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"Die Armee ist de facto Staat im Staate"

Nach dem "Putsch ohne Panzer" in Ägypten hofft Nahostexperte Michael Lüders darauf, dass sich "Kräfte der Vernunft" bei Armee und Muslimbrüdern wie auch bei der Opposition durchsetzen. Die Armee habe sich zwar auf die Seite der Demonstranten geschlagen, sei aber weiterhin wichtigster wirtschaftspolitischer Akteur.

Michael Lüders im Gespräch mit Reinhard Bieck | 04.07.2013
    Mario Dobovisek: Panzer und Truppentransporte rollen durch die Städte Ägyptens, Präsident Mursi wird von der Armee festgesetzt, nachdem er ein Ultimatum verstreichen lässt, eine Übergangsregierung setzen die Militärs ein, mit dem Obersten Richter an ihrer Spitze, bald soll es eine neue Verfassung geben und Neuwahlen. Die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo jubeln, doch im Norden des Landes gibt es inzwischen Tote.
    Das Militär setzt Ägyptens Präsidenten Mursi ab und verspricht einen Neuanfang. Größter Geldgeber der ägyptischen Armee waren bislang die USA – Militärhilfen, die US-Präsident Barack Obama nach dem Militärputsch offenbar überdenkt.

    Am Abend hatte mein Kollege Reinhard Bieck Gelegenheit, mit dem Politikwissenschaftler Michael Lüders über die Situation in Ägypten zu sprechen. Seine erste Frage lautete: Erleben wir in Ägypten gerade einen Staatsstreich mit Ansage, einen eher sanften Putsch?

    Michael Lüders: Ja, in der Tat. Es ist ja nicht ein Putsch, der jetzt mit Panzern durchgeführt wird, aber nichtsdestotrotz, diejenigen, die jetzt hier von der Macht entfernt worden sind, nämlich die Muslimbrüder, sehen es natürlich als einen Akt der Gewalt, der sich gegen sie richtet. Die Armee hat sich auf die Seiten der Demonstranten geschlagen in der Überlegung, dass diese Demonstranten mittlerweile zahlenmäßig stärker sind als die Anhänger der Muslimbrüder. Und vor dieser Einschätzung ist man dann zu der Überlegung gelangt, okay, wir müssen jetzt eingreifen, bevor die Dinge außer Kontrolle geraten. Das hat man getan, die Frage ist nur, ob es tatsächlich gelingt, die Lage in den nächsten Tagen und Wochen friedlich zu halten und die Muslimbrüder auf die eine oder andere Weise an der geplanten Übergangsregierung zu beteiligen.

    Reinhard Bieck: Also, Sie unterstellen da dem Militär doch eine sehr rationale Vorgehensweise! Lässt denn nicht schon allein diese Rationalität für die kommenden Tage und Wochen hoffen?

    Lüders: Na ja, Rationalität ist relativ. Ich denke, die Armee ist in erster Linie sich selbst am nächsten. Die Armee ist ja de facto ein Staat im Staate, es ist der wichtigste wirtschaftspolitische Akteur, die größten Unternehmungen, die größten Wirtschaftsbetriebe in Ägypten, ein großer Teil der Tourismusindustrie, riesige Immobiliengebiete in Kairo und anderswo gehören dem Militär. Man zahlt keine Steuern und die Generalität, die oberste Ebene lebt wirklich sehr, sehr gut in Ägypten. Diese Privilegien möchte man bewahrt sehen, egal wer in Kairo an der Regierung ist. Aber es war offenbar das Kalkül, dass man, wenn man zu lange zögert mit einem möglichen Eingreifen, es zu spät sein könnte, und die Sorge der Militärs war, dass Ägypten unter der Herrschaft der Muslimbrüder ins Chaos abgleiten könnte.

    Bieck: Die jetzt, ich sage mal, vorerst entmachtete Muslimbruderschaft ist ja ein Geheimbund. Sie ist seit 85 Jahren aktiv. Kann man so eine Organisation überhaupt einfach so entmachten?

    Lüders: Man kann schon, aber man zahlt möglicherweise einen hohen Preis dafür. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Muslimbrüder sich einfach in ihr Schicksal fügen, warten, was die Generalität ihnen als Betätigungsmöglichkeit im Rahmen einer Übergangsregierung ermöglicht, um sich dann erneut in Wahlen zu stellen, möglicherweise wiederum sehr, sehr stark zu werden, aber dann sich erneut um die Macht betrogen zu sehen. Wenn diese Haltung bei den Muslimbrüdern die Oberhand gewinnen sollte, wird es gefährlich für Ägypten. Aus Sicht vieler Muslimbrüder ist die Demokratie mit dem heutigen Putsch entlarvt, es ist nichts, worauf man bauen sollte, denn Demokratie bedeutet, dass man im Zweifel auch putschen kann, so das Weltbild vieler gemäßigter Muslimbrüder. Und die Radikaleren unter ihnen, die mögen sich überlegen, ob man nicht doch in den Untergrund geht und den Kampf gegen diese als unrechtmäßig empfundene Übergangsregierung aufnimmt.

    Bieck: Herr Lüders, wenn ich das zusammenfasse, dann sehe ich auf der einen Seite diesen ganz enormen Einfluss der Armee, die auch ganz klar eigene Interessen wahren will, und dann ist auf der anderen Seite der außerordentliche Einfluss dieser geheimen Muslimbrüder. Also, das lässt einen für Ägypten nichts Gutes hoffen, wie soll man diesen Kräften entkommen?

    Lüders: Ja, das ist die entscheidende Frage und in der Tat kann einem schon ein bisschen angst und bange werden mit Blick auf die nächsten Wochen und Monate in Ägypten. Man kann nur hoffen, dass die Kräfte der Vernunft sich sowohl aufseiten der Muslimbrüder wie auch aufseiten der Opposition durchsetzen und es eine neue Form der Politik geben wird in den nächsten Monaten. Bisher war es so, dass die jeweiligen politischen Blöcke untereinander überhaupt nicht kommuniziert haben, jeder Block hat nur sich selber gesehen, die Muslimbrüder haben versucht, ihre Leute an der Macht zu halten, an die Macht zu bringen, und die Opposition wollte die Macht in erster Linie für sich selbst. Aber es gibt kein geeintes Ideal, es gibt keine Vorstellung davon, wie man Ägypten positiv gestalten könnte für die nächsten Jahre, weder aufseiten der Regierung, noch aufseiten der Opposition. Und das macht die Sache so gefährlich. Wenn die Menschen nicht aufeinander zugehen, wenn die Politik nicht lernt, miteinander zu kommunizieren, dann ist Gewalt der Weg, den man wahrscheinlich zumindest in Teilen der Gesellschaft gehen wird. Und vergessen wir nicht, Millionen von Ägyptern leben in tiefster Armut und sie sind abhängig von den Lebensmittelrationen, die sie von den Muslimbrüdern erhalten. Wenn die ausbleiben sollten oder wenn die Muslimbrüder diese Armen gegen die Regierung in Stellung bringen, dann hat auch die Armee ein großes Problem.

    Dobovisek: Der Politikwissenschaftler Michel Lüders über die Geschehnisse in Ägypten. Die Fragen stellte mein Kollege Reinhard Bieck. Und wir schalten um 6:40 Uhr zu unserem Korrespondenten nach Kairo, nach acht heute Morgen wollen wir uns mit den jungen Ägyptern befassen, dann im Gespräch mit der ägyptischen Studentin und Menschenrechtsaktivistin Heba Ahmed.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.