Donnerstag, 25. April 2024

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Die Kirche in der Krise
"Der säumige Gärtner, das sind teilweise wir"

Damit die jüdisch-christliche Glaubenstradition fortbestehen könne, müsse sie gepflegt und bewässert werden, sagte der ehemalige Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, Christian Wolff, im Dlf über die sinkende Zahl der Kirchenbesucher in Deutschland. Beim Reformationsjubiläum sei dieses Thema aber ausgeklammert worden.

Christian Wolff im Gespräch mit Christoph Heinemann | 22.12.2017
    Leere Kirchenbänke stehen in der St.Anna Kirche in Düren (Nordrhein-Westfalen)
    Leere Kirchenbänke wie hier in Düren, sind ein bundesweites Problem. Der ehemalige Pfarrer der Leipziger Thomaskirche Christian Wolff kritisierte im Dlf, dass die Kirche über die Krise in der sie stecke, nicht sprechen würde. (picture alliance / dpa / Horst Ossinger)
    Christoph Heinemann: Die Kirchen werden am Sonntag, an Heiligabend wieder gefüllt sein – gehört für viele irgendwie zu Weihnachten: die Musik, die feierliche Liturgie. Dass auch ungeübte Kirchgänger diese Gottesdienste besuchen, merkt man schnell am Geräuschpegel und an dem Eingangsgebet, "Bitte schalten Sie Ihre Handys aus!"
    In vielen protestantischen Gottesdiensten wird in diesem Jahr zurückgeschaut. Das Luther-Jahr 2017 neigt sich. Vor 500 Jahren entfachte ein unbekannter Augustinermönch eine Revolution. Geplant hatte er bestenfalls eine Reformation seiner, der Katholischen Kirche, stieß damit in der Hierarchie aber auf taube Ohren.
    Reformation, das Stichwort für die Theologen Friedrich Schorlemmer und für Christian Wolff, den ehemaligen Pfarrer der Leipziger Thomaskirche. Die beiden haben im September ein Memorandum veröffentlicht und ihrer Evangelischen Kirche Selbsttäuschung vorgeworfen. Sie vermissen, dass die Kirche die Krise, in der sie sich befindet, offen anspricht.
    Dazu passt eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Allensbach, das die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" in dieser Woche veröffentlicht hat. Sie besagt, eine wachsende Zahl der Deutschen meint, dass das Land stark durch christliche Werte geprägt ist. Gleichzeitig gehen aber immer weniger Menschen in die Kirchen.
    Vor dieser Sendung habe ich mit Christian Wolff gesprochen und ihn gefragt, welchen Reim er sich darauf macht.
    Christian Wolff: Ja, man freut sich an einem schönen Blumenstrauß, aber vergisst, ihn zu gießen.
    " Erfordert, dass die Glaubenstradition auch in die nächste Generation gegeben werden"
    Heinemann: Das heißt?
    Wolff: Das heißt, von nichts kommt nichts. Es ist wunderbar, wenn die Menschen sich wieder darauf besinnen und auch wahrnehmen, wie wichtig die Glaubenstradition der Kirchen ist, wie wichtig auch die Werte, die sich aus der jüdisch-christlichen Glaubenstradition herausgebildet haben, für unser Leben sind. Aber das ist kein Selbstläufer; das erfordert, dass die Glaubenstradition auch in die nächste Generation gegeben werden muss und auch gepflegt werden muss und bewässert werden muss.
    Heinemann: Wer ist der säumige Gärtner?
    Wolff: Der säumige Gärtner, das sind teilweise wir.
    Heinemann: Das heißt, die Kirche!
    Wolff: Ich schließe mich da ein. Ja, natürlich! Aber es sind auch die Menschen, die leider viel zu viele Dinge, die sehr wertvoll sind, als selbstverständlich hinnehmen und vergessen, dass das Gute, das Lebenswerte immer auch der Pflege bedarf.
    Heinemann: Sie sprechen das aus. Sie werfen Ihrer Kirche vor, nicht über die Krise zu sprechen. Warum nicht?
    Wolff: Ja. Warum nicht? – Es ist ja zunächst einmal eine Feststellung, die viele inzwischen getroffen haben, nachdem Friedrich Schorlemmer und ich das Memorandum Anfang September herausgebracht haben, nämlich dass ein Thema beim Reformationsjubiläum ausgeklammert wurde: die Gemeinde und die krisenhafte Situation vieler, vieler Kirchgemeinden, flächendeckend in Deutschland, aber auch insbesondere in Ostdeutschland, unabhängig von der erfreulichen Tatsache, dass es Gott sei Dank viele blühende Kirchgemeinden auch gibt. Aber wir befinden uns insgesamt gesehen in einer Krise, dass wir nicht mehr klar und deutlich benennen können, was sind unsere Ziele, warum soll es Kirche am Ort, in einer Stadt wie Leipzig oder in einem Dorf geben.
    Heinemann: Herr Wolff, es gibt in der Kirche doch hervorragende Theologen, lauter kluge Leute. Warum reden die nicht darüber?
    Wolff: Auch das müssten Sie jetzt die fragen. Ich finde, wir sind da viel zu defensiv. Worum geht es? – Es geht ja vor allem darum, - das ist ja auch ein Thema an Weihnachten - dass wir als Kirche Menschennähe praktizieren und auch die biblische Botschaft menschennah kommunizieren.
    Heinemann: Wie sollte Kirche über die Krise der Kirche sprechen?
    Wolff: Offen, ehrlich und vor allen Dingen mit den Menschen vor Ort. – Ungeschützt, das ist das Allerwichtigste. Es geht jetzt nicht um den großen theologischen Entwurf von Kirche, sondern es geht darum, was ist unser Auftrag als christliche Gemeinde im Stadtteil Eutritzsch von Leipzig, oder in einer Stadt wie Köln, oder in einem kleinen Ort wie Groitzsch.
    Heinemann: Und was ist der Auftrag?
    Wolff: Der Auftrag ist, dass wir die wunderbare biblische Botschaft mit der Grundaussage, jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes und mit Recht und Würde gesegnet, dass wir diesen Auftrag und diese Botschaft keinem Menschen vorenthalten. Und zwar jetzt nicht gedacht in den sieben Milliarden Menschen, die auf der Erde leben, sondern gedacht im Blick auf die zwei, 3000 Menschen, die in einer Kirchgemeinde oder an einem Ort zusammen leben und dort ihr Zusammenleben einigermaßen vernünftig gestalten müssen.
    "Wir werden nur gemeinsam einen Weg finden und nicht gegeneinander"
    Heinemann: Was heißt diese biblische Botschaft jetzt für den konkreten politischen Fall? Nehmen wir mal das politische Thema der letzten Jahre auf. Muss die Kirche lernen, auch die Menschen ernst zu nehmen, die meinen, dass die Zuwanderung so vieler Menschen wie in den letzten Jahren nicht gut ist?
    Wolff: Die Grundbotschaft der Bibel ist, sinnvolles Leben und menschenwürdiges Leben ist nur möglich, wenn Kain und Abel einen Weg zusammen finden. Die Bibel erzählt ja die Geschichte, dass Kain seinen Bruder Abel erschlägt, weil er ihn nicht ertragen kann, und sie entlarvt diesen Weg als den falschen Weg. Und das bedeutet: Wir werden nur gemeinsam einen Weg finden und nicht gegeneinander im Sinne von, wenn der andere nicht da wäre, dann geht es mir besser.
    Heinemann: Herr Wolff, das ist theologisch schlüssig. Aber viele Bürgerinnen und Bürger – das merken auch wir an Zuschriften – haben die Belehrungen durch Politik, durch Medien, vielleicht auch durch die Kirchen satt. Sie sagen, wir fühlen uns in unserer Heimat nicht mehr zuhause.
    Wolff: Wenn ich vor Ort lebe, in einer Gemeinde, dann geht es nicht mehr um Belehrung; dann geht es um konkretes Leben. Dann reichen Sprüche nicht, dann muss ich dieses Zusammenleben gestalten. Und das ist ja gerade das Wunderbare, was ja auch tatsächlich passiert ist in den vergangenen zwei Jahren, dass Kirchgemeinden vor Ort, entgegen allem Gerede und allen Belehrungen, ganz konkret Zusammenleben organisiert haben – mit allen Schwierigkeiten!
    Heinemann: Dazu gehören doch auch Zustände wie im Tiergarten in Berlin, oder die Straftaten der Silvesternacht 2015.
    Wolff: Ja. Die zeigen ja die Defizite auf. Es heißt ja nicht, dass, weil es eine Kirchgemeinde gibt, deswegen nichts Schlimmes mehr stattfindet, oder dass deswegen Menschen nicht mehr versagen. Umgekehrt wird es ja richtig. Wir brauchen diesen Blick und dieses konkrete Tun, damit wir auch in den Feldern, wo, wie Sie gerade sagen, in Berlin-Tiergarten, fürchterliche Übergriffe geschehen, damit es sich da bessert. Und wir brauchen für unser konkretes Tun, damit wir Orientierung haben, damit wir auch eine selbstkritische Distanz haben, wir brauchen diese Grundaussagen der biblischen Botschaft. Denn ich weiß natürlich auch von mir selbst, dass ich oft genug den bequemen Weg suche, und der bequeme Weg ist Problemlösung durch Problemvernichtung. Der schwierige Weg ist, dass ich mich den Problemen stelle und dass ich immer in dem Bewusstsein bin und rede und handle, ich werde das Leben nur dann sinnvoll gestalten können, wenn ich den Menschen, der mir nicht passt, den ich am liebsten nur von hinten sehe, mit einbeziehe.
    "Warum muss es uns an diesem Ort geben"
    Heinemann: Wie muss sich die Kirche organisieren, damit ihre Reformation gelingen kann?
    Wolff: Von unten und immer mit dem Blick auf Beteiligung. Natürlich muss Kirche auch gucken, das muss jede Kirchgemeinde, dass sie sich anständig verwaltet, dass sie verantwortlich mit den finanziellen Mitteln umgeht. Aber sie muss vor allen Dingen immer wieder auch aussagen können, warum muss es uns an diesem Ort geben, und da ist meine Grundthese, unsere Gesellschaft wird nicht besser, wenn es keine Kirchgemeinden am Ort gibt. Deswegen finde ich es besonders traurig, dass Kirche insbesondere im ländlichen Bereich derzeit oft dasselbe mitmacht wie öffentliche Verwaltungen und Institutionen, nämlich ausdünnen, verschwinden, anstatt zu sagen, wir müssen den Leuten vor Ort - und sei er noch so klein - den Rücken stärken und müssen dann auch unsere finanziellen Ressourcen darauf ausrichten, dass wir vor Ort bei den Menschen sein wollen.
    Heinemann: Dann hätte man lieber das Luther-Jubiläum eine Nummer kleiner gefahren.
    Wolff: Profilierter! – Profilierter. – Ich habe nichts gegen Geld ausgeben für sinnvolle Sachen. Ich habe nichts gegen Feier, ich habe auch nichts gegen sinnvolle Events. Aber wenn das eigentliche Thema der Reformation, nämlich der Krise der Kirche zu begegnen vor 500 Jahren, nicht mehr vorkommt, dann läuft etwas schief. Dann hat man nicht begriffen, warum es vor 500 Jahren Reformation gegeben hat. Sie hat es deswegen gegeben, weil die Kirche in einem katastrophalen Zustand war.
    Übrigens auch die Verkündigung. Es gab ja Priester, die waren Analphabeten. Da hätte die Kirche und wir – ich bin ja Teil davon – viel deutlicher fragen müssen, wo ist heute unsere Kirche, was müssen wir heute auch für die innerkirchliche Bildung tun, was müssen wir für die Qualifizierung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun, und was müssen wir tun, um Menschennähe vor Ort zu erreichen, um genau die Aufgaben zu erfüllen, über die wir gerade gesprochen haben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.