhof und der in den 60er-Jahren erbauten gläsernen Ausreisehalle, dem Tränenpalast, wendeten die Taxis.
    Ein Stück weiter, vor dem Tränenpalast, standen die Ausreisenden. Auf sie wartete eine teils schikanöse Prozedur. Den aus Westberlin Einreisenden ging es kaum anders. In den 70er und 80er-Jahren besuchte Dagobert Renner fast wöchentlich seine Verwandten in Köpenick. Während er schmale Schleusen passierte, traf er Passkontrolleure, Zöllner, Soldaten. An die Erfahrungen mit der innerdeutschen Grenze, wie sie der Historiker Springer beschreibt, erinnert sich Renner deutlich:
    Philipp Springer: "Dieses Ausgeliefertsein, eine sehr hohe Theke, hinter der der Passkontrolleur saß. Man wusste nicht, was er da eigentlich tat, weil man eben nicht auf seinen Schreibtisch gucken konnte. Durch diese hohe Theke war der Blick versperrt. Und man hatte natürlich auch sicher Angst, oder zumindest war man im Ungewissen darüber, was nun geschah: Durfte man hindurch, durfte man nicht hindurch, was will der da noch von einem?"
    Dagobert Renner: "Furchtbar, viel Schikane dabei. Hauptsächlich der Zoll, ach, und dann, aus unerklärlichen Gründen, bin ich bei der Passkontrolle, hatte der mich mal eine halbe Stunde da stehenlassen. Manchmal war ich aber auch ganz schnell durch. Aber ich wäre wahrscheinlich einmal rüber gefahren nach der Teilung überhaupt, um mal die alte Heimat, also wir haben in Adlershof gewohnt, um das mal wieder zu sehen. Und wenn ich die Verwandtschaft nicht gehabt hätte, wär ich einmal und dann nie wieder, nicht?"
    Philipp Springer: "Es gab auch über dem Kopf einen Spiegel. So, dass dann dieser Passkontrolleur eben aus seiner sitzenden Haltung auch auf den Rücken des Reisenden blicken konnte. Das alles war schon bedrohlich. Und dann kam hinzu, dass die Luft hier im Bahnhofsgebäude sehr stickig war. Gerade im Sommer war es hier richtig heiß, natürlich nicht nur für die Reisenden, sondern auch für die Passkontrolleure. Wenn man dann noch ein alter Mensch war mit viel Gepäck dabei, dann war das schon eine Quälerei, dieses Kontrolliertwerden hier.
    Dagobert Renner: "Alle Taschen, alle Taschen und hatte ich mal so eine Reisetasche, ob da ein doppelter Boden unten drin ist. Und all so ein Quatsch."
    Nach dem Mauerfall war alles anders
    In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Auf dem Bahnhof Friedrichstraße stauten sich die Menschen an der S-Bahn Richtung Zoo. Der Lokführer kam kaum durch zu seinem Führerstand. Die ganze Nacht fuhren die Züge hin und her. Grenzer und Polizisten drängten die Leute ab, damit die Grenzübergangstelle nicht gestürmt wurde, versuchten, zu regulieren, wie das S-Bahn-Personal auch, mit Dieter Reetz an der Spitze:
    "Und dann haben wir tatsächlich hier, wir Leiter, bis zum Sonnabendnachmittag fast um die Uhr hier auf dem Bahnhof gestanden, versucht, Menschenmassen zu regeln. Es ging nichts mehr! Um den ganzen Bahnhof standen Leute rum, keine Straßenbahn, kein Auto, kein nichts, kamen mehr durch und da haben wir eben versucht, Menschenströme zu regeln. Und das ging so, also wirklich am laufenden Band und, wie gesagt, wir standen auch, die Mitarbeiter auf der Bahnsteigkante und versuchten die Leute a) zurückzuhalten und b) noch hineinzudrücken oder so. Also es war wirklich unbeschreiblich. Betriebsschluss gab's nicht. Es waren unvergessliche Tage und Stunden."
    Am 12. November 1989 hielt es Dieter Reetz auf diesem Posten nicht mehr aus:
    "Es konnte mich auch keiner zurückhalten, dann am Sonntag: Sage, Chef Sonntag, Sonntag bin ich drüben in der Deutschen Oper. Da habe ich 40 Jahre drauf gewartet. Da gab's für Ostberliner die Zauberflöte, für Ostler. Eine unvergessliche Vorstellung. Es war eine Euphorie, eine Stimmung. Das kann man nicht mehr schildern, es ist immer noch rührend."
    Und was wurde aus dem alten Tränenpalast vor dem Bahnhof? In den 90er-Jahren wurde bis auf einzelne Schilder die gesamte Inneneinrichtung entfernt. Von den engen Kabinen, in denen schikanöse Befragungen, Kontrollen, Leibesvisitationen zu überstehen waren, blieb fast nichts übrig, auch die düsteren Gänge auf den Wegen zu den Bahnsteigen der S-und U-Bahn wurden vollständig entkernt. An das Grenzregime erinnert eine Dauerausstellung im Tränenpalast.
    Eberhard Lorenz: "Der Bahnhof hat sich heute grundlegend verändert, sieht überhaupt nicht mehr so aus, wie wir ihn also in der Vorzeit mal gesehen hatten, ist eben moderner geworden."
    Und was wurde aus den beiden S-Bahnern?
    Eberhard Lorenz: "Er ist ja mein Vorgesetzter. Dieter Reetz ist Bezirksbeauftragter für Chöre und Kapellen in der Stiftung Bahn-Sozialwerk und ich bin Gruppenleiter des gemischten Chores Ernst Moritz Arndt, also damit einer seiner Chöre."