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Dienstleistungsfreiheit in Europa
Mehr Hürden als Erleichterung

Für die osteuropäischen EU-Mitglieder gilt die Dienstleistungsfreizügigkeit erst seit 2011. Doch seitdem wird es für Handwerker und Fachkräfte aus Polen oder Tschechien nicht einfacher, wenn sie in westlichen Nachbarländern arbeiten wollen, sondern tatsächlich immer komplizierter.

Von Kilian Kirchgeßner | 24.04.2019
Ein Handwerker steht mit Werkzeug in der Hand über ein Waschbecken gebeugt. Foto Thomas Frey/dpa | Verwendung weltweit
Die bürokratischen Hürden für Handwerker aus Osteuropa sind höher geworden (dpa)
Ihre Bilanz ist eindeutig: Die Länder der EU, sagt Jitka Ryšavá, schotteten sich immer mehr ab.
"Zum Besseren hat sich nur eins verändert, und das war im Jahr 2011, als sich für uns Mitteleuropäer der Markt in Westeuropa geöffnet hat. Aber seitdem verschlechtern sich die Bedingungen immer weiter. Das Ergebnis ist, dass es zu einer deutlichen Einschränkung von einer der vier Grundfreiheiten in der EU kommt, und das ist die Dienstleistungsfreiheit."
Das Gewirr von Regulationen wird immer dichter
Diese Dienstleistungsfreiheit ist ihr Metier: Jitka Ryšavá vom staatlichen Zentrum für Regionalentwicklung leitet in Prag die Niederlassung des Enterprise Europe Network, das kleine und mittelständische Unternehmen unterstützt. Das Gewirr von Regulationen werde immer dichter, sagt sie:
"Der europäische Rahmen gibt den einzelnen Mitgliedsländern die Möglichkeit, sehr komplexe eigene Regeln aufzustellen. Würde die europäische Regulation nicht immer strenger, könnten sich auch die nationalen Bedingungen nicht so rasch verändern."
Die Auftragsbücher sind voll, aber der Aufwand zu hoch
Will zum Beispiel ein Handwerksunternehmen aus Tschechien in Deutschland tätig werden, sammelt sich schnell ein ganzer Aktenordner von Dokumenten an: Sozialversicherungsnachweise, eine Anmeldung bei einem Meldeportal zum Mindestlohn, eine Registrierung bei der örtlichen Handwerkskammer, Anmeldungen bei der Steuerbehörde wegen der Mehrwertsteuer, Entrichtung der Bauabschlagssteuer, Einzahlungen in die Urlaubskasse der deutschen Handwerker – die Liste scheint endlos. Marcela Červenková lässt sich von diesen Hürden nicht abschrecken: Sie ist Geschäftsführerin des Elektriker-Betriebs Veos aus der tschechischen Stadt Hodonin, der in ganz Europa aktiv ist. Die Auftragsbücher sind voll, deshalb hat sie nur Zeit für ein kurzes Telefonat.
"Das Projekt kann noch so klein sein – die Verpflichtungen sind immer gleich. Wenn wir zum Beispiel unsere Mitarbeiter vor Ort anmelden, ist es egal, ob sie da für 14 Tage hinfahren, für einen Monat oder für ein halbes Jahr. Für uns ist es also besser, je größer das Projekt ist."
Am Anfang reichte das Formular A1
Wie aufwendig das Procedere in der Praxis ist, kann Marcela Červenková gut beziffern: 13 Mitarbeiter ihrer Firma sind regelmäßig im Ausland unterwegs – allein um für sie alle Formalitäten zu erledigen, brauche sie eine halbe Stelle im Büro; zusätzlich zu Steuerberatern in jedem Land, in dem ihre Mitarbeiter tätig werden. Etwas wehmütig denkt sie an die Zeit, die erst acht Jahre zurückliegt.
"Am Anfang war das Formular A1 ausreichend. Bei unserem ersten Projekt haben wir uns um dieses Formular gekümmert und die Kollegen sind einfach losgefahren."
Das Formular A1 ist eine Bestätigung, dass die Arbeitnehmer in ihrem Heimatland sozialversichert sind. Damals habe die Freizügigkeit ihren Namen noch verdient. Heute, erzählt die Prager Expertin Jitka Ryšavá, komme es sogar vor, dass in Deutschland ausländische Handelsvertreter auf Messeständen kontrolliert würden, obwohl klar sei, dass sie nur für die Messetage vor Ort sind. Je nach Auslegung der Rechtslage müssten auch tschechische Lehrer bei einem Schüleraustausch sämtliche Unterlagen vom Mindestlohn-Nachweis bis zur Qualifikationsbescheinigung mit sich tragen, weil sie schließlich im Ausland arbeiten. Was als Kampf gegen vermeintliche Dumping-Löhne auf dem Bau begonnen hat, droht inzwischen auch High-Tech-Branchen lahmzulegen: Monteure, die aufwendige Maschinen im Ausland aufbauen, sind genauso betroffen wie hochbezahlte Software-Spezialisten aus Prag, die ein Projekt bei einem Kunden irgendwo im Ausland erledigen. Wie die tschechischen Firmen damit umgehen? Jitka Ryšavá muss nicht lange nachdenken:
"Ich habe kürzlich 20 Firmen abtelefoniert, die hier in der Beratung waren, und etwa die Hälfte sagte mir: Wir lassen da lieber die Finger davon. Das ist so kompliziert, das ist es uns einfach nicht wert."