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Dieselgate
Volkswagen und das Jahr der Krise

Der VW-Abgasskandal hat dem Volkswagen-Konzern die wohl schwerste Krise der Unternehmensgeschichte beschert. Ein Jahr danach ist klar: Die milliardenschwere Bewältigung des Skandals und seiner Folgen steht erst am Anfang. Trotzdem blickt der Konzern optimistisch in die Zukunft. Inmitten der größten Krise kündigte VW-Chef Müller den "größten Wandel" in der Konzerngeschichte an.

Von Dietrich Mohaupt und Alexander Budde |
    Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG und Vorstandsmitglied der Porsche SE, sitzt am 29.06.2016 in Stuttgart (Baden-Württemberg) während der Hauptversammlung der Porsche Automobil Holding SE auf dem Podium.
    Ein schweres Jahr für Matthias Müller, Vorstandsvorsitzender der Volkswagen AG. Der Konzern muss Klagen in Milliardenhöhe verkraften. (dpa/picture alliance/Marijan Murat)
    An einem Dienstag im August steht Stephan Weil vor einem unermüdlich laufenden Fließband. Hinten bewegen sich Roboter im immer gleichen Takt, vorn ziehen halbfertige Karosserien vorbei. Niedersachsens sozialdemokratischer Ministerpräsident schaut zu, wie Arbeiter letzte Hand an die verschiedenen Modellvarianten des Verkaufsklassikers Golf anlegen.
    Allein hier, im Wolfsburger Stammwerk, arbeiten 60.000 Menschen für Volkswagen. Vor einem Jahr gestand Europas größter Autobauer den vorsätzlichen Betrug an Millionen Kunden – seither steckt der Konzern in einer beispiellosen Krise.
    Am kommenden Sonntag jährt sich die Aufdeckung des Betrugs in den USA. Der Abgasskandal hat auch die Belegschaft tief erschüttert. Inzwischen sorgen sich viele um ihre Arbeitsplätze, fragen sich, wie es mit ihnen, mit VW weitergehen soll.
    Derweil ist Ministerpräsident Stephan Weil sichtlich bemüht, Zuversicht zu verbreiten. Er sitzt im Aufsichtsrat des Weltkonzerns, das Land Niedersachsen ist mit einem Anteil von 20 Prozent VW-Großaktionär.
    Mitglieder des Präsidium des VW-Aufsichtsrates verkünden in Wolfsburg den Rücktritt von VW-Chef Winterkorn (Im Bild von rechts Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, ehemaliger IG-MetallChef Berthold Huber,Wolfgang Porsche)
    Mitglieder des Präsidiums des VW-Aufsichtsrates verkünden im September 2015 den Rücktritt von VW-Chef Winterkorn (Im Bild von rechts Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, ehemaliger IG-MetallChef Berthold Huber,Wolfgang Porsche) (AFP PHOTO/ODD ANDERSEN)
    "Die Bewältigung dieser wirklich schlimmen Fehler, die da gemacht wurden, die macht deutliche Fortschritte. Alle Beteiligten haben in den letzten Monaten vor diesem geschilderten Hintergrund unter massiver Anspannung gearbeitet."
    Wer im Einzelnen für was verantwortlich ist, lässt auch Volkswagen selbst seit Monaten von internen und externen Ermittlern wie etwa der US-Kanzlei Jones/Day untersuchen.
    "Da sind wirklich viele hundert Menschen befragt worden, da sind gigantische Datenbestände ausgewertet worden, und ich glaube, ich habe die Geschichte sehr klar verstanden, wie es dazu kommen konnte."
    Firmeninterne Aufklärung bleibt geheim
    Was falsch lief, bleibt vorerst das Geheimnis der Vorstände und Aufsichtsräte. Volkswagen hatte angekündigt, die Ergebnisse der firmeninternen Selbsterkundung zu veröffentlichen und die Schuldfrage zu klären, dann jedoch einen Rückzieher gemacht. Auch Ministerpräsident Weil vertröstet die Öffentlichkeit immer wieder:
    "Es ist oft genug gesagt worden – der Aufsichtsrat würde sehr gerne sehr viel klarer auch zum Ausdruck bringen, was er weiß und wie er den Hergang einschätzt. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen und auch akzeptieren, dass man natürlich dadurch auch Ermittlungen stören kann."
    VW wollte in den USA Marktanteile gewinnen und mehr Dieselautos verkaufen. Doch vor allem die Kostenvorgaben der Konzernspitze für die Motorenentwicklung erwiesen sich als unlösbares Problem. Eine kleine Gruppe aus der Motorentechnik soll nach Angaben der Staatsanwälte im US-Bundesstaat Maryland bereits 2005 den folgenschweren Beschluss zum Einsatz einer verbotenen Abschalteinrichtung getroffen – und dieses so genannte "Defeat Device" tief in der komplexen Motorsteuerung versteckt haben.
    - "How do you like my new car?”
    - "Isn't diesel dirty?”
    - "Ah, say it's beautiful for christ’s sake!"
    Im Frühjahr 2014 entdeckten Wissenschaftler im Auftrag der Non-Profit-Organisation "International Council on Clean Transportation" ICCT bei zufälligen Kontrollen die erhöhten Abgaswerte und meldeten diese den US-Umweltbehörden. Die wiederum informierten Volkswagen.
    Lange Zeit keine Einsicht bei VW
    Ihr schmutziges Geheimnis stritten die Wolfsburger trotz eindeutiger Testergebnisse lange Zeit ab. Als die US-Umweltbehörden EPA und CARB im Juli 2015 damit drohten, neue Modelle nicht zu zertifizieren, räumte VW erstmals die Manipulationen ein – allerdings nur intern. Am 18. September dann veröffentlichten die US-Umweltbehörden ihre Ergebnisse in der sogenannten "Notice of Violation". Am 20. September gab VW dann auch öffentlich zu, Diesel-Motoren manipuliert zu haben.
    - "See how clean it is?”
    - "It´s not dirty, but you still have a dirty mind!”
    Kurz vor seinem Rücktritt als Konzernchef am 23. September 2015 hatte Martin Winterkorn diesen größten Skandal der Firmengeschichte noch als "Fehler einiger weniger" bezeichnet.
    "Die Unregelmäßigkeiten bei Dieselmotoren unseres Konzerns widersprechen Allem, für was Volkswagen steht!"
    Mittlerweile sind sechs von neun Vorstandsmitgliedern ausgewechselt worden, der frühere Finanzvorstand Hans-Dieter Pötsch wurde zum Chef des Aufsichtsrats ernannt. Gegen zahlreiche Führungskräfte und Vorstände wird ermittelt, darunter auch Winterkorns Nachfolger VW-Chef Matthias Müller und VW-Markenchef Herbert Diess.
    Zahlreiche Klagen von Käufern und Anlegern
    Allein beim Landgericht Braunschweig sind 70 Klagen von Käufern manipulierter Fahrzeuge aus dem VW-Konzern anhängig. In der Regel gehe es den Klägern darum, ihren Kaufvertrag rückgängig zu machen, erläutert Gerichtssprecherin Maike Block-Cavallaro – und dabei gebe es zwei Varianten:
    "Die eine Variante ist, dass die Kläger, die Käufer sagen, sie seien arglistig getäuscht worden von Volkswagen und die andere Variante ist, dass die Käufer zurücktreten wollen vom Kaufvertrag, weil sie sagen, die Fahrzeuge seien mangelhaft gewesen wegen der Software."
    Ein KFZ-Servicetechniker mit einer Abdeckung vor einem vom Abgas-Skandal betroffenen 2.0l TDI Dieselmotor vom Typ EA189 in einem VW Touran in einer Autowerkstatt
    Einige Kunden wollen ihre Fahrzeuge zurückgeben und Klagen gegen den Konzern. (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
    In keinem einzigen Fall habe es bisher eine Entscheidung gegeben – stattdessen müssten immer wieder grundsätzliche Fragen geklärt werden.
    "Bei der Frage, ob ein Rücktritt möglich ist wegen eines Mangels, da ist z.B. zu prüfen, hat VW ein Nachbesserungsrecht - und wenn ja, ist eine Frist gesetzt worden, ist die angemessen etc.? Und bei der Frage der arglistigen Täuschung geht es um andere Fragen – z.B. hat derjenige das Auto wirklich gekauft, weil er auf Umweltschutz Wert gelegt hat."
    Doch nicht nur die Kunden klagen – auch die Anleger:
    "Bei den Anlegerklagen geht es darum, dass argumentiert wird, dass Volkswagen viel früher über die Abgasproblematik hätte Mitteilung machen müssen und dass in diesem Fall Aktien dann eventuell nicht gekauft worden wären oder verkauft worden wären."
    Es geht also um Schadensersatz für Kursverluste in Milliardenhöhe – ausgelöst durch den Absturz der VW-Aktie direkt nach der Bekanntgabe von Dieselgate in den USA vor einem Jahr. Diese Klagen vor dem Landgericht Braunschweig werden derzeit ausgesetzt – bis das Oberlandesgericht in einem Musterverfahren über grundsätzliche Fragen zur Haftung von VW für Kursverluste von Anlegern entschieden hat. Erst Ende dieses Jahres wird ein Musterkläger für dieses Verfahren festgelegt, dass dann im kommenden Jahr stattfinden soll.
    Zeugen haben umfangreiche Aussagen gemacht
    Zum Thema Aufarbeitung von Dieselgate gehören natürlich auch strafrechtliche Fragen – gerade erst hat in den USA ein VW-Mitarbeiter gestanden, jahrelang Teil einer Verschwörung gewesen zu sein mit dem Ziel, Behörden und Kunden bewusst zu täuschen. Solche Geständnisse können die deutschen Justizbehörden noch nicht vorweisen – man arbeite aber mit den US-Kollegen eng zusammen, betont Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe von der Staatsanwaltschaft Braunschweig.
    "Das, was jetzt durch die Medien geht, ist von daher möglicherweise für uns nicht so ganz neu! Wir haben aber auch bereits jetzt Zeugen / Beschuldigte vernommen, die sehr umfangreich zum Teil Angaben gemacht haben."
    Insgesamt ermitteln die Braunschweiger Staatsanwälte gegen 30 Beschuldigte aus dem Konzern – es geht um Betrug, Beihilfe zur Steuerhinterziehung, den Versuch, Beweismittel zu vernichten und nicht zuletzt um den Vorwurf der Marktmanipulation durch zu späte Herausgabe von börsenrelevanten Informationen.
    Ob juristisch oder politisch – wenn es um Aufklärung oder Aufarbeitung geht, melden sich jede Menge Mahner und Kritiker zu Wort. Im Fall Volkswagen hat sich der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion im niedersächsischen Landtag, Jörg Bode, besonders hervorgetan.
    "Auf der einen Seite ist es schon wirklich abenteuerlich, dass ein solcher Betrugsfall in diesen Dimensionen tatsächlich über so viele Jahre möglich war, ohne dass jemand mit Unrechtsbewusstsein sich gemeldet hat, es aufgedeckt hat oder es andere Kontrollmechanismen gab, die es identifiziert haben."
    Eine Kritik, die Jörg Bode auch an sich selbst richten müsste: Von Oktober 2009 bis Februar 2013 war er Wirtschaftsminister des Landes Niedersachsen – und auch Mitglied im Aufsichtsrat von VW. Trotzdem lässt er – als einer der wenigen – keine Gelegenheit zu handfester Kritik verstreichen.
    Der niedersächsische FDP-Landtagsabgeordnete Jörg Bode.
    FDP-Politiker Jörg Bode kritisiert den mangelnden Willen zur Aufklärung der Affäre. (picture alliance / dpa / Holger Hollemann)
    Ganz besonders hat den FDP-Politiker das Verhalten der rot-grünen Landesregierung bei der Jahreshauptversammlung im vergangenen Juni geärgert. Da enthielt sich das Land Niedersachsen bei der Abstimmung über die Entlastung zweier Vorstandsmitglieder. Ein etwas dürftiges Signal - kritisiert Bode. Offenbar fehle es nicht nur im Vorstand, sondern auch bei Ministerpräsident Stephan Weil und Bodes Nachfolger - Wirtschaftsminister Olaf Lies, SPD, an echter Bereitschaft zur Aufarbeitung der Affäre, mutmaßt er.
    "Wenn die Bundesanstalt für Finanzaufsicht zu dem Ergebnis kommt, dass Aktienkursmanipulationen seitens des Vorstandes der Volkswagen AG vorgelegen haben, dann ist es aus meiner Sicht einfach ein moralisches Selbstverständnis des Vorstandes, zu sagen: 'Komm wir lassen das mit der Entlastung'. Auf der anderen Seite – wenn der Vorstand schon selber nicht die nötigen Moralvorstellungen an sich legt, ist es die Sache des Aufsichtsrats, dafür zu sorgen, dass solche Versuche einfach im Keim erstickt werden."
    Vorstand ohne Moral?
    Ein weiterer Kritikpunkt Bodes: Die Moral, die scheine sowieso ein ganz schwieriges Thema im Zusammenhang mit Volkswagen zu sein, vor allem für den Vorstand:
    "In einer Situation mit dem größten Unternehmensverlust in der Geschichte, mit gigantischen Schadensersatzforderungen die bestehen – wie man da überhaupt nur eine Sekunde daran denken kann, als Vorstand im ersten Schritt, man könnte jetzt zu seinem Millionengehalt auch noch Millionen Bonuszahlungen bekommen – das geht halt nicht."
    Die umstrittenen Bonuszahlungen stehen ebenfalls im Fokus der Justizbehörden. So prüft die Staatsanwaltschaft in Braunschweig derzeit, ob der Konzern mit einer korrekten Diesel-Abgasreinigung vielleicht weniger verdient hätte – und damit auch niedrigere Bonuszahlungen für den Vorstand fällig gewesen wären.
    VW hatte vor der Abgasaffäre Milliardengewinne verbucht – nicht zuletzt mit dem Verkauf von weltweit rund elf Millionen manipulierter Diesel-Fahrzeuge. Diese offenbar illegal zustande gekommenen Gewinne könnte die Ermittlungsbehörde nun nachträglich einkassieren. Und das würde dann bedeuten, so Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies:
    "Kein Gewinn ist kein Gewinn – und von keinem Gewinn kann man auch keine Boni zahlen."
    In den USA muss VW mehr Verantwortung übernehmen
    In den USA, wo alles begann, haben Strafjuristen und Anwälte seitdem viel herausgeschlagen: VW muss betroffene Fahrzeuge zurückkaufen oder umbauen, je nachdem was die Kunden wünschen – dazu kommen Entschädigungszahlungen.
    Auf mindestens 15 Milliarden Dollar – umgerechnet rund 13 Milliarden Euro - beläuft sich der Vergleich, auf den sich Volkswagen bereits im Juni dieses Jahres mit US-Behörden und Privatklägern wegen rund 500.000 manipulierter Dieselautos mit 2,0-Liter-Motoren geeinigt hatte.
    Im Fall der größeren Motoren mit drei Litern Hubraum laufen die Verhandlungen noch. Hier sind in den USA rund 85.000 Fahrzeuge betroffen. Mit dem US-Justizministerium verhandeln die Wolfsburger zudem noch über die Beilegung der strafrechtlichen Ermittlungen. Unklar ist daher, ob die wegen des Abgasskandals unlängst auf knapp 18 Milliarden Euro aufgestockten Rückstellungen überhaupt ausreichen.
    Unterdessen scheint es nicht logisch, warum Volkswagen zwar den Haltern manipulierter Dieselautos in den USA eine Entschädigung zahlt, sich die Kunden im Rest der Welt hingegen mit einer schlichten Umrüstung begnügen sollen.
    Nicht nur Fahrzeuge von VW sind betroffen
    So wirft etwa die EU-Kommission dem Wolfsburger Konzern vor, in nicht weniger als 20 Mitgliedsländern der Europäischen Union gegen Gesetze zum Verbraucherschutz verstoßen zu haben. Fakt ist aber auch, dass der Abgasskandal über Wolfsburg hinaus reicht – die gesamte Autoindustrie ist betroffen. Auch bei Dieselfahrzeugen anderer Hersteller, selbst bei neuesten Modellen, sind die Abgaswerte besorgniserregend. Nach EU-Regeln dürfen in der Atemluft im Jahresschnitt maximal 40mg/m³ Stickoxid enthalten sein. Vielen Regionen und Metropolen drohen Strafzahlungen falls sie es nicht schaffen, die Stickoxid-Grenzwerte einzuhalten.
    Deshalb nutzt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) den VW-Abgasskandal auch, um mehr Unterstützung zu finden, schmutzige Diesel-Fahrzeuge aus deutschen Innenstädten zu verbannen.
    Die Deutsche Umwelthilfe hat sich deshalb eigene mobile Geräte zugelegt, um den Schadstoffausstoß von Dieselfahrzeugen im Alltagsbetrieb – anstatt unter Laborbedingungen auf dem Prüfstand – zu messen. Das Resultat sei ein Skandal im Skandal, sagt Geschäftsführer Jürgen Resch. Zwar finden sich ganz unten auf seiner Liste einige Fahrzeuge, die auch auf der Straße die erlaubten Grenzwerte für Stickoxid und Kohlendioxid einhalten – darunter auch umgerüstete Selbstzünder von VW. Modelle fast aller Hersteller lagen jedoch um das Fünf- bis Achtfache darüber:
    "Und deswegen: Unsere Forderung ist, dass alle Fahrzeuge auch vom Staat gescreent werden – und wer eben auffällig ist, muss einen besseren Kat einbauen, muss eine bessere Software installieren. So kriegen wir sehr schnell die Straßen und die Städte sauber!"
    Stau auf der A81 in Baden-Württemberg
    Die Deutsche Umwelthilfe möchte, dass in Zukunft alle Autos vom Staat gescreent werden. (Imago)
    Dass die meisten Dieselfahrzeuge unter realen Fahrbedingungen weit mehr Schadstoffe ausstoßen als bei den offiziellen Prüfverfahren von TÜV, DEKRA und Co. ist seit Jahren bekannt. Doch erst seit Offenlegung des Abgasskandals werden strengere EU-weite Testzyklen und die Streichung von Steuersubventionen für die in Europa weit verbreitete Dieseltechnologie überhaupt erst ernsthaft diskutiert. Warum die Bundesregierung das Treiben der Automobilindustrie so lange duldete, klärt jetzt ein von der Opposition beantragter Untersuchungsausschuss im Bundestag, der im Juli zu seiner ersten Sitzung zusammengetreten ist.
    Sachverständige fordern präzisere Regeln für Abschalteinrichtungen
    Die vor den Untersuchungsausschuss geladenen Sachverständigen fordern vor allem präzisere Regeln für Abschalteinrichtungen der Abgasreinigung. Diese sind generell verboten, mit Ausnahme der so genannten "Thermofenster" zum Motorschutz – das sind bestimmte Temperaturbereiche, in denen nach Angaben der Hersteller die Stickoxide am effektivsten aus den Abgasen gefiltert werden, ohne dass dabei ein Risiko für Motorschäden besteht.
    Umweltverbände und auch SPD-Umweltministerin Barbara Hendricks hatten bereits im vergangenen Jahr die viel zu großzügige Auslegung dieser Ausnahmeregelungen durch viele Hersteller kritisiert – bei manchen Fahrzeugen funktionierte die Abgasreinigung erst bei Außentemperaturen über 17 Grad ohne Einschränkungen. Im April meldete sich dann auch Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) mit kritischen Anmerkungen zum Thema "Thermofenster" zu Wort – die betroffenen deutschen Hersteller gelobten daraufhin, 630.000 Fahrzeuge im Rahmen einer "freiwilligen Serviceaktion" so umzurüsten, dass die Abgasreinigung bereits ab fünf Grad Außentemperatur in vollem Umfang arbeitet. Das Kraftfahrt-Bundesamt hat bereits entsprechende Maßnahmen für ein Porschemodell freigegeben.
    Eine Mogelpackung, warnt Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe.
    "Ich verstehe nicht, dass Porsche bei plus fünf Grad die Abgasreinigung abschalten soll. Das hätte ja im Grunde genommen zur Folge, dass dann bei niedrigen Temperaturen die Bevölkerung die Städte verlassen sollte, weil ja nun mit amtlicher Genehmigung die Autos beliebige Schadstoffe in die Städte einleiten können."
    Weg vom Diesel, hin zum Elektroauto
    Inmitten der größten Krise hat VW-Chef Müller im Juni dieses Jahres den "größten Wandel" in der Konzerngeschichte ausgerufen. Audi, Porsche und VW sollen den Markt mit einer Vielzahl smarter Elektromodelle beflügeln. In weniger als 15 Jahren soll jeder vierte Volkswagen als Elektroauto vom Band rollen – das wären dann in der Tat beachtliche zwei bis drei Millionen der smarten Stromer, die sich bislang im Straßenbild wie im Konzernkalkül so rar machten. Und mehr noch: Die Wolfsburger denken offenbar über – nach ihren bisherigen Maßstäben – geradezu visionäre neue Geschäftsmodelle nach, sogar über die Produktion eigener Batteriezellen, notfalls im Alleingang.
    "Volkswagen wird ein weltweit führender Anbieter nachhaltiger Mobilität sein. Diese Vision beschreibt den Transfer unseres Führungsanspruches aus der alten Welt in die Mobilitätswelt von morgen!"
    Mit seinem Wunsch, weltweit führender Anbieter nachhaltiger Mobilität zu werden, kommt VW-Boss Müller reichlich spät: Wettbewerber wie der Softwarekonzern Apple und der Fahrdienst-Vermittler Uber tüfteln längst an eigenen Systemen – und drohen den klassischen Automobilbauern mit ausgefallenen Design- und fortschrittlichen Elektroantriebskonzepten zuvorzukommen.
    Es hat zwar etwas gedauert – aber offenbar haben auch die VW-Verantwortlichen im Dunst des Diesel-Skandals endlich erkannt, dass der Mobilitätsmarkt der Zukunft ein Milliardengeschäft ist.
    Allerdings ist eher unsicher, ob VW seinem lautstark reklamierten Führungsanspruch auf diesem Markt tatsächlich gerecht werden kann. Die dafür erforderlichen Investitionen in Forschung, Entwicklung und Um- bzw. Neubau von Produktionsstandorten sind derzeit noch nicht überschaubar, gleichzeitig kann noch niemand wirklich seriös beziffern, was den Wolfsburger Autobauer der Diesel-Skandal weltweit letztlich kosten wird.
    Diesel-Zulassungen bleiben stabil
    Immerhin: Die Zulassungszahlen für VW-Dieselfahrzeuge sind erstaunlich solide. Trotz der Abgasschwaden konnte der Konzern insgesamt zuletzt sogar zulegen: Im ersten Halbjahr verkauften die Wolfsburger weltweit mehr als fünf Millionen Fahrzeuge – vor allem die Hausmarken um Golf und Passat.
    Und: Es ist der Faktor Zeit, der Volkswagen zusätzlich in die Hände spielt – und die Behäbigkeit der Verbraucher: Menschen ändern ihr Konsumverhalten oftmals nur unwillig – allenfalls schleppend. Dem gemeinen Kunden bleiben damit die wenigsten Skandale dauerhaft im Gedächtnis.
    "Wir haben einige Forschung gemacht, wo beispielsweise Heritage eine ganz große Rolle spielt: Der Bulli, der uns damals ‚hochgebracht‘ hatte - in Anführungszeichen - Wirtschaftswunder. Aber auch der Käfer – das sind alles Dinge, die tief drin stecken!"
    Sagt Klaus-Peter Wiedmann, Professor für Marketing und Management an der Leibniz Universität Hannover.
    Also auch wenn die alte Liebe zum Volkswagen Schrammen bekommen hat und sich wegen der betrügerischen Manipulationen Unglauben und Unbehagen in der Beziehung eingenistet haben: Der Konzern könnte den Image-Schaden in Grenzen halten, so Wiedmann – wenn er wirklich ernst macht mit seinen Versprechen:
    "Die Saat des Zweifels geht nicht auf, wenn jetzt wirklich massiv gearbeitet wird - und den Eindruck hat man bislang nicht gewonnen. Wenn man dann so hört: die Seilschaften, die man ja offensichtlich doch so nicht in den Griff bekommt, dann Führungspersönlichkeiten in der Öffentlichkeit nun nicht gerade begeistert aufgenommen werden – das sind natürlich Aspekte die sehr gefährlich sind!"
    Wie gefährlich – das bleibt abzuwarten. Fakt ist: Der Abgasskandal ist eine Hypothek für den VW-Konzern, mit Auswirkungen, die noch über Jahre zu spüren sein werden. Die milliardenschwere Bewältigung des Skandals und seiner Folgen steht ein Jahr nach dem öffentlichen Schuldeingeständnis der VW-Bosse erst am Anfang – und inzwischen dürfte allen Beteiligten klar geworden sein, dass Europas größter Autobauer mit dem sprichwörtlichen blauen Auge sicher nicht davon kommen wird.