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Deutschland im WM-Halbfinale
"Erstaunlich, wie zufrieden alle sind"

Nicht glanzvoll, aber auch nicht "nervig": Fußball-Kolumnist Christoph Biermann zieht eine durchwachsene Bilanz des deutschen Viertelfinalsiegs gegen Frankreich. Doch wegen einer Fehlleistung an ganz anderer Stelle mache er sich wenig Sorgen vor dem Halbfinale gegen Brasilien, sagte Biermann im DLF.

Christoph Biermann im Gespräch mit Martin Zagatta | 05.07.2014
    Die allgemeine Zufriedenheit mit der Leistung der deutschen Mannschaft erklärt Christoph Biermann, Mitglied der Chefredaktion des Fußballmagazins "Elf Freunde" mit einer "Konsensaufstellung" des Bundestrainers Joachim Löw. Dieser trete überdies in Brasilien nicht mehr als "Ideologe", sondern als großer Pragmatiker auf.
    Den Schiedsrichter im gestrigen Viertelfinalspiel Brasilien gegen Kolumbien sieht Biermann zurecht in der Kritik. Die Spieler hätten die Spielführung des Unparteiischen als "Freifahrtschein" wahrgenommen. Angesichts von 52 Fouls seien viel zu wenige Gelbe Karten vergeben worden. So habe am Ende das "in seiner Wirkung ungeheuerliche" Foul gegen den brasilianischen Stürmerstar Neymar gestanden.
    Durch den Ausfall Neymars und des brasilianischen Kapitäns Silva sieht Biermann die Chancen Deutschlands im Halbfinale (8. Juli, 22 Uhr MESZ, Belo Horizonte) deutlich gestiegen.

    Das Interview in voller Länge:
    Martin Zagatta: Die deutschen Zeitungen überschlagen sich heute Morgen, der Torschütze Mats Hummels wird gefeiert, aber vor allem Bundestrainer Löw, der ist wieder der Größte nach dem 1:0-Sieg gegen Frankreich, nachdem die deutsche Elf das Halbfinale bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien erreicht hat. Dort trifft man jetzt in diesem Halbfinale auf die Gastgeber. Die stehen gewaltig unter Schock, denn ihr Superstar Neymar fällt aus, der wurde verletzt in der Nacht bei einem üblen Foul. Christoph Biermann ist Mitglied der Chefredaktion des Fußballmagazins "Elf Freunde". Guten Morgen, Herr Biermann!
    Christoph Biermann: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: Herr Biermann, wenn wir mit dem deutschen Spiel beginnen - sind Sie jetzt rundum zufrieden?
    Biermann: Ich find's erstaunlich, wie zufrieden alle sind. Ich glaube, alle sind deshalb so zufrieden, weil Jogi Löw so etwas wie - der ehemalige Nationalspieler hat es genannt, eine Konsensaufstellung auf den Platz gebracht hat und eigentlich so hat spielen lassen, wie es sich alle gewünscht haben. Das war nicht sonderlich glanzvoll, es gab unheimlich wenig Torchancen, aber es war auch nicht nervig, wie dieses Algerienspiel. Man musste sich nicht aufregen, und irgendwie war man fast 90 Minuten in so einem Gefühl von Sicherheit, Spielkontrolle gehüllt, und so ist es dann erneut ins Halbfinale gegangen.
    Was sich viele Leute gewünscht haben, hat sich auch bewährt
    Zagatta: Da hat sich aber zumindest bewährt, was sich alle gewünscht haben. Man hat ihm ja vorgeworfen, und alle wollten das, also Philipp Lahm solle Rechtsverteidiger spielen, dann würde das deutsche Spiel besser. Das scheint ja aufgegangen zu sein. Wissen da Millionen von Bundestrainern, so wie wir vielleicht auch, es doch ein bisschen besser als der Bundestrainer?
    Biermann: Nein, also, ich fand vorher die Entscheidung von Jogi Löw schon nachvollziehbar. Die große Debatte war ja eben Philipp Lahm, und dass er im defensiven Mittelfeld gespielt hat, hatte sicherlich viel mit der körperlichen Verfassung von Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger zu tun. Die scheint sich jetzt auch im Lauf des Turniers einfach etwas verbessert zu haben, auch wenn Sami Khedira dann doch im Laufe des Spiels sehr, sehr müde wirkte und dann zum Ende ja auch runter gegangen ist. Miro Klose - dass die deutsche Nationalmannschaft auch wieder mit einem klassischen Mittelstürmer gespielt hat, war ja so eine andere Geschichte, die sich viele Leute gewünscht haben. Ich fand, dass sich auch das bewährt hat. Aber ich finde, insgesamt tritt Jogi Löw bei dieser Weltmeisterschaft nicht als Ideologe auf, sondern als großer Pragmatiker. Er hat ja früher immer gesagt, man könne nur schön spielend gewinnen. Das eine, also die Schönheit und der Erfolg würden unbedingt zusammengehören. Aber ich glaube, davon ist er abgekommen.
    Zagatta: Jetzt heißt das Ergebnis-Fußball?
    Biermann: Genau!
    Zagatta: Verklären wir da einiges? Also, wenn wir an 2010 denken, an die letzte Weltmeisterschaft. Da hat die deutsche Elf ja teilweise berauschenden Fußball gezeigt, gegen England, vor allem gegen Argentinien. Jetzt sagt uns Thomas Müller, einer der besten Spieler, diese Mannschaft 2014, die ist viel stärker als die von 2010. Kann das sein?
    Biermann: Was sie beweisen muss, und zwar in dem Halbfinalspiel gegen Brasilien, und möglicherweise dann im Finale. Die Mannschaft von vier Jahren war mitreißend. Das ist diese nicht mehr, aber die Mannschaft vor vier Jahren war ja auch eine junge, die so ein bisschen mit großen Augen, staunend über den Platz gelaufen ist und sich gewundert hat, was alles geht. Diese Naivität, diese jugendliche Begeisterung, die ist etwas verflogen. Ob sie sich dann wirklich in die große Klasse, die Abgeklärtheit und eben die Möglichkeit, das Ganze in einen großen Triumph endlich zu verwandeln, umgestellt hat, das werden wir dann wirklich sehen, am Dienstag und am Sonntag.
    Das Foul an Neymar war das Produkt einer Eskalation
    Zagatta: Wird sich am Dienstag zeigen gegen Brasilien. In Brasilien ist die ganze Nation geschockt: Der Superstar Neymar hat sich verletzt, ist verletzt worden durch ein übles Foul, gestern im Spiel gegen Kolumbien, das die Brasilianer dann gewonnen haben doch noch. Wie haben Sie dieses Foul erlebt? Der Schiedsrichter steht jetzt sehr gewaltig in der Kritik.
    Biermann: Und er steht völlig zu Recht in der Kritik. Denn dieses Foul, was ja relativ am Ende des Spiels gewesen ist, was in der Situation gar nicht, zunächst mal gar nicht so schlimm wirkte, aber in der Wirkung ja ungeheuerlich ist - ein angebrochener oder gebrochener Lendenwirbel. Mit welcher Wucht da dieses Knie in dem Rücken von Neymar gelandet ist, das war schon sehr, sehr heftig. Aber das war eine Folge vieler - einer falschen Spielführung durch den spanischen Schiedsrichter, der so ein bisschen, glaube ich, mit der Haltung ins Spiel gegangen ist, möglichst wenig Verwarnungen auszusprechen. Und die Spieler haben dann immer mehr auch das Gefühl entwickelt, durchaus auch die brasilianischen Spieler, dass das hier so ein Freifahrschein ist, dass man da machen kann, was man will. Dass man die Grenzen der Härten komplett austesten kann. Es sind 52 Fouls gepfiffen worden, viel zu wenig gelbe Karten dafür gegeben worden, und so war das dann am Ende das Produkt einer Eskalation.
    Zagatta: Was heißt das jetzt für das Spiel Deutschland-Brasilien am nächsten Dienstag? Verbessern sich unsere Chancen, oder hat die deutsche Elf, hätte die auch mit Neymar nicht ohnehin gute Chancen gehabt? Wie ordnen Sie das ein?
    Biermann: Das ist eine dramatische Schwächung für die brasilianische Mannschaft. Neymar - aber es ist ja auch gesperrt der Mannschaftskapitän, Thiago Silva, der Kopforganisator der Abwehr. Also dadurch sind die Chancen der deutschen Mannschaft schon deutlich gestiegen. Ich will jetzt nicht gleich sagen, dass sie Favorit ist für dieses Halbfinale, aber man hätte sich vor Anpfiff des zweiten Halbfinales sicherlich viel mehr Sorgen gemacht als jetzt.
    Bei dem Turnier wird sehr hart Fußball gespielt
    Zagatta: Noch kurz zu unserem Ausgangspunkt zurück. Sie sagen, Jogi Löw hat da auf Druck reagiert, eine Konsenslösung gefunden. Dieser Druck baut sich ja jetzt auch schon so langsam wieder auf. Viele Experten, und was man so im Umkreis hört, sagen, er muss noch einmal umstellen, also Mesut Özil, der deutsche Superstar, der bringt es nicht bei dieser Fußballweltmeisterschaft. Muss der raus aus der Mannschaft?
    Biermann: Ich finde nicht. Aber man wird das sehen. Die Argumentation dahinter ist ja, dass das ein Turnier ist, bei dem sehr hart Fußball gespielt wird alles in allem, dass die Schiedsrichter relativ viel laufen lassen, und dass Spieler, die nicht so robust sind, die versuchen, vieles sehr spielerisch zu lösen, und dazu gehört Mesut Özil, dass die sich nicht richtig wohlfühlen. Ich hab allerdings auch das Gefühl, dass Mesut Özil sich auf dieser Position außen, also nicht im Zentrum, nicht ganz so wohlfühlt, vielleicht auch nicht ganz zu diesen Spitzenleistungen in der Lage ist wie sonst. Aber ich hab ihn jetzt nicht so schlecht gesehen, dass ich dringend das Gefühl hätte, dass er mal raus müsste.
    Zagatta: Deutschland steht im Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien. Einschätzungen waren das von Christoph Biermann von der Chefredaktion des Fußballmagazins "Elf Freunde". Herr Biermann, ganz herzlichen Dank!
    Biermann: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.