Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Die Türkei und die EU
Keine Aussicht auf schnelle Visafreiheit

Seit langem fordert die Regierung in Ankara Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger. Doch dies war zuletzt mit dem EU-Türkei-Flüchtlings-Deal verbunden worden. Heute nun endet die Frist - ohne, dass eine Einigung auch nur absehbar ist.

Von Annette Riedel | 01.11.2016
    Eine Frau mit Kopftuch steht in der Visastelle des deutschen Generalskonsulats in Istanbul.
    Die EU pocht auf die Erfüllung aller Kriterien, als Voraussetzung für die Einführung der Visa-Freiheit. (picture-alliance/ dpa/ Soeren Stache)
    Eigentlich hätten spätestens ab heute türkische Bürger für kurze Aufenthalte in der Türkei kein Visum mehr benötigen sollen. So hatten es die Türkei und die EU schon vor dem EU-Türkei-Flüchtlings-Deal verabredet. Im Zusammenhang mit dem Deal hatte die Visa-Freiheit, vorgezogen, sogar schon ab Juni gelten sollen. Dazu war es nicht gekommen, weil die EU die dafür nötige Erfüllung von rund 70 Kriterien als nicht gegeben angesehen hatte.
    "Bedingungen sind Bedingungen. Anti-Terror-Gesetze dürfen nicht missbraucht werden, um Journalisten, Akademiker, andere ins Gefängnis zu stecken."
    Wiederholte Jean-Claude Juncker Anfang August, also gut zwei Wochen nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei die Haltung der EU-Kommission. Die sich mit der fraktionsübergreifenden Haltung im EU-Parlament deckt, wie sie der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, vergangene Woche in Straßburg äußerte. Die Türkei habe das Recht die Verantwortlichen für den Putsch zur Rechenschaft zu ziehen – aber im Einklang mit rechtsstaatlichen Standards.
    "Wir erwarten von den türkischen Verantwortlichen, dass sie gerade die Rechtsstaatlichkeit, die sie verteidigt haben, jetzt auch praktizieren. Bei allen Schritten, die jetzt notwendig sind, im EU-Türkei-Verhältnis wird das die Grundlage sein – ob die Türkei, ob die Türkei die Prinzipien des Rechtsstaats ernst nimmt."
    Kaum Aussicht auf Änderung der Anti-Terrorgesetze
    Und genau daran bestehen erhebliche, wachsende Zweifel. Denn grade im Zusammenhang mit den von der EU beanstandeten türkischen Anti-Terror-Gesetzen und der extrem breiten Auslegung dessen, was "Terror" ist und was als "Unterstützung von Terror" gewertet wird, führt die Türkei im Nachgang zum Putschversuch regelrechte Säuberungen durch. Mit Tausenden Verhaftungen und mittlerweile insgesamt 60.000 Entlassungen aus den Bereichen Verwaltung, Justiz, vor allem auch in den Medien. Es bestehe keinerlei Aussicht, dass Ankara die Anti-Terrorgesetze in absehbarer Zeit ändern werde. Schätzt jedenfalls Can Dündar, wie er vor ein paar Tagen in Straßburg sagte. Er, sagte der ehemalige Chefredakteur der Erdogan-kritischen Zeitung "Cumhuriyet", habe das auch nie erwartet.
    "Wir wussten von Anfang an, dass es für die türkische Regierung praktisch unmöglich sein würde, das Anti-Terror-Gesetz zu ändern. Es ist Erdogans wichtigstes Werkzeug, die Opposition zu unterdrücken."
    Und weil sich die EU an diesem Punkt anscheinend unflexibel zeigt und auf die Erfüllung aller Kriterien pocht, als Voraussetzung für die Einführung der Visa-Freiheit, dürfte es sie auf absehbare Zeit wohl nicht geben. Aus Ankara hört man im Moment bemerkenswert wenig dazu. Es scheint, als ob beide Seiten, Ankara und die EU, den Flüchtlingsdeal darüber nicht in Frage platzen lassen wollen. Die EU natürlich sowieso nicht, zumal bei weitem nicht alle begeistert wären, wenn alle Türken Reisefreiheit bekämen. Aber auch die türkische Regierung nicht. Die finanziellen Zuwendungen der EU im Rahmen des Deals scheinen momentan für Ankara mehr zu zählen als die Versprechungen, die man der eigenen Bevölkerung gemacht hat.
    Teil des EU-Türkei-Deals ist auch, dass die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei vorangetrieben werden. Bei aller Kritik an dem Deal selbst, den er schmutzig und verlogen findet – die Beitrittsverhandlungen jetzt auszusetzen – gerade jetzt – empfände der türkische Oppositionelle Dündar als Fehler.
    Erdogan treibt Wiedereinführung der Todesstrafe voran
    "Ich möchte nicht, dass die EU die Beitrittsverhandlungen abbricht. Im Gegenteil. Die Mitgliedschaft wäre für die Demokratie in der Türkei ein sehr starker Halt. Die Verhandlungen für die Voll-Mitgliedschaft sollten unbedingt weitergehen."
    Allerdings mehren sich die Stimmen derjenigen in der EU, die sich durch die jüngsten Entwicklungen in der Türkei in ihrer Ansicht bestärkt sehen, dass nicht nur die Grundlage für Visafreiheit fehle – da ist man sich weitestgehend einig - sondern dass auch die Beitrittsverhandlungen zur Disposition stünden. Nach Erdogans Ansage vom Wochenende, die von ihm schon zuvor angekündigte Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei voranzutreiben, bekommt die Kritik an den Verhandlungen mit der Türkei neue Nahrung. Auch für Außenminister Steinmeier würde mit der Todesstrafe eine rote Linie überschritten, wäre das gleichbedeutend mit dem Ende einer Perspektive der Türkei in der EU.
    "Auch rechtlich haben wir darauf hingewiesen, dass die Todesstrafe nicht vereinbar ist mit den europäischen Prinzipien."