Der Gottesdienst nähert sich dem Höhepunkt in der Atlanta West Pentecostal Church, einer der größten Pfingstler-Kirchen im Süden der USA. Unter grellem Scheinwerferlicht fegt der Prediger über die Bühne wie ein Rockstar, die Gemeindemitglieder strömen nach vorne, reißen die Arme in die Höhe.
Zungenrede, Tanz und Anrufung des Heiligen Geistes: Der Pfingstler-Gottesdienst scheint in Stil und Inhalt weit von dem entfernt, was man gemeinhin mit Martin Luther und der Reformation verbindet. Pastor David Jury sieht das etwas anders.
"There's a low connection in the day-to-day life for most of our members." Im täglichen Gemeindeleben der Pfingstkirchen gebe es zwar kaum eine Verbindung zu Luther, sagt Jury, ein drahtiger junger Mann, der jetzt nach der dramatischen Predigt gelassen in seinem Büro sitzt.
"But he nailed his theses to the door and took a bold stand." Aber er habe seine Thesen an die Tür genagelt und einen mutigen Schritt gegen die Herrschaft der Kirchenführer getan. Er habe eine klare Linie gezogen und deutlich gemacht: Die Bibel steht für sich selbst. Davon profitiere auch seine Kirche, sagt er, bis heute: "We are the beneficiaries of that today."
Volksnah
Für Gemeindemitglied Kristi Brock zählt vor allem, dass Luther die Bibel in die Sprache des Volkes übersetzt hat. Damit habe er sie zu den Menschen gebracht und ihnen eigenes Nachdenken und eigene Entscheidungen ermöglicht.
"He made sure that the bible and religious publications were in the hands of the people, so we could read, we could learn, we could make decisions."
Martin Luther in Amerika: Nur etwa die Hälfte aller Protestanten in den USA wissen, wer dieser Reformator wirklich war. Zu diesem Ergebnis kam vor einigen Jahren eine Studie des renommierten Pew-Instituts. Doch wen wundert's. Dieser Luther, der vor 500 Jahren in einer kleinen deutschen Universitätsstadt als Professor wirkte, ist weit weg für jemand, der 2017 in den USA lebt.
Es gibt mehr als einen Martin Luther in Amerika
Das Bild des Reformators in den USA ist ebenso vielfältig und widersprüchlich, wie es die protestantischen Kirchen in Amerika sind.
"There's not simply one Martin Luther in America"
Es gebe mehr als nur einen Martin Luther in Amerika, sagt Brooks Holifield. Er ist emeritierter Professor für Kirchengeschichte an der Emory-Universität in Atlanta.
"Die drei großen protestantischen Traditionslinien sind die Calvinisten, die Lutheraner und die Methodisten. Historisch betrachtet haben die USA vor allem eine calvinistisch geprägte Kultur. Wir blicken zurück auf die Puritaner als unsere Gründerväter."
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich weitere Denominationen in den USA angesiedelt, neu gegründet, haben Untergruppen und Abspaltungen gebildet, darunter Baptisten und Täufer, auch Anabaptisten genannt, Methodisten, Presbyterianer, Episkopale und - Anfang des 20. Jahrhunderts - die Pfingstkirchen. Lutheraner selbst machen heute nur noch gut fünf Prozent der Protestanten in den USA aus.
Quer durch die Denominationen zieht sich außerdem eine andere Trennung: hier die evangelikalen Gruppen, die die Bibel meist streng und wörtlich auslegen, dort die sogenannten Mainline-Kirchen, die für eine moderate Theologie und eine historisch-kritische Bibel-Interpretation stehen. Dennoch gebe es einige Gemeinsamkeiten, sagt Holifield:
"Alle Protestanten respektieren die Autorität der Heiligen Schrift"
"Fast alle protestantischen Denominationen stehen in der einen oder anderen Weise hinter Luthers zentraler Lehre: die Erlösung, die Gnade Gottes allein durch den Glauben. Außerdem respektieren alle Protestanten die alleinige Autorität der Heiligen Schrift."
Im alltäglichen Gemeindeleben, in der Liturgie und der Choreografie der Gottesdienste gebe es zwar zahlreiche Unterschiede, sagt Holfield weiter. Doch in einem Punkt sei Martin Luthers Erbe nach wie vor lebendig:
"Der offensichtlichste Ausdruck von Luthers anhaltendem Einfluss in den USA ist die zentrale Rolle der Predigt in allen protestantischen Gottesdiensten, die zentrale Rolle des Wortes, die das religiöse Leben der Protestanten von Beginn an geprägt hat - und bis heute prägt."
Und bis heute sucht sich jede protestantische Kirche ein passendes Element aus Luthers Leben und Wirken heraus - sei es zur religiösen Traditionspflege oder zur historisch-politischen Legitimation.
John Wesley, Erweckungsprediger und Gründer der Methodisten-Bewegung, berichtete, dass er seine persönliche Bekehrung während der Lektüre von Luthers "Vorrede zum Römerbrief" erfahren habe.
Auch der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson befand, Martin Luther habe die moderne Welt so tief geprägt wie niemand sonst - außer Christopher Columbus.
Und natürlich: Martin Luther King Jr., der schwarze Baptistenprediger und Bürgerrechtsführer. Geboren wurde er als Michael King. Historiker gehen davon aus, dass sein Vater, ebenfalls Pastor, bei einer Deutschlandreise 1934 so beeindruckt von der Geschichte des Augustinermönchs war, dass er nach Rückkehr in die USA seinen eigenen Namen sowie den seines Sohnes änderte. Als aus Michael King Martin Luther King wurde, war dieser gerade mal fünf Jahre alt. Doch später wurde ihm der Name wichtig - vor allem das, was damit verbunden war, so der Theologe Brooks Holifield:
"Die Verbindung zwischen Martin Luther King und Martin Luther war, glaube ich, für King sehr bedeutend. Er mag vor allem den Martin Luther gesehen haben, der sich gegen ein repressives religiöses Establishment aufgelehnt hat. Und King kämpfte ja selbst auch gegen gesellschaftspolitische Unterdrückung."
Martin Luther hat Spuren hinterlassen und ist nicht tot
Widerstand, Kritik, ziviler Ungehorsam: Das ist eine Tradition, die Martin-Luther Kings Heimatkirche, die Ebenezer Baptist Church in Atlanta, bis heute beibehalten hat - und in fast jeder Predigt pflegt.
Martin Luther in Amerika: Auch wenn der Reformator im religiösen Alltag der USA heute kaum präsent ist, so hat er doch Spuren hinterlassen im Land der Puritaner - und ganz offenbar auch in der Welt der Pfingstler. Etwa bei Kristi Brock, der Unternehmensberaterin und engagierten Christin:
"Luther ist bis heute faszinierend. Er hat uns Religionsfreiheit eröffnet. Die Freiheit, die aus der Religion kommt. Damit wir wirklich wir selbst sein können. Er gab uns die Freiheit zu beten, wie wir wollen, und uns von denen zu lösen, die diktieren, was wir tun und lassen sollen. Und Luther hilft vielen Gläubigen bis heute, ein unmittelbares Verhältnis zu Gott zu entwickeln, ohne die Hierarchie der Kirche."
Offenbar ist Martin Luther nicht tot. Er lebt in Amerika. Aber es gibt hier eben nicht nur einen Martin Luther.