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Die Professur in Wittenberg und das humanistische Bildungsideal

Als Professor in Wittenberg forderte der junge Philipp Melanchthon Reformen in der Lehre und beschäftigte sich immer mehr mit den Ideen von Martin Luther. Voller Energie stürzte er sich in die Arbeit. Er polarisierte und verlor einen bedeutenden Förderer.

Von Rüdiger Achenbach | 29.10.2013
    "Wenn er auch noch sehr jung ist, empfehle ich diesen Gelehrten. Ich weiß unter den Deutschen keinen, der über ihm sei, ausgenommen den Herrn Erasmus von Rotterdam."

    Schreibt Johann Reuchlin an den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen, der den bekannten Humanisten gebeten hatte, ihm einen geeigneten Gelehrten für die neue Stelle eines Griechischprofessors an der Universität in Wittenberg vorzuschlagen.

    Johannes Reuchlin hatte dem Kurfürsten seinen Großneffen empfohlen, von dem er wusste, dass er sich in Tübingen nach der Dunkelmännerbrief-Affäre nicht mehr wohlfühlte und ein neues Aufgabenfeld suchte. Da Friedrich der Weise Reuchlin sehr schätzte, nahm er dessen Empfehlung gerne an, obwohl Martin Luther und Hofkaplan Georg Spalatin einen anderen Kandidaten vorgeschlagen hatten.

    Am Samstag, dem 28. August 1518, hatte Philipp Melanchthon dann seine Antrittsrede in Wittenberg zu halten. Zu diesem akademischen Akt hatten sich alle Professoren und Studenten versammelt und warteten mit Spannung auf den aus Tübingen angereisten Gräzisten. Als der 21-Jährige dann den Saal betrat und auf das Katheder zuging, ging ein Raunen durch die Reihen. So hatte man sich den künftigen Griechischprofessor eigentlich nicht vorgestellt.

    Hans-Rüdiger Schwab, Melanchthonexperte und Professor an der Katholischen Fachhochschule in Münster:

    "Melanchthon war ein schüchternes, unscheinbares Männlein, klein und schmächtig im weiten Gelehrtenmantel steckend, der einen leichten Sprachfehler hatte. Der leicht komisch wirkenden Erscheinung sollen in Wittenberg die Straßenjungen nachgelaufen sein."

    Für den eher zaghaften und vorsichtigen Philipp Melanchthon war das kein leichter Start in Wittenberg. Doch er hatte sich wie immer gründlich auf diese Antrittsrede vorbereitet. Schon am Anfang seiner Rede machte er deutlich, dass er gewöhnlich solche Festveranstaltungen meide, aber diesmal sei es die Pflicht seines Amtes und seine Liebe zu den humanistischen Wissenschaften, für die er unbedingt das Wort ergreifen möchte.

    "Ich verfechte diese schönen Studien gegen alle diejenigen, dies sich durch Betrug angemaßt haben, die Menschen in ihrem Fortschritt zu hemmen. Auch jetzt noch versuchen sie die deutsche Jugend mit höchst plumpen Argumenten aus der Bahn zu reißen, indem sie nämlich behaupten: Das Studium der humanistischen Wissenschaften sei zu schwierig und habe dem gegenüber zu geringen Nutzen; das Griechische eigne sich nur dazu, um damit prahlen zu wollen; das Hebräische sei von zweifelhaftem Werte, indessen gingen die Wissenschaften der ursprünglichen Art zugrunde. Die Philosophie werde von den Humanisten achtlos beiseitegelassen; und was derartige Beschuldigungen mehr sind. Da in mir die Liebe zur Wahrheit glüht, und da ich eure Studien, ihr Jünglinge, kräftig zu fördern wünsche, so muss ich gewisse Dinge offener aussprechen, als jene Leute es wollen."

    Und das hat Philipp Melanchthon in der Tat in dieser Rede auch getan.

    Er zeigte auf, wie in der Scholastik schlechte und fehlerhafte lateinische Übersetzungen zur Verwahrlosung der wissenschaftlichen Arbeit beigetragen haben. So seien zum Beispiel plötzlich die Schriften des Aristoteles zum Maßstab aller Wissenschaft erklärt worden, obwohl man sie, wegen der fehlerhaften Übersetzungen in die lateinische Sprache überhaupt nicht richtig verstanden habe. Da man es aber Jahrhunderte lang nicht für nötig gehalten habe, Griechisch zu lernen, sei das Ergebnis ein völlig verunstalteter Aristoteles gewesen. Deshalb forderten die humanistischen Studien, dass die Schriften in ihrer jeweiligen Originalsprache zu studieren seien. Die Missachtung des Griechischen und Hebräischen habe letztlich auch zum Verfall der Theologie, die Unkenntnis der Geschichte zur Verkrustung in den Rechtswissenschaften und die Vernachlässigung der Mathematik zur Verhinderung der naturwissenschaftlichen Entwicklung geführt. Hans-Rüdiger Schwab:

    "In seiner Antrittsvorlesung entwarf er das Programm seiner künftigen akademischen Tätigkeit. Mit ihm stellte sich Melanchthon an die Spitze der Jugendbewegung für die bereits eingeleiteten akademischen Reformbestrebungen in Wittenberg.
    Mit humanistischen Argumenten polemisierte er gegen die verknöcherten Denkweisen und Lehrmethoden der Spätscholastik und drang auf die Erneuerung des Bildungswesens durch Rückgriffe auf das unverzichtbare Quellenstudium der antiken Autoren sowie der Bibel, zu deren sachgemäßem Verständnis die alten Sprachen den Zugang eröffneten."


    Melanchthon erregte mit seiner Antrittsrede großes Aufsehen. Martin Luther, der einen anderen Kandidaten favorisiert hatte, schreibt unmittelbar nach Melanchthons Rede, die Zuhörer hätten schon bald nicht mehr auf die äußere Erscheinung des Redners geachtet, sondern man hätte in ihm einen von Grund auf gelehrten Mann gesehen, der wie ein David gegen den Goliath der Scholastik zu Felde ziehe. Luther zeigte sich zutiefst beeindruckt und sprach sich jetzt vorbehaltlos für den "kleinen Griechen" aus, wie er Melanchthon nannte. Hans-Rüdiger Schwab:

    "Der um 13 Jahre ältere Luther wurde in der Folgezeit nicht müde, in immer neuen Wendungen den jungen Gelehrten – in dessen Vorlesungen die Studenten strömten wie zu keinem seiner Kollegen – und die überragende Mannigfaltigkeit seines Wissens, seine Kenntnisse fast aller Bücher zu preisen. Mit überschwänglichem Enthusiasmus entdeckten die beiden so ungleichen Männer ihre menschliche und geistige Sympathie füreinander, die am Beginn einer lebenslangen, zwar nicht krisenfreien, aber doch solidarischen Freundschaft und Zusammenarbeit steht."

    Schon in seinem ersten Semester stürzte sich der neu berufene Professor voll in die Arbeit, neben dem Unterricht in der griechischen Grammatik, hielt er Vorlesungen über Homers Ilias und ausgewählte Texte von Plutarch und Pindar. Da der ebenfalls neu eingerichtete Lehrstuhl für Hebräisch noch vakant war, übernahm Melanchthon vorübergehend auch noch dieses Fach und hielt zusätzlich Vorlesungen über die Psalmen.
    Da Melanchthon durch Luther auch mit den Anliegen der Reformation vertraut wurde, entschloss er sich neben seiner eigenen Lehrtätigkeit zusätzlich noch Theologie zu studieren. Einem Freund schreibt Melanchthon nun:

    "Ich geh jetzt ganz in den theologischen Studien auf und sie gewähren mir einen wunderbaren Genuss."

    Auch wenn Melanchthon nun selbst noch am Anfang seiner theologischen Studien steht, ist er aber doch nicht nur eine "philologische" Autorität für Luther, sondern auch ein hochgeschätzter Ratgeber bei theologischen Fragen. Beide verbindet dabei vor allem eine möglichst rasche Reform des Theologiestudiums. Doch hier zeigte sich auch an der Universität in Wittenberg, dass Institutionen ihr Eigenleben haben und sich nicht so schnell verändern lassen. Heinz Scheible:

    "Die scholastischen Vorlesungen waren mit Pfründen an der Wittenberger Schlosskirche verbunden, deren Inhaber sich nur zum Teil der neuen Reformbewegung anschlossen. Die anderen verloren zwar ihre Hörer, aber sie blieben auf ihren Kanonikaten und verhinderten damit Neubesetzungen."

    Inhaltlich sah Melanchthon seine Hauptaufgabe bei der Erneuerung des Theologiestudiums vor allem darin, den Einfluss der aristotelischen Philosophie oder das was man dafürhielt, aus der Theologie zu beseitigen.

    "Es muss deutlich gemacht werden, wie sehr die alte, das heißt Christi Theologie, und die neue, das heißt aristotelische Theologie, sich voneinander unterscheiden."

    Wie Luther lehnte nun auch Melanchthon jegliche Autonomie der menschlichen Vernunft ab. Er gab dabei zum Teil seine eigenen Positionen von früher auf und fällte radikal ablehnende Urteile über Aristoteles und andere Philosophen:

    "So frage ich, was hat Christus mit den Philosophen zu tun? Oder der Geist Gottes mit der blinden menschlichen Vernunft? Wir müssen eine schroffe Trennlinie zwischen der biblischen, zumal der paulinischen Summe des Heils und dem ungelehrten Geschwätz von Aristoteles, dieses windigen Sophisten, ziehen. Was geht uns an, was dieser schmutzige Mensch zusammengelogen hat? Sollen wir etwa Aristoteles höher als Christus achten."

    Und wie auch Martin Luther auf die Hure Vernunft schimpfte, mit der sich die Philosophen einließen, so berief sich nun auch Melanchthon in der Theologie auf die Bibel als Zeugnis der Offenbarung. Heinz Scheible:

    "In der Hitze des Kampfes haben Luther und Melanchthon gegen ihre ideologischen Widersacher Sätze gesagt und geschrieben, die missverständlich oder falsch waren. Dabei wurde der griechische Philosoph mit Bewertungen bedacht, die zumindest in seinem ureigenen Bereich der Logik nicht gelten und auch nicht gelten sollten."

    Tatsächlich führten die schroffen Äußerungen Luthers und Melanchthons gegen Aristoteles und die Philosophie dazu, dass viele Studenten dies nun so verstanden, dass man die Philosophie auch aus der Artistenfakultät der freien Künste verdammen müsse, obwohl weder Luther noch Melanchthon dies so gemeint hatten, sondern beide wollten die Philosophie "aus der Theologie" vertreiben. Heinz Scheible:

    "Dies war den Studenten aber nicht ohne Weiteres klar. Sie wollten nun keine Grammatik und Logik mehr lernen, sondern sofort die brennenden Heilsfragen studieren. Sie strömten nun in die neu angebotenen Auslegungen der biblischen Schriften. Die im Lehrplan verankerten Vorlesungen der scholastischen Logik wurden immer spärlicher besucht. Der Drang nach religiöser Nahrung war so stark, dass die 'trivialen' Grundlagen, die Grammatik, die Logik und die Rhetorik, darüber vernachlässigt wurden."

    Dass Melanchthons sich immer stärker den Positionen Luthers und vor allem dessen Bibeltheologie näherte, beunruhigte einen Teil der alten humanistischen Freunde in Tübingen, wo Melanchthon einst ein Anhänger von Johann Schöfflers humanistisch geprägter Naturtheologie gewesen war. Johannes Reuchlin, der humanistische Mentor Melanchthons, versuchte sogar, seinen Großneffen von Luther wegzulocken, indem er ihm eine Professur in Ingolstadt besorgte. Doch Melanchthon lehnte das Angebot ab. Er hatte sich für Wittenberg und vor allem für Luther entschieden. Einem seiner ehemaligen Tübinger Studiengefährten schreibt er:

    "An Martinus, der mir schon durch langen Umgang sehr vertraut ist, bewundere ich seinen lebendigen Geist, seine Gelehrsamkeit und seine Redekunst. Ich kann nicht anders als seinen aufrechten und lauteren christlichen Sinn sehr zu lieben."

    Und in dem Brief, mit dem er eine Professur in Ingolstadt absagte, schrieb er seinem Großonkel nicht ohne Pathos:

    "Ich will lieber sterben, als mich von der Seite Luthers wegreißen zu lassen."

    In der Begründung, warum er auf jeden Fall in Wittenberg bleiben wolle, hat mancher Studienfreund aus früheren Tagen den Phillipus von einst nicht mehr wiedererkannt:

    "Ich muss mehr ins Auge fassen, wohin mich Christus zieht, als wohin mich mein eigenes Verlangen ruft. Ich habe in Sachsen etwas von meinem Wohlergehen geopfert, aber ich möchte es doch nicht bereuen. Denn ich meine, dass es nicht darauf ankommt, wie glücklich ich das Leben beschließen werde, sondern wie christlich."

    Johannes Reuchlin hatte nun kein Verständnis mehr für seinen Großneffen. Er hat den Kontakt zu Philipp Melanchthon völlig abgebrochen und ihn aus seinem Testament gestrichen. Heinz Scheible:

    "Die kostbare Bibliothek Reuchlins erbte deshalb nicht der Großneffe, sondern das Michaelsstift in Pforzheim."

    Melanchthon tauchte nun ganz in die Reformation Luthers ein. Noch ahnte er nicht, dass sich schon bald die Ereignisse in Wittenberg dramatisch zuspitzen würden.