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'Die Geheimdienste sind nachlässig geworden'

Ensminger: Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Außenministerium der USA in Washington haben Entrüstung auf der ganzen Welt hervorgerufen. Von einer Kriegserklärung ist die Rede, doch gegen wen soll man sich eigentlich verteidigen. US-Präsident Bush kündigte einen geduldigen, aber monomentalen Kampf zwischen Gut und Böse an, in dem das Gute siegen werde; doch wer sind die Bösen? Die Ermittlungen laufen, doch wann mit einem möglichen Vergeltungsangriff zu rechnen ist, wer kann das derzeit wissen. - Am Telefon bin ich nun verbunden mit dem ehemaligen Außenminister der USA, Henry Kissinger. Guten Morgen!

    Kissinger: Guten Morgen.

    Ensminger: Herr Kissinger, was fühlen Sie denn, wenn Sie an die Geschehnisse der vergangenen beiden Tage denken?

    Kissinger: Niemand hat erwartet, dass so etwas möglich sei. Deshalb hat man sich auch gegen diese Art Angriffe nicht genügend vorbereitet, weil man sich das einfach nicht vorstellen konnte. So ist ein gewisses Entsetzen dabei, aber vor allen Dingen eine Entscheidung, dass man jetzt, nachdem dieser Kampf so aufgenommen wurde, ihn gewinnen muss und gewinnen wird.

    Ensminger: Sie haben eben gesagt, man konnte damit nicht rechnen. Die Flugzeuge konnten nun ungehindert nach New York und Washington gelangen. Das lässt vielleicht auch auf ein Versagen der Geheimdienste schließen. Würden Sie das auch so sehen?

    Kissinger: Geheimdienste können nur nach den Dingen suchen, an die sie glauben. Man hat immer erwartet, dass Bomben in Gebäude gebracht werden, in Koffern und vielleicht in Fahrzeugen, aber der Gedanke, dass gekaperte Flugzeuge selbst in Bomben verwandelt werden würden, diesen Gedanken habe ich noch nie gehört. Ich glaube nicht, dass man sich darauf sehr vorbereitet hatte.

    Ensminger: Das heißt die Geheimdienste waren vielleicht ein wenig nachlässig?

    Kissinger: Ich glaube in den zehn Jahren des Friedens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ende des Kalten Krieges ist man etwas nachlässig geworden.

    Ensminger: Herr Kissinger, was hat sich nun für Amerika und für die Amerikaner durch diesen Angriff geändert?

    Kissinger: Was sich geändert hat: Bis jetzt hat man immer darauf gewartet, bis ein solcher Angriff stattfindet. Die Angriffe bis jetzt, weil sie uns verletzten, gingen nie an die Basis unserer Existenz als eine freie demokratische Gesellschaft. Aber jetzt, wo New York und Washington angegriffen worden sind, wird es sicher sein, dass wir versuchen werden, vorbeugende Maßnahmen zu machen und die Terroristengruppen anzugreifen, bevor sie sich organisieren können.

    Ensminger: Heißt das aber auch, dass die Amerikaner tatsächlich im tiefsten Herzen erschüttert sind?

    Kissinger: Ich war seitdem jetzt nicht in Amerika, aber das erwarte ich. Man sollte sich darüber aber nicht die falschen Vorstellungen machen. Sie werden sehen, dass Amerika jetzt völlig geeinigt ist, dass es keine Diskussionen über das geben wird, was man machen soll, oder wenn es sie gibt, dass wir nicht genug machen. Es wird keine Diskussionen geben, dass man dort nachgeben soll.

    Ensminger: Was wird Präsident Bush denn Ihrer Meinung nach tun beziehungsweise was würden Sie ihm raten? Wie könnte eine mögliche Vergeltung aussehen?

    Kissinger: Ich kann nur sagen, was ich raten würde, nicht was er tun wird, obwohl ich glaube, dass viele Dinge in diese Richtung getan werden können. Erst muss man mal identifizieren, welche möglichen Terroristengruppen überhaupt in Betracht gezogen werden sollten. Die Gruppe muss gut organisiert sein. Sie muss viel Geld haben, sie muss technisches Wissen haben. Sie muss Unterstützung in Amerika haben, denn das kann man nicht von 4000 Kilometer weit organisieren. Zudem muss sie irgendwo ein Hauptquartier haben, von wo sie diese Dinge unternehmen können. Da kann es nicht so viele geben.

    Ensminger: Und wenn das bekannt ist, was sollte dann geschehen?

    Kissinger: Dann muss man die angreifen!

    Ensminger: Wie soll das geschehen?

    Kissinger: Das kommt darauf an, wo sie sind. - Zweitens muss jetzt jedem Land klar gemacht werden, dass wenn sie terroristische Gruppen in ihrem Land unterstützen, besonders terroristische Gruppen, die eine größere Reichweite haben, sie dann selbst unter Druck gesetzt werden und dass wir uns das Recht nehmen, diese Terroristengruppen anzugreifen, bevor sie etwas gemacht haben, dass wir nicht einfach sitzen werden, bis wir angegriffen sind.

    Ensminger: Heißt das, es könnte eventuell auch einen Krieg zwischen mehreren Staaten geben?

    Kissinger: Jedes Land hat ja die Möglichkeit. Ich würde annehmen, jetzt dulden viele Länder diese Terroristengruppen, weil die Gefahr von den Terroristengruppen gegen sie größer ist als die Konsequenzen derer Aktivitäten. Ich glaube aber, dass man dieses Verhältnis verändern kann.

    Ensminger: Was heißt das konkret?

    Kissinger: Es ist kein Grund, einen Krieg zwischen uns und Staaten aufzunehmen, die Terroristengruppen unfreiwillig auf ihrem Gebiet haben. Darüber hinaus fängt man notwendigerweise nicht mit militärischen Aktionen an.

    Ensminger: Mit welchen denn?

    Kissinger: Mit wirtschaftlichen, mit Isolierung. Aber ganz gleich wie man anfängt: Man muss, man kann es nicht mehr erlauben, dass diese Gruppen auf der ganzen Welt sich frei organisieren und dass wir warten müssen, bis solch ein Angriff stattgefunden hat, bevor wir etwas unternehmen können.

    Ensminger: Das bedeutet aber, dass Sie zunächst nicht raten würden, einen wie Bush es sagt monomentalen Kampf zu führen?

    Kissinger: Aber der betrifft uns alle. Das ist nicht ein amerikanischer Kampf. Das hätte genauso gut in Berlin geschehen können.

    Ensminger: Bush soll zunächst, wenn Sie ihm einen Ratschlag geben könnten, nicht mit militärischen Vergeltungsschlägen reagieren?

    Kissinger: Er soll sich nicht nur darauf konzentrieren, wie man einen militärischen Vergeltungsschlag macht. Er sollte erst den Kampf organisieren. Wenn wir wissen, wer es getan hat, ungefähr wissen, wer es getan hat, dann sollten wir einen Vergeltungsschlag machen. Man sollte aber nicht denken, dass ein Vergeltungsschlag die Sache dann beendet.

    Ensminger: Was glauben Sie denn?

    Kissinger: Es ist viel wichtiger, gegen die Organisationen vorzugehen, als Rache zu üben.

    Ensminger: Nun weiß man - das haben Sie ja auch schon angesprochen - nicht hundertprozentig, wer hinter dem Anschlag steckt.

    Kissinger: Ich habe keine Ahnung, aber jeder spricht von bin Laden. Er hat jedenfalls die Möglichkeit. Es kann andere Gruppen geben, aber es kann nicht viele Gruppen geben.

    Ensminger: Das heißt, Sie würden es nicht ausschließen, es kann sehr wohl möglich sein, dass bin Laden dahinter steckt?

    Kissinger: Ja. Ich glaube nicht, dass es ein größeres Land war wie etwa der Iran, denn das würde viel zu gefährlich für dieses Land sein. Aber es ist mir gleich wo es herkommt. Wo es auch herkommt werden wir Gegenmaßnahmen treffen müssen.

    Ensminger: Kommen wir mal zur NATO. Die hat gestern beschlossen, dass der Anschlag als Angriff gegen alle gesehen wird. Der Bündnisfall tritt nun ein. Was erwarten Sie jetzt von der NATO selbst?

    Kissinger: Ich hoffe - das ist jetzt eine Konzeption, die ich hier entwickelt habe -, dass wir jetzt nicht untätig warten, bis ein solcher Angriff stattfindet, dass die wenigstens bei dem politischen und wirtschaftlichen Druck, der dort jetzt ausgeübt werden muss, mitmachen werden und ihn unterstützen. Das glaube ich auch und ich bin sehr beeindruckt - ich bin natürlich jetzt nur in Deutschland - von den vielen Zeichen deutscher Unterstützung, selbst persönlich von vielen deutschen Freunden, die mir geschrieben haben oder die mich angerufen haben, obwohl sie gar nicht wussten wo ich war. Natürlich bin ich sehr dankbar für die Unterstützung der deutschen Regierung gegenüber der amerikanischen Regierung.

    Ensminger: Eine tiefe Solidarität, hieß es gestern, empfinde man mit Amerika. Nun sieht es so aus, dass hier auch Sorge davor besteht, dass es zu militärischen Aktionen kommen könnte. Was glauben Sie, wann ist mit einem Gegenschlag zu rechnen?

    Kissinger: Das kann ich nicht beurteilen. Man soll sich aber nicht auf den Gegenschlag konzentrieren. Es gibt nicht einen Schlag, der die Sache aus der Welt schaffen kann oder die Gefahr aus der Welt schaffen kann.

    Ensminger: Vielen Dank! - Henry Kissinger war das, ehemaliger Außenminister der USA. Danke, dass Sie Zeit für uns hatten!

    Link: Interview als RealAudio