Archiv


"Die Leute haben schon Angst vor der Zukunft"

Belgien bekommt 540 Tage nach den Wahlen endlich eine richtige, reguläre Regierung. Bei Familie Horvath, französischsprachige Belgier, die im flämischen Wezembeek-Oppem wohnen, ist die Politik auch Thema - wichtiger aber ist erst mal das Essen auf dem Tisch.

Von Doris Simon |
    Bei Familie Horvath in Wezembeek-Oppem herrscht Vorfreude. Das allerdings liegt nicht an der Entspannung der belgischen Großwetterlage, sondern am traditionellen Sonntagsessen. Die Regierung, ja, eigentlich sei es ja auch mit der geschäftsführenden Regierung unter Yves Leterme ganz gut gelaufen, findet Großvater André. Die instabile Situation habe die Leute zuletzt doch zunehmend beunruhigt, meint Oma Marie-José.

    Vor dem Essen gibt es den Aperitif. Vater Laurent gießt die Gläser voll, Mutter Veronique serviert die selbst gemachten Häppchen, schön angerichtet in kleinen Gläsern. Gutes Essen ist wichtig in Belgien, eher fährt man nicht in Urlaub oder kauft ein kleineres Auto - aber am Essen wird nicht gespart. Auch die Horvaths müssen rechnen: Vater Laurent ist Koch, Mutter Veronique Grundschullehrerin, und die verdienen in Belgien nicht besonders viel. Das für Bildung zuständige französischsprachige Ministerium zahlt die Gehälter auch mal erst mit wochenlanger Verspätung. Letzten Freitag hat Veronique mit zehntausenden Anderen gegen die Pläne der neuen Regierung protestiert, vor allem gegen 11,3 Milliarden Euro Einsparungen und Steuererhöhungen - und die Reformen bei Renten, Pensionen und Arbeitslosengeld.

    "Die Leute in meinem Alter, also zwischen 40 und 50, haben Angst um ihre Pension, und sie befürchten, dass sie arbeiten müssen, bis sie 65 Jahre alt sind. Die Klassen sollen noch größer werden, zusätzliche Mittel gibt's nicht. Die Leute haben schon Angst vor der Zukunft."

    Noch können Lehrer in Belgien nach mindestens 35 Berufsjahren mit 58 in Pension gehen. Darauf hatte eigentlich auch Veronique gehofft, aber daraus wird wohl nichts.

    In der kleinen Küche des Einfamilienhauses öffnet Vater Laurent derweil frische Austern mit einem spitzen kurzen Messer. Nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit wie dem Sonntagsessen hat der Koch dem eineinhalbjährigen Marathon zur Bildung einer neuen belgischen Regierung geschenkt. Die Suche nach einer Lösung im endlosen Sprachenstreit mit allen hoch komplizierten Details, ob mit oder ohne flämische Separatisten, Laurent hat irgendwann abgeschaltet: Er hatte das Gefühl, das ging ihn alles nicht mehr an.

    Dabei wohnt Familie Horvath in Wezembeek-Oppem, 500 Meter jenseits der Brüsseler Stadtgrenze, in Flandern. Der Streit zwischen Flamen und Frankofonen über den Status der flämischen Gemeinden rings um Brüssel wie Wezembeek und um die Rechte der französischsprachigen Bürger hat die belgische Politik in den letzten zehn Jahren gelähmt und die Beziehung zwischen den Sprachgruppen vergiftet. Davon profitieren bis heute alle flämischen Parteien, die Autonomie oder Unabhängigkeit für den reichen Norden forderten. Deshalb finden die Großeltern André und Marie-José es immer noch erstaunlich, dass sich Sozialisten, Grüne, Liberale und Christdemokraten beider Sprachen trotzdem zu einem Kompromiss durchgerungen haben. Das sei ein verflixter Knoten gewesen, den Elio di Rupo da gelöst habe, lobt Oma Marie–José den neuen Premierminister: Der kleine Mann mit den schwarzen Haaren und der Fliege wird nun Belgiens erster französischsprachiger Premierminister seit 37 Jahren.

    "Ganz ehrlich, Elio di Rupo, der hat diesen Kampf wirklich bis zum Ende geführt. Weil er das Problem endlich ausräumen wollte, also ich finde, er hat wirklich Mut bewiesen."

    Während Großvater André noch darüber sinniert, ob die flämischen Parteien, die jetzt in Belgien mitregieren, am Ende dafür vom Autonomie suchenden flämischen Wähler belohnt oder bestraft werden, widmet sich Vater Laurent in der Küche dem Hauptgericht Moules Frites. Miesmuscheln mit Pommes frites, in der Liebe zu diesem Gericht finden sich fast alle Belgier. Da spielt es keine Rolle, wer welche Sprache spricht, und das ist eher selten in diesem Land.

    Für ihn sei es zu kompliziert und zu spät, noch Niederländisch zu lernen, findet Laurent, der in Flandern wohnt, aber nur französisch spricht. Aber seine Kinder würden es hoffentlich schaffen.

    Sein Schwiegervater widerspricht: Es sei nie zu spät, Niederländisch zu lernen. in Belgien müsse man beide Sprachen sprechen, ist der Großvater überzeugt. Genauso fest glaubt André an den Zusammenhalt Belgiens:

    "Technisch und praktisch kann ich mir das nicht vorstellen. Wie soll das gehen? Wer zahlt für Belgiens Staatsschulden? Was passiert mit Brüssel? Das weiß doch keiner!"