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Die freundliche Ratte von nebenan

Verhaltensbiologie. - Mitgefühl galt lange als eine typisch menschliche Eigenschaft. Doch auch Affen denken sich in andere hinein, trösten Artgenossen und versuchen, ihnen zu helfen. Und sogar Ratten legten in einer Versuchreihe erstaunliche Hilfsbereitschaft an den Tag.

Von Volkart Wildermuth | 09.12.2011
    Ratten haben einen schlechten Ruf, gelten als schmutzig und aggressiv. Aber eines sind sie ganz gewiss nicht, asozial. Selbst in Horrorfilmen treten sie immer in großen Gruppen auf und zumindest dieser Aspekt ihrer Lebensweise wird dabei akkurat abgebildet. Wenn aber Ratten sozial sind, dann sollten sie sich auch um Ihresgleichen kümmern, dachte sich die Neurobiologin Peggy Mason von der Universität von Chicago.

    "Wir haben zwei Ratten zusammengebracht. Eine konnte sich frei bewegen, die andere steckte in einer engen Plexiglasröhre fest. Deren Tür konnte nur von außen geöffnet werden, von der freien Ratte. Das Experiment wurde über zwölf Tage wiederholt, immer eine Stunde lang. Nach einiger Zeit lernte die freie Ratte, die Tür zu öffnen und zwar ganz gezielt. Das ist wirklich neu, dass Ratten aktiv handeln, um anderen Ratten zu helfen."

    Sobald die freien Ratten den Dreh mit der Tür raushatten, befreiten sie die gefangene Ratte ziemlich flott. Wenn in der Plexiglasröhre dagegen ein Spielzeug steckte, gaben sich die Ratten keine Mühe mit dem Türöffnen. Die Ratten halfen dem eingezwängten Mit-Nager aber nicht nur, weil sie einfach nichts Besseres zu tun hatten, so Peggy Mason.

    "Wirklich verblüffend und überzeugend wurde das Experiment, als wir eine zweite Röhre in den Käfig stellten. In der waren Schokoladenstückchen. Die freie Ratte öffnete immer beide Türen. Erstaunlich, das heißt, für sie ist die Befreiung einer gefangenen Ratte ebenso wichtig wie Schokolade. Und Ratten lieben Schokolade!"

    Im Schnitt gaben die Ratten freiwillig ein Drittel der Schokolade ab. So viel Altruismus hätte auch Peggy Mason den Ratten nicht zugetraut. Den evolutionären Ursprung der Empathie vermuten viele Forscher in der Mutter-Kind-Bindung. Gerade Säugetiere, wie Ratte und Mensch, müssen sich lange um ihren Nachwuchs kümmern, da ist es gut, wenn die Alten direkt fühlen, was die Jungen benötigen. Später könnten sich diese Reaktionsmuster auf andere Beziehungen ausgeweitet haben. Etwa auf Mitglieder der eigenen sozialen Gruppe. Ratten leben in einem gemeinschaftlichen Bau unter der Erde. Wenn ein Gang einbricht kann ein Tier feststecken und dann ist es für die anderen Ratten sinnvoll, mitzuempfinden und sie zu unterstützen. Möglicherweise halten die Ratten die enge Plexiglasröhre für einen eingefallenen Gang und reagieren deshalb so hilfsbereit. Allerdings gelingt es nicht allen Versuchsratten, die Tür zu öffnen. Einige Männchen waren vom Anblick ihres eingezwängten Artgenossen offenbar zu erschreckt: Gerade weil sie seine Angst mitempfinden, erstarren sie hilflos.

    "Die freie Ratte muss ihre Angst herunter regulieren, um handeln zu können. Vielleicht ist das das Problem bei den Ratten, die die Tür nicht öffnen. Wir kennen das von Menschen, die die Angst von andren mitempfinden und sich dennoch nicht dazu bringen können, zu helfen."

    Die reine emotionale Ansteckung, das direkte Mitempfinden auf der Basis der Emotionsschaltkreise im Gehirn, ist eben nur ein Teil der Hilfsbereitschaft. Genauso wichtig ist die rationale Kontrolle der Gefühle durch höhere Hirnareale. Solche Zusammenhänge will Peggy Mason jetzt an den Ratten im neurobiologischen Detail untersuchen und dann auch Lehren für den Menschen ziehen. Gerade die Mitmenschlichkeit hat eben tiefe Wurzeln, so Peggy Mason, die bis zur freundlichen Ratte von nebenan reichen.

    "Es gibt diese verbreitete Fehleinschätzung, Empathie sei etwas Kulturelles. Unser Experiment zeigt: Anderen zu helfen, das ist Teil unserer Biologie, unseres Erbes, das wir mit anderen Säugetieren teilen. Das ist für mich eine ziemlich tiefgründige Einsicht."