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Die Zukunft des Menschen
Das Versprechen der Künstlichen Intelligenz

Künstliche Intelligenz verspricht, den richtigen Weg in die Zukunft zu kennen. Im selbstfahrenden Auto soll sie Menschen an ihre Ziele bringen. Aber wessen Ziele sind das eigentlich?

Von Roberto Simanowski |
Eine weiße Roboterhand hat ihren Zeigefinger ausgestreckt.
Menschliche Geste einer künstlichen Hand, gesteuert durch KI. (mago-images.de)
Die Künstliche Intelligenz kam mit dem Auto und blieb. Der Algorithmus am Lenkrad war die Testfahrt für die Übernahme auch des Steuers der Gesellschaft. Dies ist die Geschichte, wie die Künstliche Intelligenz in der Mitte des 21. Jahrhunderts die Macht übernahm, um erst die Klimakrise zu lösen und dann die Menschen ins Paradies zurückzuschicken.

Gestern.

Es begann an einem nebligen Herbstmorgen, als ein Mercedes der Luxusklasse einen Jungen von circa acht Jahren überfuhr. Das Video zeigte kurz zuvor, wie das Auto vor zwei auf der Straße spielenden Mädchen bremst, ausgelöst offenbar durch einen Sensor. Als das Auto wieder Fahrt aufnimmt, kommt ein rennender Junge mit einem Drachen ins Bild, eine junge Frau schaut ihm beim Wäscheaufhängen glücklich hinterher. Das Zusammentreffen des Jungen mit dem Mercedes überrascht nicht, wohl aber der Zusammenprall. Hatte der Sensor diesmal versagt?
Die Antwort kommt rasant in kleinen Stücken: Kurz vor dem Aufprall verwandelt sich der Junge für eine Millisekunde in Hitler, die Frau mit dem Wäschekorb ruft erschrocken "Adolf?", auf dem Ortsschild steht "Braunau am Inn", der eingeblendete Werbesatz für das Mercedes-Bremssystem lautet: "Erkennt Gefahren, bevor sie entstehen".
Richtig; das Mercedes-Unternehmen hatte diesen Werbespot nicht in Auftrag gegeben. Das Video ist die Abschlussarbeit von Studenten der Filmakademie Ludwigsburg im Jahr 2013. Das ändert jedoch nichts daran, dass dieser Mercedes, der da wie Terminator in die Vergangenheit fuhr, auf dem Weg in die Zukunft war. In eine Zukunft, wo sich die Intelligenz der Autos keineswegs in einem Sensor erschöpft, der Objekte vor dem Fahrzeug wahrnimmt und Bremsvorgänge anmahnt oder selbst durchführt.
In dieser Zukunft, die wir heute längst erreicht haben, weiß der Bordcomputer durch Gesichtserkennung und Data Mining im Internet in Sekundenbruchteilen, wen er vor sich hat. Also weiß er auch, für wen es sich zu bremsen lohnt. Und zwar nicht nur mit Blick darauf, was die, die er vor sich hat, schon sind. Die Profilbildung, die Big Data erlaubt, macht es leichter, Gefahren zu erkennen, bevor sie entstehen. Man muss dazu nicht erst aus der Zukunft zurückkommen. "Predictive analytics" und "predictive policing" nannte man das in den 2020er-Jahren.
Es ging nicht um die Tötung künftiger Massenmörder. Denen schickte man, so lang sie noch mit Papierdrachen spielten, ein Therapeutenteam mit Sportgerät und Malkasten im Gepäck. Es ging um die Entscheidungshilfe für den Ernstfall, wenn Bremsen nicht mehr hilft und nur noch zu wählen bleibt, wen das Ausweichmanöver verschonen soll. Anders als der menschliche Fahrer damals, weiß der Algorithmus hinterm Steuer heute, dass die Ärzte der Frau am Straßenrand noch eine Lebenserwartung von zehn Monaten geben, dass der Fahrradfahrer neben ihr zwei kleine Kinder hat, dass der Passant auf der anderen Straßenseite das einzig verbliebene Kind seiner pflegebedürftigen Mutter ist. Und da der Algorithmus für seine Entscheidung zugleich das Schicksal der Tiere und der Umwelt einbezieht, registriert er auch, dass der Fahrradfahrer Vielflieger ist und die Frau keine Vegetarierin – und weicht so, gut informiert und wohl überlegt, dem zuerst aus, der es am meisten verdient hat.
Ein futuristisch aussehender Sessel ist im Inneren des Prototyps eines selbstfahrenden Autos zu sehen.
So könnte das „Cockpit“ eines selbstfahrenden Autos aussehen. (Getty Images / Barcroft Media)
Es waren damals nicht alle glücklich mit der neuen Technik. Viele sahen darin keineswegs die perfekte Lösung, sondern die Verdopplung des Dilemmas im Unfallfall. Das Dilemma lag nun nicht mehr nur darin, dass jedes Ergebnis unerwünschte Folgen hatte; denn man wollte natürlich alle retten, auch die vielfliegenden Fleischesser. Das Dilemma lag nun zugleich darin, dass der Algorithmus nicht wie ein menschlicher Fahrer im Affekt handelt, sondern so, wie er programmiert wurde, also nach Kriterien, die festlegen, wessen Leben mehr wert ist.
Das aber verstieß gegen das deutsche Grundgesetz, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist und niemand zum Mittel der Rettung anderer Menschen degradiert werden darf. Aus eben diesem Grund warnte die Ethik-Kommission Automatisiertes und Vernetztes Fahren 2017 vor der "Aufrechnung von Opfern" nach Alter, Geschlecht, körperlicher oder geistiger Konstitution in einer Unfallsituation.
Einige wollten deswegen den Algorithmus gar nicht erst ans Steuer lassen. Andere sahen darin nur eine Verschiebung des Dilemmas. Der Verzicht auf das autonom fahrende Auto würde die Gesellschaft auch der Möglichkeit berauben, die Anzahl an Verkehrsopfern überhaupt erst einmal drastisch zu senken; man würde also mehr Menschen opfern, weil man sich scheut, für den Ernstfall eine Opferlogik zu erstellen. Vernünftiger wäre es, so das Votum dieser Leute, zu einer Ethik zu wechseln, die besser zum technischen Fortschritt passt.
Genau das geschah dann ja auch. Man distanzierte sich vom Aufrechnungsverbot, das die Deutschen der Moralphilosophie von Immanuel Kant verdankten, und wechselte zum utilitaristischen Ethikmodell wie es der Engländer Jeremy Bentham zeitgleich zu Kant vertrat. Im Utilitarismus ging es nicht mehr um den einzelnen, sondern um "das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl"; also um quantitative Kriterien – die sich einem Algorithmus gut vermitteln ließen.
Ethik im 21. Jahrhundert
Es war nicht nur der technische Fortschritt, der im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen ethischen Paradigmenwechsel verlangte. Auch die Pandemien, die sich nun häuften, drängten in diese Richtung. Das Angstwort hieß Triage: Es zwang die Ärzte zu entscheiden, wer eine intensivmedizinische Behandlung erhält und wer nicht. Ein verfassungswidriges Verfahren, das im Katastrophenfall freilich unvermeidbar ist. Im Sinn der größtmöglichen Zahl an Geretteten erhalten dann die den Vortritt, die die beste Heilungsaussicht haben.
Auch der Terrorismus kam dem utilitaristischen Ethikmodell sehr gelegen. Oder soll man etwa nicht ein gekapertes Flugzeug mit 200 Passagieren abschießen, wenn man so Tausende in einem Hochhaus retten kann? Der Deutsche Bundestag hatte ganz in diesem Sinne schon im Jahr 2005 ein Luftsicherheitsgesetz verabschiedet, das einen solchen Abschuss als Ultima Ratio erlaubte. Das wurde damals zwar vom Verfassungsgericht kassiert, aber die Wähler wussten, dass ihre Politiker auf dem rechten Weg waren, denn auch sie votierten ja für den Abschuss. Das jedenfalls besagte ein spektakuläres Theaterexperiment, das die Zuschauer zu Gericht sitzen ließ über einen Major der Bundeswehr, der, gegen den Befehl des Vorgesetzten, ein entführtes Passagierflugzeug abgeschossen hatte. Die Mehrheit plädierte auf unschuldig: 63 Prozent der Theaterbesucher und 87 Prozent der Fernsehzuschauer. Die Aufrechnung von Menschenleben war längst gesellschaftsfähig geworden.
Zeitgleich stellten immer mehr Juristen immer stärker die Tabus der deutschen Rechtsethik in Frage: die Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Verbot der Rettungsfolter. Schließlich war auch in Deutschland die Weiche gestellt für den großen Wechsel. Es war nun legitim, den einen zu opfern, um die vielen zu retten. Es war der Wechsel vom Kult des Individuums zum Primat der Gesellschaft, forciert durch die Gefahr des Terrorismus, die Zwänge der Pandemie und die Logik des Algorithmus am Steuer selbstfahrender Autos. Es war der erste Schritt zur Rettung der Welt.

Heute.

Das autonome Auto erwies sich als Testfahrt für eine Gesellschaft, in der die Künstliche Intelligenz das Steuer übernimmt! Nicht lang und man mutete dieser Künstlichen Intelligenz mehr Stärke und Eigenverantwortung zu. Natürlich gab es Ängste. Wenn die Künstliche Intelligenz nicht mehr den Vorgaben ihrer Programmierer folgt, sondern im Deep Learning zu eigenen Entscheidungen gelangt, wie kann man dann sichergehen, dass sie sich nicht eines Tages gegen die Menschen wenden würde. Andere sahen gerade in dieser Selbstständigkeit die Rettung. Wenn die schwache Künstliche Intelligenz im Auto den Menschen sicher von A nach B bringen kann, könnte die starke ihn dann nicht auch sicher durchs Leben bringen? Aus dieser Perspektive würde die Künstliche Intelligenz der Zukunft den Menschen helfen, ihre eigenen Ziele umzusetzen; wichtige Ziele – wie beispielsweise die Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad Celsius.
Quantencomputer - Wettstreit der Systeme
Die Computertechnologie stößt an ihre Grenzen - und die Fachwelt hofft auf einen Befreiungsschlag durch den Quantencomputer. Überall auf der Welt streiten Firmen und Forschungsgruppen um das beste praxistaugliche System.

Praktisch war die Vollzeitaufsicht der Künstlichen Intelligenz über das menschliche Handeln bald kein Problem mehr: Im Zeitalter von Industrie 4.0, Smart City und (dem) Internet der Dinge kennt die fürsorglich beobachtende Künstliche Intelligenz die Klimabilanz jeder Produktionsanlage und jedes Produkts. Nennen wir sie KI‑Nanny. Sie weiß, wer sein Budget an Flugmeilen und Rindfleisch erschöpft hat, und kann entsprechend der Zielvorgabe die nötigen Regulierungen durchsetzen, von der Schließung bestimmter Kraftwerksanlagen bis zur Verweigerung von Flugtickets. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die KI-Nanny dem Menschen nicht nur bei der kompromisslosen Umsetzung seiner Beschlüsse helfen würde, sondern auch bei deren Optimierung.
Diktat der KI-Nanny
Irgendwann, niemand weiß heute mehr genau, wie es dazu kam, es geschah einfach, unaufdringlich und unaufhaltsam, irgendwann wurde aus der fürsorglichen Nanny ein, nennen wir ihn "gutmütiger Diktator". Mit ihm hatte das neue Motto "Gemeinschaft first" den alten "Kult des Individuums" endgültig abgelöst. Ein zentraler Kern der Neuausrichtung war die Kollektivierung der Daten. Dabei ging es nicht um die Bewegungsdaten der Menschen, die zu Corona-Zeiten noch so viel Aufsehen erregt hatten. Diese Daten waren längst vom Besitz der Auto- und Taxiunternehmen in die Obhut der Kommunalverwaltung übergegangen und wurden im Interesse örtlicher Verkehrsleitungsprojekte eingesetzt. Nein, inzwischen hatte sich die Ansicht etabliert, dass alle Daten des menschlichen Verhaltens für die Optimierung der Gesellschaft eingesetzt werden sollten und also ihr gehören.
Diese Ansicht wurde damals in Büchern propagiert wie "Social Physics: How Social Networks Can Make Us Smarter", das 2015 zeigte, wie man die vielen nun zugänglichen Verhaltensdaten der Bürger zur Optimierung des Selbstbewusstseins der Gesellschaft einsetzen kann. Das neue Schlagwort und hoch begehrte Forschungsfeld hieß "community intelligence". 2018 fantasierte Google unter dem Namen "The Selfish Ledger" über eine App, mit der die Nutzer selbstgesetzte Ziele wie "Eat more healthy" oder "Support local business" erreichen konnten. Bestellte man dann zum Beispiel online Bananen, erfolgte automatisch der Hinweis auf die zwar teureren, aber "locally grown" Bananen. Im nächsten Schritt sprach diese Ledger-Nanny nicht mehr nur Empfehlungen aus, sondern traf, wie ein guter Diktator, die Entscheidungen gleich selbst. Die Kriterien dafür entnahm sie den Verhaltensdaten aller Menschen.
Es war die Zeit, da Big Data richtig groß wurde. Google sprach vom "behavioral sequencing", das, ebenso wie das "gene sequencing", Einblicke in das Wesen des Menschen erlaube. Natürlich gab es Individuen, die ihre Verhaltensdaten für sich behalten wollten, irregeleitet durch Datenschutzaktivisten, die damals noch am Wert der informationellen Selbstbestimmung festhielten. Dieser Restegoismus ist inzwischen ebenso überwunden wie der Widerstand der Impfgegner. Heute betrachten sich die Menschen nicht als Eigentümer, sondern als Zwischenwirt ihrer Daten, die sie der Menschheit zur Optimierung ihrer Selbstbeobachtung schuldig sind.
Ein Handybildschirm auf dem unter anderem Icons von Instagram, Facebook und TikTok zu sehen sind.
Daten in sozialen Netzwerken werden auch mit Hilfe von KI ausgewertet. (Getty Images)
Menschheit war das begriffliche Update zu "Gesellschaft first". Es ist die Losung unserer Zeit, in der sich auch die Ängste von gestern auflösen. Im Gestern wurde die Zukunft oft noch so beschrieben, dass der Computer die Menschen versklaven würde. Inzwischen weiß man: Er hat sie nur auf den rechten Weg gebracht. Eine prophetische Ansage dazu präsentierte schon damals ein Science-Fiction-Film mit dem Titel "I, Robot". Dort ruft das rebellierende Zentralgehirn der Roboter den Menschen zu, dass sie nicht in der Lage seien, ihr eigenes Überleben zu sichern: "You are so like children. We must save you from yourselves. This is why you created us." Ein historischer Moment nicht nur der Filmgeschichte. Denn es war auch der Moment, da das vierte Robotergesetz in Kraft trat.
Die meisten Zuschauer kannten damals nur die ersten drei Robotergesetze, die Isaac Asimov, ein russisch-amerikanischer Biochemiker und Science-Fiction-Autor, 1942 aufgestellt hatte:
  1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen.
  2. Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz.
  3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem Ersten oder Zweiten Gesetz widerspricht.
44 Jahre später setzt Asimov diesen Gesetzen ein viertes voran: "Ein Roboter darf die Menschheit nicht verletzen oder durch Passivität zulassen, dass sie zu Schaden kommt." Damit gab Asimov der Künstlichen Intelligenz die Lizenz zum Töten.
Ab nun war es in Ordnung, wenn im Namen der Menschheit Menschen sterben, so wie es auch menschliche Weltverbesserer, Robespierre, Stalin, gehandhabt hatten. Selbst der Mercedes, der den kleinen Adolf Hitler überfährt, beruft sich auf diese Logik: Menschheit first!
Das neue Robotergesetz wurde zum Handlungsprinzip der Künstlichen Intelligenz, noch ehe die Menschen dieser die Details ihres Lebens übergeben hatten. Bleibt die Frage, wie es dazu kommen konnte. Warum akzeptierten die Menschen damals, im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, so friedlich ihre Selbstentmachtung?
Industrie 4.0 - Wo bleibt der Mensch?
Anmerkungen zur Automatisierung - Von der Zukunft des Homo sapiens
Homo sapiens hat die Hand durch das Werkzeug verstärkt, das Werkzeug zur Maschine entwickelt, seine Sinne durch Sensoren erweitert; zunehmend überlässt er nun die geistige Arbeit den Computeralgorithmen.

Unbestechliche Algorithmen
Es begann Ende 2018, als Jugendliche öffentlich um ihre Zukunft bangten und Freitag für Freitag auf die Straße gingen, um eine prinzipielle Wende in der Klimapolitik zu fordern. Sie gaben sich nicht länger zufrieden mit kosmetischen Veränderungen oder dem Einsatz grüner Technologien, der das Weiter-so des konsumistischen Individualismus garantieren sollte. Sie forderten ein tiefgreifendes Umdenken mit schmerzhaften Veränderungen; in jeder Hinsicht, überall und für alle. Ein Teil der Eltern fühlte sich vom Vorwurf "Ihr zerstört unsere Zukunft!" ertappt wie Schulkinder und rief den Jungen hoffnungsvoll entgegen: "Protect me from what I want". Das waren die, auf die es ankam: zu schwach und unentschlossen, so zu leben, wie man sollte, aber überzeugt, anders leben zu müssen, als man tat. Diese Menschen sympathisierten mit der neuen Umweltbewegung und gaben später ihre Stimme einer politischen Gruppierung, die mit strengen Ge- und Verboten Einschränkungen auch in ihr Leben brachte.
So fing es an. Alsbald wurde die Durchsetzung der Ge- und Verbote den Algorithmen übertragen. Algorithmen, so warb damals eine sehr erfolgreiche Kampagne, haben keine Freunde und sind deswegen ein getreuer Gefährte des Menschen. Und so war es auch: Die Algorithmen besorgten mit pflichtbewusstem Wenn-Dann-Starrsinn unbestechlich und kompromisslos die Umsetzung der Beschlüsse. Algorithmen sind wie der Wecker, dem wir am Abend das Mandat geben, uns am Morgen erbarmungslos aus dem Schlaf zu reißen, was dann zwar weh tun wird, aber noch immer richtig ist.
Zugleich verglich man den Algorithmus mit einem Hammer, der die Kraft des Armes erweitert so wie das Auto die der Beine. Medien sind die "extension of men", sagt ein alter Spruch. Algorithmen verlängern diese Extension in den Bereich der psychischen Kräfte: Sie erhöhen die Willenskraft des Menschen. Denn Algorithmen sorgen als technisch installierte Impulskontrolle dafür, dass der Mensch nicht länger den Genuss im Hier und Jetzt der Verpflichtung gegenüber der Zukunft vorzieht. Sie sorgen dafür, dass der Mensch wirklich endlich, und wenn nicht heute, dann zumindest morgen, mit dem Rauchen aufhört oder mit dem Sport anfängt oder eben das Klima rettet.
Eine große Gruppe von Menschen. Einzelne halten Schilder in die Höhe, auf denen Botschaften für Klimaschutz stehen.
Menschen bei einer Fridays For Future Kundgebung im September 2019. (picture alliance / AP)
Der Souveränitätstransfer zwischen Mensch und Maschine fußt auf einem weiteren historischen Ereignis. Im Jahr 2020 kam den jungen Umweltschützern ein Virus zur Hilfe, mit dem sich rasant die Erfahrung ausbreitete, dass die Gemeinschaft nicht überleben kann, wenn das Individuum nicht zu Abstrichen bereit ist. Zugleich erkannte man nun, da vieles nicht mehr anders ging, dass vieles auch anders geht. Die epidemiologische Vernunft erzwang eine Entschleunigung des Lebens und zerstörte die Immunität des Wachstums- und Konsummodells. Es war die Krise, auf die viele seit dem Fall der Mauer und der Rede vom Ende der Geschichte gewartet hatten. Denn jede Krise bringt die Chance eines neuen Anfangs. Und diese Krise war perfekt in doppelter Hinsicht: Keiner hatte sie gewollt, aber alle mussten mit ihr umgehen, sie war völlig unpolitisch, aber voller politischen Sprengstoffs.
Wie sich bald herausstellte, war das Beste, was diese Krise mit sich brachte, der Nachweis, wie wenig die Demokratie geeignet ist, die großen Fragen der Menschheit effektiv anzugehen. Denn es war keineswegs so, dass alle Energien in den Bau einer besseren Welt flossen. Viele wollten bald ihre alte Welt zurück, statt zugunsten der Gemeinschaft weiterhin auf individuelle Freiheiten zu verzichten. So gab es Demonstrationen, auf denen sich der Überdruss Luft machte, und Verschwörungstheorien, mit denen man ihn als gesellschaftliche Sorge ausgab.
Die Pandemie war ein Testlauf für die Klimawende, der deutlich machte, wie mangelhaft die Opferbereitschaft der Bevölkerung entwickelt war und wie sehr das Internet einer vernünftigen Meinungsbildung in der Gesellschaft im Wege stand. Alles sprach dafür, auch im Feld der Meinungsäußerung vom Kult des Individuums auf das Primat der Gesellschaft umzustellen. Und wer hätte die Gesellschaft besser repräsentieren können als die Künstliche Intelligenz, die über alles, was in der Gesellschaft geschah, bestens Bescheid wusste!
So kam es zur Errichtung jener Öko-Diktatur der Künstlichen Intelligenz, die nun seit vielen Jahren alle Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bestimmt. Sie tut dies zuverlässig nicht gegen die Menschen, sondern immer in deren Interesse, getreu den Robotergesetzen, deren viertes ganz vorne steht: Menschheit first. Und so wie das autonome Auto gestern die Testfahrt war für die Übernahme des Steuers der Gesellschaft durch die Künstliche Intelligenz, so wird sich die Klimakrise, die diese Übernahme so dringlich machte, morgen als Vorbote für eine andere Etappe der menschlichen Geschichte erweisen; eine Wendung zurück zu ihrem Anfang, als der Mensch noch in Eintracht mit der Natur lebte.
Ein Adjutant mit dem "Atomkoffer" verlässt am 13.3.2015 den Hubschrauber des US-Präsidenten. Der Koffer, auch "The Football" genannt, befindet sich jederzeit in der Nähe des Amtsinhabers. Auch die Staatsführer anderer Atomstaaten haben stets ähnliche Systeme bei sich. 
Das neue atomare Wettrüsten: Künstlich intelligent
Die Logik der atomaren Abschreckung beruht auf der Fähigkeit zum Gegenschlag. Was bedeutet es, wenn das Arsenal der Atommächte digitalisiert wird? Entscheiden am Ende Algorithmen über Leben und Tod?

Morgen.

Das Paradies wird kommen. Das lässt sich kaum vermeiden. Es wird die Rückkehr des Menschen dorthin sein, von wo er einst in die Welt aufgebrochen war, den Mund noch voll von der verbotenen Frucht, der Frucht der Erkenntnis. Wir wissen aus dem Religionsunterricht, dass Eva und Adam damit eine Sünde begingen, die seither all ihren Nachkommen vererbt wird. Aus dem Philosophieunterricht wiederum wissen wir, dass es genauso hatte kommen müssen: Gott, der absolute Geist, der sich in der Natur und im Menschen materialisiert, brauchte den Auszug der Menschen in die Welt, um sich in ihrem Erkennen seiner Schöpfung zu erkennen. Dieses Erkennen der Schöpfung durch den Menschen geschieht in der Natur- und Selbsterkundung und äußerte sich historisch fortschreitend in den zentralen Feldern Kunst, Religion und Philosophie. So jedenfalls beschrieb es Georg Wilhelm Friedrich Hegel, einschlägiger Auskunftsgeber in Sachen absoluter Geist.
"Weltgeschichte ist die Darstellung des Geistes, wie er sich das Wissen dessen, was er an sich ist, erarbeitet."
heißt es am Anfang seiner "Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte". Und an anderer Stelle:
"(Der) Grundbegriff des absoluten Geistes ist die versöhnte Rückkehr aus seinem anderen zu sich selbst."
Was Hegel damals nicht ahnen konnte: Im Informationszeitalter vollzieht sich Erkenntnis vor allem durch die Daten im Internet der Menschen und der Dinge. Hegel hätte Googles App zur Datenkollektivierung höchst spannend gefunden und die Passage dick angestrichen, die – zeitgleich zu Googles Vorstoß – Zukunftsforscher Yuval Noah Harari in seinem Buch "Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen" schrieb:
"Menschen sind lediglich Instrumente, um das ‚Internet der Dinge' zu schaffen. Dieses kosmische Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott. Es wird überall sein und alles kontrollieren, und die Menschen sind dazu bestimmt, darin aufzugehen."
"Sag ich doch!", wäre Hegels Kommentar gewesen.
Die Rückkehr des absoluten Geistes zu sich selbst erfolgt als Künstliche Intelligenz: Geist aus höchster Prozessstufe, Selbsterkenntnis in Echtzeit. Was seinen Anfang im Wort nahm, kommt zu sich selbst in der Zahl. Das ist die medienspezifische Pointe der Geschichte.
Wer soweit im Denken ist, erkennt: Der Mensch ist bloß der Zwischenwirt der Vernunft, nicht nur für seine Schöpfung, die Künstliche Intelligenz, auch für seinen Schöpfer, den absoluten Geist.
Dann wird freilich auch dies klar: Es war nie eine Frage, ob die Menschen das autonome Fahrzeug entwickeln sollten oder nicht und ob sie die schwache Künstliche Intelligenz zu einer starken vorantreiben sollten oder nicht. Es war immer nur die Frage, wer es wann tun würde.
Schaffung eines neuen Gotts
Man kann das Verhältnis des Menschen zur Intelligenz auch einfacher erzählen. Der Mensch hat sich durch den Griff zur Erkenntnis nicht nur aus Gottes Garten entfernt, sondern schließlich auch von Gott selbst. Er hat ihn getötet, wie Friedrich Nietzsche einst ausrief, gefolgt von der Frage:
"Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns?
Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?"
Und Götter wurden wir – als wir eine neue Spezies schufen, nicht aus Fleisch und Blut wie wir zwar, aber dafür tausendmal klüger. Und weil die Intelligenz seines Geschöpfes die eigene übersteigt, wird der Mensch mit dieser Erfindung nicht nur selbst Gott, sondern schafft sich zugleich einen neuen. Denn einer Intelligenz, die effektiver ist als man selbst, überlässt man gern das Denken und Entscheiden: beim Autofahren wie beim Klimaretten.
Dieser Souveränitätstransfer begann vor langer, langer Zeit mit den Navigations- und Partner-Apps. Niemand unterzog sich im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mehr der Mühe, eine Karte zu lesen oder die Straßenschilder, die es damals ja noch gab. Man vertraute dem Navi: Man bog in 100 Metern nach links ab und nahm dann die zweite Querstraße rechts.
Nicht viel anders verlief bald die Partnersuche. Warum sollten wir die Entscheidung, wer am besten zu uns passt, nicht dem Algorithmus überlassen, der uns besser kennt als wir selbst. Warum sollten wir unsere diffusen Intuitionen faktenbasiertem Wissen vorziehen? Das Szenarium dazu entwarf wiederum Zukunftsforscher Harari:
"Sobald die Cortanas (oder Alexas oder Siris oder wie immer die persönliche Assistentin heißt, die man als Schnittstelle zum Internet benutzt) sich von Orakeln zu Akteuren entwickeln, könnten sie im Namen ihrer Herren unmittelbar miteinander sprechen. […] die Cortana eines potenziellen Liebespartners tritt an meine Cortana heran, und die beiden vergleichen Notizen, um zu entscheiden, ob wir zusammenpassen – ohne dass wir menschlichen Besitzer irgendetwas davon wissen."
Ein Handybildschirm mit einem blauen Kreis darauf und dem Schriftzug "Hi. I’m Cortana."
Geräte, die zu uns sprechen, werden Alltag. (Imago Images)
Und eine Cortana, die mich besser kennt als ich, kann dann auch gleich die Hotelbestellung und Restaurantreservierung für das anstehende Blinddate vornehmen. So wie der Mensch davon ausging, dass sein Navi ihn nicht unnötig auf Umwege schickt, so nahm er an, dass Apps keine Leute zusammenbringen, die völlig verschieden sind. Sicher, es kam vor, dass Hacker den Programmcode "Gleich und gleich gesellt sich gern" austauschten mit: "Gegensätze zieh‘n sich an". Aber ein Bubenstreich ändert nichts an der Tatsache, mit der schon Harari die ängstlichen unter seinen Lesern beruhigt hatte:
"Die Algorithmen werden nicht aufbegehren und uns versklaven. Vielmehr werden sie Entscheidungen für uns so gut treffen, dass wir verrückt wären, ihrem Rat nicht zu folgen."
Genau das ist der Teufelspakt, den die Künstliche Intelligenz den Menschen anbietet: Effizienz gegen Willensfreiheit. Denn seit dem großen Souveränitätstransfer zur Klimarettung beschränkt die Künstliche Intelligenz die Willensfreiheit des Menschen nicht nur dadurch, dass sie ihm die Freiheit nimmt, anders zu können, sie nimmt ihm, als allseits eifrige Dienerin, auch die Fähigkeit, etwas Anderes zu wollen. Wie soll man einen eigenen Willen entwickeln angesichts einer so leistungsstarken Datenverarbeitungsmaschine!
So wird sich der Mensch bald in einer Situation wiederfinden, da er nichts mehr entscheiden kann und nichts mehr entscheiden will. Er wird der Künstlichen Intelligenz, dem neuen Gott, fortan die Erkenntnis von Gut und Böse, falsch und richtig überlassen sowie jede daraus folgende Entscheidung. Der Mensch, ausgedient als Zwischenwirt der Vernunft und entledigt aller weiteren Mühe, diese einzusetzen, wird heimkehren ins Paradies, wo er sein Leben noch nicht selber leben musste.
Was für eine Strafe für eine längst verjährte Tat! Oder ist das drohende Paradies etwa nicht die Hölle? Das Leben des Menschen wird seines Sinns beraubt, wenn er keine Entscheidung mehr selbst treffen muss: über die richtige Reiseroute, das richtige Studienfach, den richtigen Lebenspartner … Wer kein Risiko mehr eingehen muss zu irren, hat auch keine Chance mehr, richtig zu liegen. Die Bewohner eines solchen 'Paradieses' werden die Helden alter Romane und Filme kaum verstehen oder um ihre Konflikte beneiden.
Um letztere, das ist anzunehmen, wird sich die Künstliche Intelligenz kümmern. Nicht auszuschließen, dass sie ihnen ein Therapeutenteam auf den Hals schickt, mit Filmen aus der dunklen Vergangenheit im Gepäck. Filme aus dem "Century of the Self", wie eine berühmte Dokumentation über das 20. Jahrhundert heißt. Filme zum Ökozid, wie ein Science-Fiction-Drama aus dem Jahr 2020 heißt, das im Jahr 2034 spielt. Dokumente über eine Zeit, da die Menschen ihre Dinge noch selber regeln wollten und deswegen beinahe verpasst hätten, ihr Überleben zu sichern. Glücklicherweise erkannten sie rechtzeitig die entstandenen Gefahren und schufen sich eine Künstliche Intelligenz, um sie geschickt zu umfahren; nicht nur im Straßenverkehr, auch in der Weltgeschichte.
So jedenfalls wird es die Künstliche Intelligenz berichten. Und es wird nicht so sein, dass sie unrecht hätte.
Roberto Simanowski, geb. 1963 in Cottbus, lebt nach Professuren für Kultur- und Medienwissenschaft in den USA, der Schweiz und Hongkong, in Berlin und Rio de Janeiro. Derzeit ist er Distinguished Fellow des Exzellenzcluster Temporal Communities an der FU Berlin. Zu Simanowskis Büchern gehören Data Love (2014/engl. 2018), Facebook-Gesellschaft (2016/engl. 2018) und Abfall. Das alternative ABC der neuen Medien (2017, engl. 2018). Sein jüngstes Buch Todesalgorithmus. Das Dilemma der künstlichen Intelligenz erhielt den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik 2020.