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"Die Deutschen hatten Angst vor uns"

Vor knapp 70 Jahren begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Zum Jahrestag sind nun einige neue Bücher erschienen, darunter ein Band mit den Aufzeichnungen von Mark Edelman und eine Einführung in die Geschichte des Warschauer Ghettos.

Von Niels Beinker | 15.04.2013
    Sie wollten das alles nicht mehr widerstandslos hinnehmen. Die Gewalt der Besatzer, die tagtäglichen Demütigungen, die drohende Vernichtung. Sie wollten sich dagegen erheben. In der Nacht vom 18. auf den 19. April 1943 – in den Tagen des Passah-Festes – waren deutsche Soldaten und ihre Hilfstruppen im Warschauer Ghetto eingerückt, um eine neue Deportation der Bewohner in die Vernichtungslager zu organisieren. An mehreren Stellen des Viertels setzten sich die Angehörigen verschiedener Widerstandsgruppen zur Wehr, kleine Untergrund-Initiativen wie die Jüdische Kampforganisation mit gerade 500 Mitgliedern. Der Aufstand war seit längerer Zeit vorbereitet worden, zeigen die Historiker Markus Roth und Andrea Löw in ihrer Einführung in die Geschichte des Warschauer Ghettos.

    "Die Organisation des Widerstands, die dann zum großen Aufstand im April 1943 führte, begann schon spätestens im Sommer 1942, also mit den großen Deportationen der Warschauer Juden in das Vernichtungslager Treblinka. Von diesen Deportationen waren die schon bestehenden Widerstandsgruppen überrascht. Sie hatten noch keine Waffen. Da jedoch schon im Sommer 1942 Nachrichten über das Schicksal der Deportierten in das Ghetto gelangten, war in dem Moment klar, es muss bewaffneter Widerstand organisiert werden, damit die Warschauer Juden bei der nächsten sogenannten Aktion nicht wieder überrascht werden."

    Zum Zeitpunkt der Erhebung lebten schätzungsweise noch über 60.000 Menschen im Warschauer Ghetto. Zum Vergleich: Im April 1941 waren 450.000 Menschen in dem abgesperrten Bezirk inhaftiert gewesen, darunter 100.000 Kinder unter 14 Jahren. Ein Drittel der Warschauer Bevölkerung, unter entsetzlichsten Bedingungen zusammengepfercht auf engstem Raum, auf einer Fläche von etwa 2,7 Prozent des Stadtgebietes. Etwa 100.000 Menschen starben im Ghetto, durch Krankheiten und Unterernährung, die Toten lagen auf der Straße, abgedeckt mit Zeitungspapier. Nach den Deportationen vom Sommer und Frühherbst 1942 blieben diejenigen zurück, die unter prekären Bedingungen in den deutschen Unternehmen arbeiteten, sagt Andrea Löw, die am Münchner Institut für Zeitgeschichte forscht.

    "Es war ein ungeheurer Druck, unter dem diese Menschen standen. Sie hatten einerseits ihre Nächsten verloren, wussten gleichzeitig, dass sie nie sicher waren, auch als Arbeitskräfte. Es hätte jeden Tag eine neue Aktion stattfinden können. Der Druck war ungeheuer. Und trotzdem wurde weiterhin versucht, auch unter diesen Bedingungen, sich irgendwie ein Leben zu organisieren. In Tagebüchern ist von kleinen, privaten Feiern die Rede. Es haben sich Paare zusammengefunden und haben geheiratet. Irgendwie haben die Menschen versucht, mit dieser nochmals erschwerten Situation umzugehen."

    Andrea Löw und Markus Roth stützen sich in ihrer Chronik des Warschauer Ghettos auf viele zeitgenössische Dokumente. Dazu gehören bekannte und etwa in der großen Geschichte der Schoah von Saul Friedländer vielfach zitierte Tagebücher wie die von Chaim Kaplan und Adam Czerniaków. Ebenso aber zahlreiche Quellen aus dem von dem Historiker Emanuel Ringelblum begründeten Untergrundarchiv im Ghetto, "Oneg Schabbat". Auf diese Weise ist eine vielstimmige und eindrucksvolle Dokumentation entstanden, eine Geschichte von unten. Sie zeigt zum einen die systematische Entrechtung, Erniedrigung und Ermordung der Warschauer Juden. Zum anderen wird der konkrete Alltag im Ghetto deutlich: der tausendfache Tod auf offener Straße, die verzweifelte Selbsthilfe von vielen jüdischen Initiativen, der Schmuggel über die Ghettomauer hinweg, das vielfältige Engagement für Kultur und Bildung der Kinder.

    "Mit einer ungeheuren Energie haben die Menschen im Ghetto versucht, ihre Kinder auszubilden. Es wurden Schulen gegründet, Waisenhäuser. Fast so eine Art von Jugendfreizeit gab es. Es wurde überall versucht, diesen Kindern Werte zu vermitteln. Kindern, die teilweise nur das Ghetto kannten. Kleine Kinder wussten gar nicht, wie Bäume aussehen, kannten so etwas wie einen Spielplatz nicht, hatten vielleicht ihre Eltern verloren. Und diesen Kindern zu vermitteln, dass es etwas gibt, wofür es sich zu leben lohnt – und dass es möglicherweise eine Welt nach dem Ghetto gibt –, das war für die Menschen ganz wichtig."

    Vom Alltag im Ghetto erzählen wollte auch der Widerstandskämpfer und spätere Solidarnosc-Aktivist Marek Edelman. Sein letztes Buch "Die Liebe im Ghetto" – in Polen erschienen 2009, in seinem Todesjahr – versammelt bruchstückhafte Texte über die Zeit in Warschau, die verschiedenen Widerstandsaktionen im Untergrund, die Erhebung im Ghetto wie auch über den Warschauer Aufstand vom Sommer 1944, an dem sich Edelman, wie etliche seiner Mitkämpfer, beteiligte. Die Erinnerungen wirken eher kursorisch, keineswegs systematisch ausgewählt und sind zudem aus späten Interviews mit Edelmans Freundin Paula Sawicka hervorgegangen – was man den Texten durchaus anmerkt.

    Verglichen mit anderen Büchern Edelmans, etwa dem unmittelbar nach Kriegsende entstandenen Bericht "Das Ghetto kämpft", bieten die Texte kaum Neues. Am besten bezeichnet man sie als eine Art Vermächtnis. Marek Edelmans Erinnerungen "Die Liebe im Ghetto" hätten einen eigenen und genauen historischen Kommentar verdient. Vieles bleibt nur angerissen, offen, vage – und somit letztlich leider unbefriedigend erzählt. Eigentlich wäre die Einführung von Markus Roth und Andrea Löw ein idealer Kommentar zu den Texten von Marek Edelman. Einmal zitieren sie einen Satz des Widerstandsaktivisten Bernard Goldstein: Keinem Künstler werde es je gelingen, ein umfassendes Bild von den Ghettostraßen Warschaus zu malen. Nun sind die beiden Autoren Historiker, keine Künstler. Trotzdem ist es ihnen gelungen, ein umfassendes, konkretes Bild des Lebens und Sterbens im Warschauer Ghetto zu entwerfen, auf den Straßen, in den Häusern, auf dem sogenannten Umschlagplatz. Dem Umfang nach ein kleines, aber umso wichtigeres Buch.

    Marek Edelman: "Die Liebe im Ghetto. Erinnerungen. Aufgezeichnet von Paula Sawicka", Schöffling-Verlag, 176 Seiten, 18,95 Euro

    Marcus Roth und Andrea Löw: "Das Warschauer Ghetto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung", Beck-Verlag, 239 Seiten, 14,95 Euro