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"Die parlamentarische Demokratie muss ergänzt werden"

Der Schlichter im Streit um das Bauvorhaben Stuttgart 21, Heiner Geißler, plädiert für eine Änderung des parlamentarischen Verfahrens bei Großprojekten. Es sei sinnvoll, die Argumente öffentlich zu diskutieren, bevor Entscheidungen fielen. Im konkreten Fall hätten die Gespräche zur Befriedung der Situation beigetragen.

Heiner Geißler im Gespräch mit Jasper Barenberg | 11.11.2010
    Jasper Barenberg: Eine Einigung ist nicht in Sicht im Streit um das Projekt Stuttgart 21, nicht mal eine Annäherung scheint es zu geben, und doch scheint Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus zufrieden zu sein mit der Veranstaltung. Jedenfalls schlägt der CDU-Politiker vor, künftig bei Großprojekten gleich von Anfang an einen unabhängigen Moderator einzuschalten. Es geht ihm darum, das Genehmigungsverfahren, die Planung solcher Projekte zu beschleunigen. Eine gute Idee?

    Auch darüber wollen wir in den nächsten Minuten mit Heiner Geißler sprechen, der seit einigen Wochen in Stuttgart die Gespräche über den umstrittenen unterirdischen Durchgangsbahnhof leitet und führt. Einen schönen guten Morgen, Herr Geißler.

    Heiner Geißler: Guten Morgen.

    Barenberg: Kommen wir gleich zu dieser Frage. Sollte eine unabhängige Persönlichkeit künftig Großprojekte wie Stuttgart 21 gleich von Anfang an als Moderator begleiten?

    Geißler: Wenn es Auseinandersetzungen in dieser Form gibt und wenn es um Projekte geht, die eben doch schwere Veränderungen gegenüber dem bisherigen Zustand, ich sage es mal ganz allgemein, herbeiführen sollen, wo sagen wir Millionen von Menschen betroffen sind, ist es sicher sinnvoll, gleich von Anfang an die Argumente, die dafür sprechen, und die Argumente, die dagegen sprechen, in aller Öffentlichkeit zu diskutieren. Und wenn man dazu einen unabhängigen Moderator nimmt und die Öffentlichkeit mit einbezieht, kann das sicher zur Befriedung einer solchen Situation beitragen.

    Barenberg: Ist das nicht eigentlich die Kernaufgabe der Politiker, die über solche Projekte beraten und entscheiden?

    Geißler: Die Politik muss natürlich nach wie vor entscheiden und die parlamentarische Demokratie kann als solche auch schwer ersetzt werden, kann überhaupt nicht ersetzt werden. Aber wir leben heute in einer Mediendemokratie, wir haben das Internet mit über einer Billion Web-Seiten, mit Facebook, mit Bloggs, man kann mit einem Mausklick Zehntausende, Hunderttausende Leute innerhalb von kurzer Zeit erreichen und organisieren. Die Leute sind informiert. Das heißt, wir müssen neue Formen der Aufklärung und der Mitwirkung bekommen. Man kann auch sagen, die parlamentarische Demokratie muss ergänzt werden, vor allem in Deutschland, durch mehr Elemente der unmittelbaren Demokratie, und zwar muss das Volk beteiligt werden, bevor die Würfel gefallen sind.

    Barenberg: Das ist ja in diesem Fall auch geschehen, und doch hat sich erwiesen, dass es vor allem die Politiker waren, die nicht in der Lage waren, über einen langen Zeitraum ihr Projekt ordentlich zu erläutern und zu erklären. Sonst würden sie ja jetzt nicht den Versuch machen müssen, eine sachliche Schlichtung auf den Weg zu bringen.

    Geißler: Ich weiß nicht, was Sie meinen, dass dies auch geschehen sei. Es hat ja über das Projekt Stuttgart 21 nie eine Volksbefragung gegeben, es hat natürlich die Planfeststellungsverfahren gegeben, aber da hat ja der Ministerpräsident Mappus völlig recht, die sind viel zu langwierig und dauern zu lange und sind zu starr und man kann, wenn sie mal durchgesetzt worden sind, schwer wieder davon runterkommen rechtlich.

    Das alles ist eben eine Vorstellungswelt, die nicht mehr in die heutige Gesellschaft hinein passt. Wir haben eine sehr aktive Zivilgesellschaft, wir haben Menschen, die sich zusammenschließen, spontan oder auch auf längere Zeit, um ihre Interessen zu vertreten. Natürlich müssen die Parlamente entscheiden, aber diese parlamentarischen Entscheidungen, die müssen dann in der Umsetzung, in der jeweiligen Umsetzung, in jeder Phase immer wieder begründet und erläutert werden, und daran hat es eben gefehlt.

    Barenberg: Lassen Sie uns im engeren Sinne über das sprechen, was Sie gerade machen, nämlich die von Ihnen sogenannte Fach- und Sachschlichtung rund um den Streit um den Bahnhof in Stuttgart. Haben Sie das Gefühl, Sie haben diesen Anspruch bisher eingelöst?

    Geißler: Diese Schlichtung ist schon bis jetzt ein Erfolg gewesen, schon allein die Tatsache, dass sich die Befürworter des Projektes und die Gegner des Projektes an einen Tisch gesetzt haben, auf Augenhöhe, der Ministerpräsident, die Minister, der Bahnvorstand, der Oberbürgermeister mit den Organisationen aus der Stuttgarter Zivilgesellschaft, der baden-württembergischen Zivilgesellschaft, mit dem BUND, und dass eben im Gegensatz zu den Planfeststellungsverfahren, wo eben nur einzelne Bürger betroffen sind und sich ins Geschehen einmischen können, wird hier in aller Öffentlichkeit, live übertragen vom Fernsehen, ins Internet gestellt, Argument gegen Argument gesetzt. Das heißt, die einzelnen Probleme können ausdiskutiert werden, und das ist bisher geschehen, das machen wir auch morgen so weiter. Wir machen hier Aufklärung im besten Sinne von Immanuel Kant, die Menschen in die Lage versetzen, selbstständig, eigenständig zu denken und sich ein Urteil zu fällen, und dadurch tragen wir sehr zur Befriedung der Situation bei, was sich auch schon gezeigt hat.

    Barenberg: Herr Geißler, gewöhnlich endet ein Schlichtungsverfahren mit der Empfehlung des Schlichters. Werden Sie Partei ergreifen, werden Sie sich inhaltlich am Ende dieses Prozesses festlegen?

    Geißler: Wir machen ja eine Fachschlichtung, wir machen nicht eine Tarifschlichtung bei einer Lohnauseinandersetzung. Es kann durchaus sein, dass am Ende der Schlichtung – wir sind ja noch mitten drin – eine solche Empfehlung stehen kann, aber ich nehme jetzt das Ergebnis nicht vorweg. Die Frage, die kann ich Ihnen beantworten Ende November, Anfang Dezember.

    Barenberg: ... , sagt der CDU-Politiker Heiner Geißler, der frühere Generalsekretär seiner Partei, derzeit Vermittler im Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21. Danke, Herr Geißler, für das Gespräch heute Morgen.

    Geißler: Bitte schön!