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Die Albertina leuchtet

Henri Matisse und andere Maler befreiten mit dem Fauvismus die Kunst vom Prinzip der Natur-Nachahmung: Der fauvistische Künstler malt nicht mehr, was er sieht, sondern was er empfindet. In der Albertina in Wien sind die intensiven Werke aus dieser Zeit nun zu sehen.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Was war das für ein Aufruhr im Herbst 1905: Man habe es mit der Kunst von Wahnwitzigen zu tun, urteilten empörte Kritiker nach einem Rundgang durch den Pariser Herbstsalon, es seien nichts als "grelle, zufällig aneinandergefügte Farbkleckse", was Henri Matisse und seine Freunde da auf die Leinwände gepanscht hätten, der ästhetische Wert dieser Arbeiten tendiere gegen null.

    "Was Matisse und die Fauves 1905 gemacht haben, war nichts Geringeres als die erste Avantgardebewegung des 20. Jahrhunderts. Im Herbstsalon 1905 lag der große Skandal darin, dass hier eine scheinbar anarchische Malerei, die scheinbar keine Wirklichkeiten mehr abbildet, präsentiert wurde, und das hat man mit der Malerei wilder Bestien verglichen."

    Klaus-Albrecht Schröder, Direktor der Wiener Albertina, ist sichtlich stolz auf die Schau, die er und sein Team da in jahrelanger kuratorischer Arbeit realisieren konnten. 160 Meisterwerke des Fauvismus sind in den ehrwürdigen Hallen der Albertina zu bestaunen, darunter hochversicherte Leihgaben aus London, Paris, New York, Sankt Petersburg, Madrid und Washington. Die wilden Jahre der europäischen Früh-Avantgarde, kaum jemals wurden sie in Mitteleuropa derart umfassend dokumentiert.

    Es ist nicht Henri Matisse allein, der die fauvistische Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Werk setzt, auch André Derain, Maurice de Vlaminck und andere Maler, oft Autodidakten, haben entscheidenden Anteil an der ästhetischen Revolte, die die französische Kunstszene zwischen 1905 und 1907 erschüttert. Mit der harmonischen, oft schon zur Konvention erstarrten Gefälligkeit impressionistischer Gemälde haben die Fauvisten nichts mehr im Sinn, sie gehen es ungeschlachter, wilder, brutaler an. Henri Matisse und seine Kumpels befreiten die Kunst vom Prinzip der Natur-Nachahmung: Der fauvistische Künstler malt nicht mehr, was er sieht; er malt, was er empfindet. Ein Baum auf einem fauvistischen Gemälde muss nicht unbedingt grün, ein Apfel nicht unter allen Umständen rot sein, auch ganz andere Farbarrangements sind denkbar.

    "Matisse und seine Freunde Derain und Maurice de Vlaminck bauen wirklich auf den Errungenschaften des 19. Jahrhunderts auf: Auf dem Impressionismus, der Malerei van Goghs und Cezannes, aber sie gehen in einem entscheidenden Punkt darüber hinaus. Sie bilden Wirklichkeit nicht mehr ab, sondern setzen die Farben willkürlich, unabhängig von der Lokalfarbe und in intensiven Komplementärkontrasten, sodass das Bild als solches, als Farbraum zu strahlen und zu glühen scheint, obwohl sie gar keinen Schatten wiedergeben und keine Modellierungen."

    Die Fauvisten experimentierten nicht nur auf dem Gebiet der Malerei. In der Wiener Schau kann man auch fauvistische Plastiken, Keramiken und Zeichnungen bewundern, sogar ein von André Derain persönlich geschnitztes Holzbett wird gezeigt. Henri Matisse wiederum war ein begeisterter Zeichner. In einem seiner seltenen Interviews erklärte der berühmte Künstler einmal:

    "Für mich sind Malen und Zeichnen dasselbe. Zeichnen ist einfach nur eine schlichtere Art des Malens. Auf einem weißen Blatt Papier kreiert man mit einem Stift und etwas Tinte einen bestimmten Kontrast zwischen mehreren Inhalten. Dabei ist es nicht nötig, mit Licht und Schatten zu arbeiten, wie in der Malerei. Man kann beim Zeichnen auch mit verschiedenen Papierqualitäten arbeiten, mit geschmeidigeren Oberflächen, mit helleren oder härteren Oberflächen, das genügt vollauf. Für mich ist Zeichnen nichts anderes als Malen mit begrenzten Ressourcen."

    Henri Matisse war der einzige Künstler, den das Jahrhundertgenie Picasso als ebenbürtig anerkannte. Matisse und die Fauvisten waren es auch, die Picasso für Reliquienfiguren, Statuetten, Masken aus Afrika begeisterten, für die sogenannte "Kunst der Primitiven". Durchwandert man die Ausstellungsräume in der Wiener Albertina, spürt man die Intensität der fauvistischen Malerei fast körperlich: So viel Kraft, so viel Ungebärdigkeit, so viel farbpralle Energie. Ein kleines Wunder vollzieht sich da im Zentrum der Wiener Innenstadt: Die Albertina leuchtet.