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Die Geschichte der Philosophie
Jürgen Habermas und die Rettung der Moderne

Seit gut 60 Jahren reflektiert der deutsche Philosoph Jürgen Habermas über die Moderne und ihre Gefährdungen. In seinem neuen Werk "Geschichte der Philosophie" untersucht er die Potenziale der Philosophie, um einer strauchelnden, aufgeklärten, modernen Gesellschaft Zuversicht geben zu können.

Von Thomas Meyer | 01.03.2020
Jürgen Habermas, deutscher Philosoph, spricht am 4.7.2018 im ZDF-Hauptstadtstudio in Berlin. Habermas erhielt den deutsch-französischen Medienpreis.
Der Philosoph Jürgen Habermas 2018 bei der Verleihung des deutsch-französischen Medienpreises (picture alliance / dpa / Arne Immanuel Bänsch)
Mit dem Erscheinen von "Auch eine Geschichte der Philosophie" im November 2019 hat der 90-jährige Philosoph Jürgen Habermas sein Lebenswerk gekrönt. Die 1.752 Seiten sind dabei nur auf den ersten Blick eine traditionelle Philosophiegeschichte. Welche Aussagen taugen für eine Zukunftsperspektive in der 2.500-jährigen Geschichte der Philosophie? Nach Habermas lässt sich eine Perspektive gewinnen aus dem alten Konflikt zwischen Glaube und Wissen.
Ideenhistoriker Thomas Meyer nimmt die "Geschichte der Philosophie" zum Anlass, deren Tragfähigkeit und Zeitgemäßheit zu untersuchen. Und er hinterfragt kritisch die so groß und heroisch klingenden Begriffe Aufklärung, Fortschritt und Moderne für das 21. Jahrhundert.
Thomas Meyer studierte in München Philosophie und neuere deutsche Literatur und wurde 2003 dort promoviert, 2009 habilitierte er sich in München im Fach Philosophie. Nach zahlreichen Fellowships und Gast-Professuren lehrt Thomas Meyer heute in Kiel. Er verfasst Radiosendungen, Bücher zur Philosophie des 20. Jahrhunderts und gab unter anderem drei Bände von Hannah Arendt heraus.

Als im vergangenen Herbst der 90-jährige Philosoph Jürgen Habermas die zweibändige Studie "Auch eine Geschichte der Philosophie" vorlegte, war man nicht nur wegen des Umfanges von mehr als 1.700 Seiten überrascht und beeindruckt. Habermas hatte eine Entwicklungsgeschichte über die "okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen und die Spuren über Glauben und Wissen unter der Prämisse vernünftiger Freiheit" veröffentlicht, wie es in den Untertiteln hieß.
Dieser Abschluss einer weit über 60-jährigen Publikationstätigkeit schien nicht zu dem systematischen Anspruch seines Denkens zu passen. Da half es auch den ersten Lesern zunächst wenig, sich daran zu erinnern, was Habermas seit gut 40 Jahren beschäftigte:
Das Verhältnis zwischen dem modernen säkularen Staat und den immer deutlicher artikulierten Ansprüchen der Glaubensgemeinschaften.
Warum sollte eine entlang der Idee des Lernens geschriebene Philosophiegeschichte uns dabei helfen können, die massiven Brüche und Risse in der Gegenwart besser zu verstehen?
Wer das ernsthaft beantworten möchte, muss sich kurz noch einmal die zentralen Ideen der Habermasschen politischen Philosophie vergegenwärtigen.
Habermassche Grundüberzeugung: Projekt der Moderne muss vollendet werden
"Die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen."
Dieses Zitat von Jürgen Habermas stammt aus dem Jahr 1983. Und damit aus einer vollkommen anderen Welt. Gleichwohl drückt es ohne Abstriche die Grundüberzeugung des nunmehr 90-jährigen Philosophen bis zum heutigen Tage aus. Das von ihm ausgerufene "unvollendete Projekt der Moderne" müsse "ohne Möglichkeiten der Ausflucht" fortgesetzt werden.
Denn "unabgegolten", also noch nicht eingelöst, seien die Potentiale der aus der Aufklärung hervorgegangenen Ideen Freiheit, Moral und Toleranz. Gesichert und weiterentwickelt werden sie, so denkt Habermas, im liberalen Rechtsstaat.
Dessen Institutionen seien es, die mündigen Bürgern die Möglichkeiten verschaffen, in offenen Auseinandersetzungen Chancen und Risiken persönlicher und politischer Entscheidungen abzuwägen. Was für diese Bürger als das Beste erscheint, müsse in ständigem, kritischem Bezug auf das Gemeinwesen geprüft werden, welches von ihnen verantwortet werde.
"Das zwischen 'Person' und 'Gesellschaft' ausgespannte Netz normativer Begriffe soll sich allerdings an den Alltagsintuitionen einer an Rechtsstaat und Demokratie gewöhnten Bevölkerung validieren lassen. […] Denn im demokratischen Rechtsstaat müssen sich die Bürger selbst in der politischen Öffentlichkeit – und aus gegebenen Anlässen immer wieder – von der Legitimität der Herrschaftsordnung überzeugen können."
Doch das reicht nicht – jegliche Überzeugung muss verankert, rechtlich gesichert und zugleich alltagstauglich werden können. In seiner Studie "Faktizität und Geltung" von 1992 kann man daher Folgendes lesen:
"Im Lichte dieser Idee der Selbstkonstituierung einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen sind die eingespielten Praktiken der Erzeugung, Anwendung und Implementierung von Recht unausweichlich der Kritik und Selbstkritik ausgesetzt. […] Die paradoxe Leistung des Rechts besteht also darin, dass es das Konfliktpotential entfesselter subjektiver Freiheiten durch Normen zähmt, die nur so lange zwingen können, wie sie auf dem schwankenden Boden entfesselter kommunikativer Freiheiten als legitim anerkannt werden."
Habermas benutzt hier ein klassisches demokratietheoretisches Argument. Demnach reicht es nicht, wenn die bestehende Herrschaftsordnung bloß von gewählten Repräsentanten geprüft wird. Oder wenn über die Herrschaftsordnung bloß bei Wahlen entschieden wird. Ständig und jederzeit muss sich der demokratische Rechtsstaat an den Grundsätzen messen lassen, die er sich selbst in der Verfassung auferlegt hat. So soll das gewährleistet werden, was im Begriff der "Kommunikation" bei Habermas zusammenläuft. Politisch gesprochen bedeutet "Kommunikation": Der Bürger versichert sich ständig darüber, dass der von ihm legitimierte Staat Freiheit, Recht und Moral garantiert und seine Handlungen darauf gründet. Dafür verlangt der Staat, dass sich der Bürger ihm kritisch verpflichtet weiß.
Wenn es das ist, was die verwirklichte Moderne ausmacht, dann müssen die Annahmen zu "Kommunikation" und vernünftiger Argumentation gleichermaßen für Philosophie und Religion sowie für die Reflexion über Philosophie und Religion gelten. Dann dürfen der Tradition entnommene Begriffe wie "Metaphysik", "das gute Leben" oder "Gott" nicht länger die unerreichbaren Gipfelpunkte sein, die lediglich philosophische und theologische Expertenkader zu denken vermögen. Genau jener Expertenkader hat nämlich bereits mit der Aufklärung den entscheidenden Schlag erhalten. Seitdem befanden sich die Verteidiger alter Ordnungen in der Begründungsdefensive. Damit machten sie Platz für das, was Habermas als "nachmetaphysisches Denken" bezeichnete.
Bedeutung der Religion wichtig für Habermas
Doch das klingt zu schön, um je wahr geworden zu sein. Und deshalb verband Habermas stets zweierlei: die theoretische Grundlegung seines unabgegoltenen Projekts der Moderne mit der Analyse der gesellschaftlichen und politischen Verhinderungsgründe.
Waren es in den achtziger und neunziger Jahren noch die restaurativen Tendenzen der Politik in Gestalt von Helmut Kohl und Ronald Reagan, kamen im 20. Jahrhundert die Folgen eines globalisierten Kapitalismus und die Krise der liberalen Demokratie hinzu. Und an die Stelle des Irrationalismus und Relativismus begeisterter französischer Philosophen traten bei Habermas die Prediger und Propheten von Fundamentalismus und Populismus.
Und in der Folge beobachtete Habermas das, was der Münchner Religionsintellektuelle Friedrich Wilhelm Graf öffentlichkeitswirksam unter dem Buchtitel "Die Rückkehr der Religionen" zusammenfasste.
Obgleich Habermas seit Jahrzehnten im Austausch mit Theologen stand, schienen seine Überlegungen die religiösen Gehalte in der Moderne in bemerkenswerter Weise zu unterschätzen. Das musste umso mehr erstaunen, als sein Weckruf, die Moderne müsse endlich die Verantwortung für ihre Selbstermächtigung übernehmen und dürfe nicht länger vom Kapital der Vergangenheit leben, einen Vorgänger in Immanuel Kant hatte. Und es war Kant, der wohl den größten Einfluss auf Habermas hatte. Kants gerne zitierte "Revolution der Denkart" wollte die Philosophie von der Theologie lösen.
Die Philosophie als genuine Wissenschaft sollte für das Subjekt, wie für die Gemeinschaft verbindliche Rationalitätsstandards festlegen können. Je mehr Habermas Kants Programm für gescheitert hielt, desto mehr interessierte er sich für die Bedeutung von Religion und für ihre theologische Deutung. Und zwar in dem Maße, wie sich in den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam fundamentalistische Ideen durchsetzten und die politischen Folgen weltweit spürbar wurden. Und so erklärte Habermas am 19. Juli 2012 in der Münchner Carl‑Friedrich‑von‑Siemens‑Stiftung:
"Der liberale Staat ist […] mit religiösem Fundamentalismus unvereinbar. In diesem Konflikt tritt eine Gestalt der Moderne einer anderen, als Reaktion auf entwurzelnde Modernisierungsprozesse entstandenen Gestalt der Moderne entgegen. Der liberale Staat kann seinen Bürgern gleiche Religionsfreiheiten – und ganz allgemein gleiche kulturelle Rechte – nur unter der Bedingung garantieren, dass diese gewissermaßen aus den integralen Lebenswelten ihrer Religionsgemeinschaften und Subkulturen ins Offene der gemeinsamen Zivilgesellschaft heraustreten."
An dieser Feststellung ist weniger bemerkenswert, dass Habermas eine klare Grenze gegenüber dem religiösen Fundamentalismus zieht – das ist schließlich selbstverständlich. Wesentlich ist, dass Habermas 2012 hier eine Denkfigur entwickelt, die maßgeblich für die weitere Beschäftigung mit Religion bleiben wird. Religiöse Anschauungen müssen sich dem liberal-säkularen Diskurs unterwerfen.
"Daher muss der liberale Staat den säkularen Bürgern nicht nur zumuten, religiöse Mitbürger, die ihnen in der politischen Öffentlichkeit begegnen, als Personen ernst zu nehmen. Er darf von ihnen sogar erwarten, dass sie nicht ausschließen, in den artikulierten Inhalten religiöser Stellungnahmen und Äußerungen gegebenenfalls eigene verdrängte Intuitionen wiederzuerkennen – also potenzielle Wahrheitsgehalte, die sich in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation einbringen lassen."
Die einseitige Haltung der Habermasschen Überlegungen gegenüber Religion und Theologie wird an keiner Stelle deutlicher als hier. Während die Philosophie unverdrossen die nicht eingelösten oder "unabgegoltenen" Chancen einer unvollendeten Moderne ausschöpft, bekommen die Religiösen und Theologen nur ein Aufenthaltsrecht in der Vernunftrepublik. Sind sie jedoch bereit, ihre Einsichten in die Sprache der Moderne übersetzen zu lassen, wird sich diese dem Ansinnen nicht verweigern.
"Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen"
Damit hätten wir in etwa den Stand erreicht, auf dem das Werk "Auch eine Geschichte der Philosophie" beginnt – und zugleich endet. Denn die als komplexe Lerneinheit konzipierten über 1.700 Seiten schließen mit einem Satz, der die gesamten Anstrengungen des Autors auf den Punkt bringt – und auf dessen Beweis er sein gesamtes Denken ausgerichtet hat.
"Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern."
Dieser erstmals 1957 aufgeschriebene Satz seines Lehrers Theodor W. Adorno ist es, dem Habermas in "Auch eine Geschichte der Philosophie" auf die Spur kommen möchte. 1.700 Seiten für einen Satz? Doch hören wir dazu Habermas selbst:
"Am Leitfaden dieses Satzes habe ich versucht, den Prozess der 'Einwanderung' theologischer Gehalte ins profane Denken als einen philosophisch nachvollziehbaren Lernprozess darzustellen. Soweit mir das gelungen ist, kann diese Genealogie nachmetaphysischen Denkens selbst als ein Versuch verstanden werden, uns zum Gebrauch unserer vernünftigen Freiheit zu ermutigen."
Die "Geschichte der Philosophie" ist also "auch" ein Lernprozess. Einer, der nun nicht mehr für sich reklamiert, das "Projekt der Moderne" über die "unabgegoltenen" Ressourcen der Aufklärung ins Ziel zu führen. Doch wie soll das gehen? Beweist nicht gerade der religiöse Fundamentalismus, das er völlig immun ist gegen den Traum vom "theologischen Gehalt" der "nicht unverwandelt fortbestehen" wird? Wer die Hoffnung, dass dies doch gelingen könnte, im Werk von Habermas verstehen möchte, der muss sich dessen Begriff von Religion genauer anschauen. Denn jede noch so radikale Religion, die gesellschaftlich einwirken möchte, folgt Regeln, die der Theologe Riten nennt:
"Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt – und solange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ins Profane harren."
Im Ritus aktualisiert sich der gesamte außerweltliche Gehalt von Religion. Demnach ist der Ritus die höchste Hürde für das Vorhaben zu zeigen, dass religiöse Inhalte ins Profane überführt werden können. Damit das Vorhaben gelingen kann, knüpft Habermas an Theologien an, welche die rituelle Praxis möglichst rational begründet haben. Denn damit gibt es Überschneidungen bei den Rationalitätsstandards, wie sie die Philosophie verlangt. Genau dieser Punkt fasziniert Habermas und er versucht, ihn ganz für sein Vorhaben auszunutzen: Denn je rationaler die Theologie wird, desto säkularer wird sie. Genau diesen Prozess aber hat die Philosophie selbst längst durchlaufen. Und zumindest Habermas versetzt sie in die Lage, die theologische Rationalität zu reformulieren. Dieses Potential entdeckte die Philosophie – das kann niemanden verwundern – in der Aufklärung.
"Mich interessiert dieser Einschnitt, weil das von der Philosophie eingeleitete Aufklärungszeitalter für die säkular gewordene Philosophie eine Wegscheide bedeutet, an der das nachmetaphysische Denken selbst sich gabelt. Mit Hume und Kant verzweigen sich die Pfade. Das nachmetaphysische Denken entfaltet sich auf der einen Seite, gewissermaßen vorbei am sogenannten deutschen Idealismus, zu Spielarten einer im engeren Sinne 'wissenschaftlichen' Philosophie, während es sich auf der anderen Seite – seit Feuerbach, Marx und Kierkegaard – weiterhin an der Gedankenbewegung von Kant bis Hegel abarbeitet. Diese Tendenzen lassen sich bis weit ins 20. Jahrhundert auf die mentalen Profile einzelner Schulen oder auf die Interessenschwerpunkte einzelner einflussreicher Philosophen beziehen."
Die Potentiale der Aufklärung werden also in unterschiedliche Kanäle geleitet. Die Philosophie wird – in dieser Lesart – in der Religion nur noch ein irrationales Relikt sehen, das die Moderne somit gefährdet. Und daher ignoriert man die Religion oder erklärt sie logisch weg.
Die zweite Spielart der Philosophie kann nicht anders, als sich das von Kant und Hegel problematisierte Verhältnis zur Religion immer wieder vorzulegen – und zwar in der Gestalt der Theologie. Habermas will, hierin ganz ein positiver Dialektiker, diese beiden gegenläufigen Tendenzen der Philosophie versöhnen.
Rationalitätsstandards der Philosophie benötigen keine Kompromisse
Auch wenn im Habermasschen Repertoire Emphase nicht vorkommt, so lässt sich schwer leugnen, wie leidenschaftlich er hier ein Ordnungsschema etabliert. Statt alter Unübersichtlichkeit soll die Philosophie noch einmal die Gegensätze vereinen.
"Der Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll die Frage beantworten, ob und gegebenenfalls wie die philosophische Bearbeitung von überwältigend komplexen Problemen dieser Art auch unter Bedingungen nachmetaphysischen Denkens fortgeführt worden ist."
Habermas sucht in "Auch eine Geschichte der Philosophie" folglich nur vordergründig in der philosophischen Tradition nach Anschlussmöglichkeiten. Der Reiz seines Rigorismus besteht genau darin, dass die Rationalitätsstandards der Philosophie keine Kompromisse benötigen. Nur sie sind es, die garantieren, dass es vernünftig zugeht.
"Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen wir eine Reihe bedeutender philosophischer Versuche, eine Theorie der Moderne zu entwerfen, um auf diesem Wege das aus ihrer Sicht richtige professionelle Selbstverständnis von Philosophie zu begründen. Diese Theorien verdienen schon deshalb Interesse, weil sie für den Typus einer vernunftkritisch durchgeführten Welt- und Selbstverständigung exemplarisch sind. Ironischerweise widersprechen gerade diese philosophischen Ansätze meiner eigenen Intention. Sie alle laufen nämlich auf eine wenig überzeugende Kultur- und Gesellschaftskritik hinaus, die das philosophische Denken der Gegenwart entweder zur Theologie des Mittelalters oder zur griechischen Metaphysik oder gar zu den Quellen vorsokratischen Denkens zurückrufen möchte. Im Lichte dieser nostalgischen Ordnungsrufe kann sich die forcierte Verwissenschaftlichung der Philosophie erst recht als die überzeugendere Alternative zu einem aus analytischer Sicht 'verwilderten' Denken präsentieren. Tatsächlich scheitern diese Krisentheorien daran, dass sie sich der Frage, mit der ihnen Hans Blumenberg kritisch entgegentritt, gar nicht erst gestellt haben: Könnten sich die theoretischen Weichenstellungen zum nachmetaphysischen Denken, auf die sie jeweils die Krise der Gegenwart zurückführen, nicht vielleicht als Ergebnisse intrinsisch überzeugender Lernprozesse durchgesetzt haben?"
Man könnte hier selbst ironisch werden und von einem Bekenntnis sprechen. Habermas weicht auch angesichts des eigenen Vorhabens nicht von der 1983 ausgegebenen Parole zurück, die Moderne dürfe sich nur auf sich selbst verlassen und nicht die Asservatenkammern der Vergangenheit plündern. So reizvoll die Angebote auch sein mögen, welche die großen Namen und Werke mit sich führen: Wer Adornos Diktum vom Abbau theologischer Gehalte und deren Übersetzung in vernünftiges nachmetaphysisches Denken begründen will, der darf sich nicht im Gestern einrichten. Deshalb versichert sich Habermas in "Auch eine Geschichte der Philosophie" gleich mehrfach seines Vorhabens:
"Auch nach der Loslösung vom theologischen Kontext kann sich das nachmetaphysische Denken, ohne irgendeinen Kompromiss einzugehen, zur Religion wie zu einer anderen, in ihrem Sinne um Wahrheit konkurrierenden Gestalt des objektiven Geistes verhalten. Und dies umso eher, als die Theologie selbst seit Kierkegaard eine anthropologisch-nachmetaphysische Gestalt angenommen hat."
An Stellen wie diesen schlägt die Habermassche Dialektik erbarmlos zu. Die Verführungen rationaler Begründungen haben die Theologen zu Philosophen werden lassen. Indem sie ihr Glaubensgeschäft dem Diskurs untergeordnet haben, bauen sie den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen ab und landen im Reich der Freunde der Weisheit – ob sie wollen oder nicht. Der aufgeklärte Aufklärer Habermas entlarvt hier in guter alter Aufklärungstradition die Religion und ihre theologischen Helfer: Wer über sein Sujet nachdenkt, verlässt die Schutzhülle des Glaubens. Doch Habermas triumphiert nicht, sondern treibt den Stachel der philosophischen Überlegenheit nur tiefer ins Fleisch der Religion:
"Dabei teilt sie, die Religion, das Autonomiebewusstsein einer Moderne, die sich ganz aus eigenen normativen Ressourcen begründet. Ebenso begründet sich das nachmetaphysische Denken, das sich vom rechtfertigenden Rekurs auf Glaubenswahrheiten emanzipiert hat, selbst aus eigenen Prämissen. Zwar weist es den holistischen Wahrheitsanspruch zurück, der sich mit dem religiösen Versprechen einer rettenden Gerechtigkeit verbindet. Aber diese Grenzziehung nötigt die Philosophie nicht dazu, die Möglichkeit auszuschließen, dass sich in religiösen Überlieferungen auch weiterhin Wahrheitsgehalte auffinden lassen, die gegebenenfalls auf dem Wege einer hermeneutisch sensiblen Übersetzung als wahrheitsfähige Aussagen in allgemein zugängliche Diskurse eingeholt werden können."
Die Philosophie ist wieder obenauf. Gelungen ist das jedoch nur durch die Behauptung, dass die theologische Rationalität selbst ihre außerweltlichen Hoffnungen abbaut. Ganz ohne Zweifel geht es dann aber doch nicht, schließlich will Habermas ja eine Geschichte der Philosophie präsentieren, aus der auch gelernt werden kann. Etwa "wenn ein säkulares nachmetaphysisches Denken, wie vorgeschlagen, zu Glaubensmächten eine lernbereite dialogische Einstellung einnähme, aber letztlich autonom urteilte."
Was aber heißt hier "letztlich"? Gilt also doch nur der Eigensinn der Philosophie, die es in der Vergangenheit nur versäumt hat, die Religion und deren Wissenschaft namens Theologie ausreichend an ihre eigenen philosophischen Grundannahmen zu erinnern? Oder in den Worten von Jürgen Habermas:
"Wie muss sich ein nachmetaphysisches Denken verstehen, das sich gegenüber dem semantisch gehaltvollen Anregungspotential oder gar einem möglichen, der philosophischen Übersetzung zugänglichen Wahrheitsgehalt von religiösen Überlieferungen lernbereit verhält, aber nicht bereit ist, dafür Abstriche am autonomen Gebrauch der Vernunft vorzunehmen?"
Man könnte den Eindruck gewinnen, dass wir uns im Kreis bewegen. Die Moderne steht auf eigenen Füßen, der Boden, auf dem diese Moderne stehen möchte, ist aber durch und durch religiös-theologisch durchtränkt. Und es steigen nicht nur gefährliche Dämpfe aus diesem Boden auf. Nein, Religion und Theologie bestreiten, dass die Moderne mit philosophischen Mitteln auf dem Terrain der Religion begründet worden sei.
Also gilt es dem vermeintlichen Eigentümer des Terrains nachzuweisen, dass er zum einen schon immer seine Ansprüche in einer fremden Sprache, nämlich der philosophischen begründet hat. Und zum anderen profitiert er ganz entscheidend davon, dass er unbewusst philosophische Argumente übernommen hat: Denn in der säkularen Welt konnten Religion und Theologie nur überleben, weil sie sich kommunikativ verhielten und sich Deutungskonkurrenten gegenüber verständlich machen konnten. Und diese Übersetzungsleistung verdanken sie der Philosophie.
Kriterien-Katalog für das Konfliktfeld von Glauben und Wissen
Doch dabei bleibt Habermas nicht stehen. Er geht noch einen Schritt weiter und überholt die religiös-theologische Ambition sogar noch dort, wo sie traditionell am empfindlichsten ist: bei ihrem Universalismus.
"Verständlicherweise setzt sich das nachmetaphysische Denken, wenn es als Ergebnis eines okzidentalen Lernprozesses dargestellt wird, schon beim ersten Schritt zur Verallgemeinerung diesem Einwand aus. Daher müssen wir die westliche Philosophie von vornherein als eine von mehreren Stimmen in das Konzert der achsenzeitlichen Weltbilder einführen – und sie selbst muss sich als nachmetaphysisches Denken auch so begreifen. Empirisch muss sie jeden Verdacht gegen einen erneut verschleierten Partikularismus gegen sich gelten lassen und als Herausforderung zur Prüfung der fahrlässig-selektiven Anwendung einstweilen aufrechterhaltener universalistischer Ansprüche nehmen."
An Stellen wie diesen klingt der Geist Max Webers durch. Habermas setzt sich spätestens seit den sechziger Jahren mit dessen Großtheorie vom okzidentalen Rationalismus auseinander. Eine Tatsache, die so manchen Kritiker nach den protestantischen Spurenelementen bei Habermas hat suchen lassen. Ist also der Übersetzer religiös-theologischer Gehalte gar selbst ein Theologe? In "Auch eine Geschichte der Philosophie" könnte man bei Passagen wie diesen tatsächlich auf diese Idee verfallen:
"Die reformatorische Theologie Luthers steht am Ende des Weges einer hartnäckigen philosophischen Selbstbefragung. Mit der Reflexion auf die Vernünftigkeit ihres Glaubens hatte die Theologie unbeabsichtigt die Säkularisierung des Wissens und der Staatsgewalt vorangetrieben und damit die eigene Machtstellung in Universität und Staat untergraben. Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu ermutigen, den Menschen nach wie vor als das 'Vernunft habende' Tier zu begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft festzuhalten. Seine Vernunft besteht im Gebrauch der Vernunft, und zwar im Operieren mit allen Gründen, von denen sich der menschliche Geist im Umgang mit Anderen und mit der Welt affizieren lässt."
Doch es wäre ein billiges Ende, wollte man diese lernbereite und offene "Geschichte der Philosophie" bloß als eine protestantische Variante säkularen Denkens betrachten. Sie ist vielmehr und zugleich etwas gänzlich Anderes. In seinem letzten Werk formuliert Habermas nämlich einen emphatischen Katalog von Kriterien, die nötig sind, damit wir überhaupt vernünftig über das Konfliktfeld von Glauben und Wissen reden können.
Das nachmetaphysische Denken muss die religiös-theologischen Ansprüche von Gläubigen nicht nur akzeptieren. Es muss den Gläubigen auch ermöglichen, ihre Einwürfe gegen den säkularen liberalen Rechtsstaat geltend zu machen. Lernen, gerade im philosophischen Sinne, hieße hier also auf das zu verzichten, was Adorno apodiktisch bekanntlich so ausdrückte:
"Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern."
Die hier behauptete abschüssige Bahn, die ausschließlich das Theologische munter ins Philosophische fließen sieht, wirkt angesichts der Habermasschen Überlegungen schal. Habermas ist letztlich, bei aller Emphase für die Selbstheilungskräfte der Philosophie und ihrer genuinen Überlegenheit gegenüber anderen rational begründeten Ansprüchen, ein aufgeklärter Aufklärer. Und als solcher weiß er, dass es der Philosophie nie guttat, wenn sie als überlegen auftrat.
Liest man "Auch eine Geschichte der Philosophie" folglich vor allem als Vermächtnis einst heroischer Moderneentwürfe, dann ließe sich daraus immerhin eine Perspektive formulieren: Entdecken Theologie und Philosophie ihre jeweiligen Veränderungen als einen genuin modernen Prozess, dann ließe sich in der Tat emphatisch an das Unabgegoltene, das unvollendete Projekt der Moderne als sinnvolle Aufgabe – glauben.