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Dieselgate
VW-Geschichte und Perspektive

Bei VW ist die wirtschaftliche Lage alle zehn Jahre bedrohlich, konstatiert der Journalist Mark C. Schneider in seinem Buch "Volkswagen". Die Dieselaffäre könne eine Chance sein, die Unternehmenskultur zu ändern und endlich in der digitalen Dienstleistungsgesellschaft anzukommen.

Von Ralph Gerstenberg | 30.01.2017
    Die Silhouetten von zwei Männern auf einer Brücke zeichnen sich am 10.05.2016 vor dem großen Volkswagen-Logo am Kraftwerk am VW-Werk in Wolfsburg (Niedersachsen) ab.
    Mark C. Schneider beschreibt Dieselgate als "epochale Krise", wie sie der VW-Konzern noch nie zu bewältigen hatte. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Dieselgate – das schlimme Schreckenswort aller Volkswagenaktionäre taucht in Mark C. Schneiders Chronik des VW-Konzerns immer wieder auf. Vor dem Hintergrund des Skandals um die manipulierten Abgaswerte erscheint die Firmengeschichte des Autobauers heute in einem anderen Licht als vor dem desaströsen Eingeständnis der Firmenführung, Kunden und Behörden millionenfach getäuscht, ja, betrogen zu haben. Was bleibt übrig von dem sauberen Image eines mitarbeiterfreundlichen, grundsoliden Unternehmens, das für die deutsche Wirtschaft als systemrelevant gilt? Mit Blick auf eine durchaus nicht krisenarme Historie sieht Autor Mark C. Schneider Dieselgate als "epochale Krise", wie sie der VW-Konzern noch nie zu bewältigen hatte. Dennoch:
    "So schwer die aktuelle Krise auch belastet: Die Geschichte zeigt, dass Volkswagens Entwicklung nur selten gleichförmig verlief – ganz im Gegenteil, der Autobauer durchlief fortwährend Höhen und Tiefen. Seit den siebziger Jahren war die wirtschaftliche Lage alle zehn Jahre bedrohlich – und sie ist derzeit wieder angespannt, angesichts vieler Milliarden Euro, die für die Aufarbeitung der Dieselaffäre nötig sind."
    Das Auto für jedermann
    Angefangen hatte alles mit der schlichten Idee der Nationalsozialisten, nach dem erfolgreichen "Volksempfänger" nun einen "Volkswagen" fertigen zu lassen und damit die Massen auf beispiellose Weise zu motorisieren.
    "Das technische Konzept realisierte der geniale und politisch gegenüber dem NS-Regime wenig skrupelhafte Ferdinand Porsche, Stammvater des Doppelclans Porsche-Piëch. Die Familien sind heute über ihre Finanzholding größter Aktionär der in der Börsenbundesliga Dax notierten Volkswagen AG."
    VW - Das arbeitnehmerfreundliche Vorzeigeunternehmen
    So richtig ins Rollen kam der Käfer aber erst nach Kriegsende. Der niedersächsische Fertigungsstandort namens "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" wurde kurzerhand in Wolfsburg umbenannt, und der als ewig haltbar geltende Kleinwagen avancierte zum Markenzeichen des rasanten Wachstums der Wirtschaftswunderjahre. Auch für Ludwig Erhards Modell einer sozialen Marktwirtschaft schien VW geradezu Pate gestanden zu haben. Jeder Mitarbeiter sollte von der Erfolgsgeschichte profitieren. Neben betriebseigenen Rentenversicherungen wurden jährlich Sonderzahlungen vom Gewinn ausgeschüttet, die sogar tarifvertraglich abgesichert waren. So bekam 1950 jeder festangestellte VW-Mitarbeiter bis zu 120 D-Mark zusätzlich ausgezahlt. Vor der Abgas-Affäre waren es bereits 5900 Euro. Überhaupt war VW nach 1945 gewissermaßen eigentümerlos, bis der Konzern 1960 durch ein eigens geschaffenes Gesetz privatisiert wurde.
    "Ziel der Politik war es, den staatlichen Einfluss auf den für die Volkswirtschaft wichtigen Autobauer beizubehalten. Faktisch räumte das Gesetz dem Bund und dem Land Niedersachsen als Großaktionär sowie dem Betriebsrat weitreichende Vetorechte bei wichtigen Entscheidungen ein. So konnte und kann zum Beispiel kein Standort gegen die Stimmen der Arbeitnehmer und des Landes verlagert oder geschlossen werden."
    Lobbyismus und Machtpoker
    In seinem Buch führt Mark C. Schneider dem Leser die enge Verflechtung zwischen dem VW-Konzern und der Politik vor Augen - beispielsweise wenn er zeigt, wie vehement zunächst "Autokanzler" Gerhard Schröder und später Angela Merkel für den Erhalt des VW-Gesetzes stritten - gegen alle Anfechtungen aus Brüssel. Auch in Krisenzeiten, von denen es bei VW einige gab, war der Staat stets gefragt. Fehlender Innovationsgeist bei der Entwicklung neuer Fahrzeugtypen, Machtkämpfe hinter den Kulissen, Sex- und Devisenskandale, Industriespionage und Übernahmepoker brachten den Konzern immer wieder in die Schlagzeilen und auch in die roten Zahlen. Krisenbedingte Entlassungen gab es reichlich in der VW-Geschichte, zigtausendfach an der Fertigungsstrecke und auch, teils mit wiederum skandalösen Abfindungszahlungen, in der Chefetage. Und nun also: Dieselgate! Mark C. Schneiders Resümee des VW-Krisenmanagements in dieser Sache fällt verheerend aus. Die Topmanager hätten sich verhalten wie ein Kind, das mit der Hand im Bonbonglas erwischt wurde:
    "Als es noch um Strafzahlungen in Millionenhöhe ging, machte keiner den entscheidenden Vorstoß, wie es eigentlich um die Kunden stehe und den Wert ihrer Fahrzeuge. Ganz zu schweigen von der zusätzlichen Belastung für Mensch und Umwelt durch den unerlaubten Ausstoß einer größeren Menge des krebserregenden Stickoxids. Wenn Volkswagen in den USA Milliarden an Stiftungen zahlen muss, um den Umweltschaden auszugleichen – bei rund 600.000 betroffenen Fahrzeugen -, was ist mit der Umwelt im Rest der Welt, wo mehr als zehn Millionen betroffene Fahrzeuge jahrelang mehr Stickoxid ausgestoßen haben?"
    Was wird aus dem Konzern?
    Mark C. Schneider sieht den VW-Konzern derzeit in einer Art Schwebezustand. Die Weichen in der Führungsetage seien gestellt: für einen Kulturwandel des Unternehmens, das endlich in der digitalen Dienstleistungsgesellschaft ankommen und sichere, umweltfreundlichere Fahrzeuge herstellen muss. Doch noch steht sich der Konzern mit seinen von männlicher Arroganz und altem Denken geprägten hierarchischen Strukturen selbst im Weg. Der Koloss wankt, schreibt Mark C. Schneider, und die Zukunft wird gewiss turbulent. Von der wechselvollen Geschichte des Unternehmens erzählt der Branchenkorrespondent, der sonst für Zeitungen und Zeitschriften wie Capital und Handelsblatt schreibt, in seiner VW-Chronik manchmal etwas zu brav und lexikalisch an den Fakten entlang. Interviews mit langjährigen Beschäftigten gibt es nicht, der soziologische Blick fehlt völlig. Und auch die zweifelhafte Rolle der hiesigen Automobilindustrie, die in den vergangenen Jahren mehr in Lobbyismus investiert hat als in zukunftsorientierte Technologien, wird nur ansatzweise kritisch hinterfragt. Dennoch ist Mark C. Schneiders VW-Geschichte durchaus lesenswert, weil sie die Hintergründe des Dieselgate-Skandals offenbart und am Beispiel des VW-Konzerns den Wandel von der sozialen Marktwirtschaft Made in Germany zum skrupellosen, globalen Turbokapitalismus beschreibt.
    Mark C. Schneider: " Volkswagen. Eine deutsche Geschichte"
    Berlin Verlag, 368 Seiten, 22 Euro.