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Die Vermessung der Schulen

Vor gut zehn Jahren ging ein Ruck durch die Gesellschaft. Deutsche Schüler sind bestenfalls Mittelmaß, stellte die internationale Vergleichsstudie Pisa 2000 fest. Seither werden Schüler systematisch vermessen, in Kompetenzstufen eingeordnet und in Bildungsstandards normiert.

Von Doris Arp |
    "Wie Heranwachsende zu erziehen seien, das hat die Menschheit seit jeher beschäftigt; und die pädagogischen Rezepte fielen so unterschiedlich wie paradox aus. Dies ist ebenso eine Binsenweisheit wie die Einsicht, dass jede Pädagogik wohl oder übel gezwungen ist, sich im Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaft zu definieren. Demnach hängt sie von ideologischen oder gesellschaftspolitischen Entscheidungen ab – und schwindelt sich für gewöhnlich trickreich am Kind vorbei."

    Pädagogik sei "Die Kunst Kinder zu kneten", meint provozierend der Autor Rudi Palla in seinem gleichnamigen Buch. Von Sparta über wilhelminische Volksschulerziehung, den Napolas im Dritten Reich bis hin zu den Kinderläden der antiautoritären Erziehung entwickelt Rudi Palla einen roten Faden: Pädagogik ist immer auf ein Sollen, ein Ziel ausgerichtet und hat dabei eher das Wohl einer bestimmten Gesellschaft als die Kinder selbst im Blick. Kurz: Erziehung hat immer Ideologie im Gepäck.

    "Wir sind relativ leidenschaftslos"

    sagt Prof. Olaf Köller vom Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik in Kiel. Mit wir meint er seine Zunft, die empirische Bildungsforschung.

    "Wir werden erst dann leidenschaftlich, wenn wir empirische Belege haben, die für oder gegen die entsprechende Variante sprechen und dann werden wir aktiv. Aber wir würden vermeiden ohne entsprechende empirische Ergebnisse dezidiert zu Fragen Stellung zu nehmen."

    Olaf Köller ist einer der renommierten Bildungsforscher in Deutschland, die von einer empirischen Wende in der Erziehungswissenschaft reden. Unterstrichen werden soll diese Wende demnächst mit einer institutionellen Neugründung. Es soll neben dem breiten Dach der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft ein zweites fachliches Zuhause für alle Empiriker bieten, die sich mit Fragen der Bildung befassen: also Psychologen, Soziologen, Ökonomen und Pädagogen.

    "Im Moment ist geplant eine Deutsche Gesellschaft für empirische Bildungsforschung zu gründen, in der man eben die verschiedenen Disziplinen zusammenbringen möchte, um gemeinsam auf der Basis des empirischen Paradigmas Forschungsfragen systematisch zu diskutieren und sich besser auszutauschen."

    Seit gut zehn Jahren werden Schüler systematisch vermessen, in Kompetenzstufen eingeordnet und in Bildungsstandards normiert. Dieser empirische Wendepunkt in den Erziehungswissenschaften kam mit der internationalen Vergleichstudie Pisa 2000, beziehungsweise für die Mathematik schon 1996 mit den Timss-Studien. Die Quintessenz: Deutsche Schüler rangieren im unteren Mittelmaß und das deutsche Schulsystem produziert soziale Ungerechtigkeit. Das schockierte, sagt Prof. Werner Thole, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

    "Wir haben uns in Deutschland mit einer Illusion zufrieden gegeben. Und zwar mit der Illusion der Bildungsgerechtigkeit, also dass die Zugänge zu den gesellschaftlich vorgehaltenen Bildungsgängen weitgehend so moduliert werden, dass alle teilhaben können. Ich glaube das die internationalen Vergleichsstudien wie ein Schock gewirkt haben für viele, weil sie feststellen mussten, dass diese gleichen Zugänge so nicht bestehen. Und darauf zu reagieren ist ein schwieriges und ist ein komplexes Problem."

    Für die Politik gab es eine klare Antwort auf den Pisa-Schock: Zahlen, Daten, Fakten.

    "Die Politik hat damals gemerkt, dass es mehr empirischer Befunde bedarf, um letztendlich ein Bildungssystem erfolgreich steuern zu können. Dass wir Schülerleistungen erheben müssen, dass wir beispielsweise auch den Unterricht systematisch erforschen müssen, dass wir uns anschauen müssen, wie gehen Lehrer und Lehrerinnen mit Unterrichtszeit um, wie stark nutzen sie Zeit, um dann solche Maße in Zusammenhang zu bringen mit den Leistungen von Schülerinnen und Schülern."

    "Hallo. Wir haben gerade Pause. Also wir haben bewegten Unterricht. Wir sitzen nicht nur da und Lernen, wir machen auch Bewegungspausen. Das ist, wenn wir gelernt haben oder wenn wir Arbeiten geschrieben haben, dann machen wir Bewegungspausen, damit wir uns besser konzentrieren können."

    Seit inzwischen fast 20 Jahren macht die Ganztagsrealschule in Gütersloh bewegten Unterricht, sagt Schulleiterin Christiane Piepenbrock.

    "Wir wissen aus der Lernforschung, dass es sehr gut ist, wenn man sich bewegt, dann kann man sehr viel mehr Dinge aufnehmen, dann ist das Lernen besser transportiert."

    Empirisch sichergestellt ist dieses Wissen nicht. Es gibt keine Studie, die den direkten Zusammenhang von Bewegung und Lernen aufzeigt. Aber an der Geschwister-Scholl-Schule hat man damit gute Erfahrungen gemacht.
    Pädagogik ist von ihrem Ursprung her eine Erfahrungswissenschaft, erklärt Prof. Werner Thole von der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Kassel.

    "Die Erziehungswissenschaft ist historisch gesehen eine relativ junge Disziplin. Sie bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts aus der Philosophie heraus. Sie war immer schon empirisch orientiert. Sie arbeitete allerdings nicht mit Verfahren, die sich in Zahlen artikulierten, sondern die eher sich auf qualitative Verfahren stützten, auf teilnehmende Beobachtung, auf Interviews, auf Auswertung von Briefen, von Selbstzeugnissen. Also im Kern, genauso wie die Psychologie auch, war die Erziehungswissenschaft in ihrem Prozess der Verwissenschaftlichung immer empirisch orientiert."

    Dabei war sie vor allem hermeneutisch, gestützt auf eher qualitative Verfahren. Und, etwas salopp formuliert, wurde oft auch ganz ohne Wolle gestrickt. Das sollte sich mit dem gesellschaftlichen Aufbruch in den 60er und 70er-Jahren ändern. Abgestraft wurde eine rein geisteswissenschaftliche Pädagogik, die ausschließlich Thesen, Konzepte, Theorien ventiliere. Gefordert wurde schon damals eine realistische Wende. Ihr Protagonist Heinrich Roth forderte 1962:

    "Die Antworten auf diese Fragen bleiben nur dann nicht bloße Meinungen oder leere Behauptungen, wenn die pädagogische Theorie das Kreisen in sich selbst aufgibt, ihre Aussagen an den Früchten der Praxis kontrolliert, die in ihrem Namen geschieht. Nur so bleibt sie kritisch und wach und vor Dogmatisierung bewahrt."

    Vom Kopf auf die Füße sollte sich die Erziehungswissenschaft stellen. Empirisch belegen, was sie behauptet und moralisch verlangt. Die großen Bildungsgerechtigkeit war damals ein großes politisches Thema und der Aufbau der Gesamtschulen ein von Studien gestütztes Ergebnis.
    Doch erst mit den internationalen Vergleichsstudien nimmt die empirische Bildungsforschung rasant an Fahrt auf. Erst mals wurden deutsche Schüler auf breiter Ebene vermessen, verglichen und für zu schlecht befunden. Die Antwort aus der Politik: Leistungssteigerung, Kompetenzförderung, Excellenzinitiative. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung legte ein großes eigenes Forschungspaket auf. Flankiert von fast ausschließlich empirischen Bildungsforschern, entscheidet aber die Politik wo, wie und was geforscht werden soll.

    Und dementsprechend sieht auch das Rahmenprogramm mit immerhin 120 Millionen Förderungssumme des BMBFs aus. Das heißt dort werden die Themen vorgegeben und die Disziplinen sind aufgefordert zu diesen Themen ihre Anträge einzureichen und die werden dann nach internationalen Vorgaben begutachtet. Und dann bekommen die Projekte mit höchster Aussicht auf interessante Ergebnisse den Zuschlag. Aber hier bestimmt letztendlich das BMBF was geforscht wird.

    Ganz oben auf der Liste standen zunächst Projekte aus den Neurowissenschaften. Bildgebende Verfahren ließen auf gläserne Schülerköpfe hoffen, deren Lernerfolge man eines Tages wie die Glühbirnen mit dem Schalter anknipsen könnte. Neuropädagogik war der neue Stern am Forschungshimmel. 10 Jahre später ist er vorläufig verglüht. Der Bildungspsychologe Prof. Köller:

    "Das Problem der Hirnforschung in den letzten 10 Jahren war im Grunde genommen, dass sie nicht auf den alltäglichen Unterricht anwendbar sind. Das heißt das Abebben der Neurowissenschaften rührt sicherlich daher, dass man erkannt hat, dass die besseren Unterrichtsmodelle aus der Erziehungswissenschaft und der pädagogischen Psychologie kommen und beide Disziplinen hier mehr zu sagen haben, als die Neurowissenschaften."

    "Also wir suchen uns lange Worte aus und das ist halt schwierig das zu schreiben und dann probieren wir die Silben so einzulegen, dass wir wissen, wie man das schreibt, dann erkennt man das nämlich besser."

    Neue Formen der Sprach-, Lese- und Rechtschreibförderung sind ein wesentlicher Praxiseffekt aus dem Pisa-Schock. Michael Becker-Mrozek, Professor für Deutsche Sprache und ihre Didaktik an der Universität Köln:

    "Wenn wir feststellen, dass 25 Prozent der Schüler selbst einfachste Texte nicht verstehen und wenn Pisa zeigt, dass 50 Prozent nicht freiwillig lesen, dann sind das erst mal Ergebnisse, die uns in der Fachdidaktik eine Menge an Hausaufgaben aufgeben, die Schüler überhaupt dazu zu bringen."

    Immerhin sind die 25 Prozent leseschwachen Schüler aus der ersten Studie auf 18 Prozent in Pisa 2009 geschrumpft. Besonders für Grundschulen und Kindergärten seien neue Lern- und Förderkonzepte entwickelt und eingesetzt worden. Der Fachdidaktiker wünscht sich allerdings feinere empirische Studien. Die großen Vergleichsstudien wie Timms, Pisa und Vera vermessen Schüler in relativ groben Kompetenzstufen.

    "Sod ass diese empirischen Studien häufig auf sehr basale Fähigkeiten zielen und das ist vielen in den Fachdidaktiken und in der Pädagogik zu wenig, weil sie glauben, es werden wichtige Bildungsinhalte abgeschnitten."

    Zusammen mit einem Kollegen aus der Psychologie wertet Becker-Mrotzek derzeit Texte von rund 300 Schülern aus Gymnasium, Real- und Hauptschule aus. Ein Forschungsprojekt aus dem Fördertopf des BMBF. Es geht um die Fähigkeit mit den eigenen Texten andere anzusprechen.

    "Wir vermuten, dass es so was gibt wie ne Fähigkeit Adressatenorientiert zu schreiben, wenn es so was gibt, dann hat das Auswirkungen für die Art, wie man Schreibunterricht macht: man würde also nicht immer nur eine Textart in den Vordergrundstellen, jetzt lernen wir ne Beschreibung, jetzt lernen wir einen Bericht zu verfassen, sondern man würde im Schreibunterricht sagen, jetzt lernen wir mal, wie man einen Text aufbaut. Jetzt lernen wir, wie man einen Text an einem Leser orientieren kann."

    Das Forschungsprojekt ist Teil von insgesamt bundesweit 14 vom Bildungsministerium geförderten Projekten zur Lese- und Schreibförderung, aus denen didaktische Konzepte für die Schule generiert werden sollen.

    "Das ist dann der nächste Schritt, dass wir mit den Ergebnissen begründet verschiedene Unterrichtskonzepte erproben wollen und dann sehen, bei welchem lernen die Schüler besser bestimmte Schreibfähigkeiten."

    Die Schule als Labor hat allerdings keine leichte Versuchsanordnung.

    "Das heißt, wenn man relativ kleine Untersuchungsgrößen hat, also mit zehn oder zwölf Klassen das macht, dann kann man immer noch nicht sicherstellen, dass das eine Konzept besser angekommen ist. Weil zufällig die Lehrer besser waren, die die Schüler unterrichtet haben oder die Schüler motivierter . Das heißt es gibt so viele Faktoren, die man kontrollieren muss, um hinterher wirklich sagen zu können, dieser Unterricht funktioniert so besser als ein anderer, dass es zu diesen Fragen nur wenige Studien gibt."

    "”Now, what you do. You know this principal, you have appointments for 6, 8, 10 o’clock – you find a partner for 6 o’clock and 10 o’clock. You have 30 seconds, know come on move.”"

    Erst wurden die Schüler vermessen, jetzt sind auch die Lehrer dran. Und zwar ihm Rahmen der sogenannten Kompetenzforschung, angeregt durch das Forschungsprojekt Coactiv am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Vor allem die zweite Pisastudie 2003 hatte gezeigt, dass deutsche Schulen eher Rechenknechte als Problemlöser ausbilden. Coactiv untersuchte daraufhin am Datenmaterial von Pisa was einen guten Mathelehrer ausmacht. Daraus entstanden bundesweit Fortbildungsprojekte zunächst für die Jahrgänge 5-10 und seit 2004 auch an Grundschulen. Prof. Köller hat das Sinus-Fortbildungsprogramm mit entwickelt:

    "Die Philosophie dabei ist, wenn wir früh damit beginnen, Schülerinnen und Schüler in Anwendungskontexte zu bringen, dann werden sich auch die entsprechenden Lernerfolge einstellen. Im Sinusprogramm werden Lehrerinnen und Lehrer über viele Jahre fortgebildet, dass sie sich sicher fühlen, wenn sie anwendungsorientierte Kontexte in den Unterricht tragen."

    Den Satz des Pythagoras auf Straßenpläne übertragen, Parabeln an Snowboardspringern oder Flugbahnen von Fußbällen berechnen. Mathematik im Alltag ist hier das Stichwort. Übergeordnet dahinter steht die Kompetenz der Lehrer. Hierfür hat das Bundesministeriums einen ganz neuen Forschungsschwerpunkt aufgelegt.

    "Also inwieweit verfügen Erzieherinnen und Lehrer über das nötige Wissen. Über Wissen beispielweise, wie Kinder lernen, damit sie Schülerinnen und Schüler auch erfolgreich unterrichten. Hier gibt es auch einen deutlichen Schwerpunkt, wo wir auch neuerdings Maße entwickeln, wie hoch ist das fachdidaktische Wissen, die fachdidaktische Kompetenz von Lehrern, um dieses natürlich auch wieder mit Unterrichtshandeln in Verbindung zu bringen."

    Die empirische Bildungsforschung boomt. Das BMBF und die Deutsche Forschungsgemeinschaft stecken viel Geld in das System. Vielleicht sogar zuviel, meint der Bildungsforscher Olaf Köller vom Institut der Pädagogik der Naturwissenschaften.

    "Ich sehe, dass die empirische Bildungsforschung in den letzten Jahren mit Forschungsgeldern überflutet wurde und man sich nicht sicher sein kann, ob diese Expansion gleichzeitig auch zu einer Qualitätssteigerung führt."

    Mehr Excellenz in der Forschung und Sichtbarkeit in der Politik. Das hofft er unter anderem über die Gründung einer neuen Gesellschaft für empirische Bildungsforschung zu schaffen.

    "Sicherlich steckt dahinter auch, dass wenn wir gefragt werden zu bildungspolitischen Fragen, dass wir das dann auch stärker auf einer evidenzbasierten Perspektive, basierend auf empirischen Befunden tun wollen und weniger aus einer beispielsweise historischen oder philosophischen Perspektive."

    "Das Sein der Erziehung kann überhaupt erst im Ausblick auf ihr Sollen erfasst werden"

    Fast 100 Jahre ist dieser Satz des Bildungsphilosophen Theodor Litt alt. An Aktualität hat er wohl kaum verloren. Denn auch die Welt der Zahlen, Daten, Fakten ist abhängig von den Fragen, die gestellt wurden, um sie zu sammeln. Die Forschung mag leidenschaftslos sein, ihre Anwendung durch die Bildungspolitik setzt inhaltliche Akzente. Sollen Eliten gefördert werden, geht es um reine Leistungs- und Kompetenzssteigerung, geht es um kognitive oder auch soziale, kreative Fähigkeiten. Wie steht es mit der Bildungsgerechtigkeit? Für alles kann man Zahlenmaterial erheben. Man muss aber auch danach Fragen wollen. Deshalb wünscht sich Prof. Werner Thole, als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft und damit Vertreter von über 3000 Mitgliedern, dass sich weiterhin alle Bereiche der Pädagogik fruchtbar unter einem Dach austauschen.

    "Der Verlust, der möglicherweise mit einer neuen Gründung einer Bildungsforschungsgesellschaft verbunden ist, liegt darin, dass die Gefahr besteht, dass von Kolleginnen und Kollegen, die eine deutlich empirische Ausrichtung haben, nicht wie bislang Diskurse auch in unserer Gesellschaft angeregt werden."