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Digitales Fasten
Wege zurück zum Analogen

Kann der Mensch durch digitales Fasten seinen freien Willen zurückgewinnen? Fragt sich Arno Orzessek – und gibt die Antwort in seiner Glosse selbst. Mit einer Anleitung, an dessen Ende Sie am Ende einen Brief schreiben könnten. Per Hand!

Von Arno Orzessek |
Mit einem Federhalter wird auf einem Stück Papier geschrieben.
"Krönen Sie Ihr Abenteuer – schreiben Sie Briefe, per Hand!" (imago/imagebroker/theissen)
Leute, es klingt anmaßend – aber schaltet bitte Eure Smartphones aus. Wir wollen hier nämlich gemeinsam über eine komplizierte Materie nachdenken. Zur Erinnerung: 'Nachdenken' ist ein Begriff aus dem Analog-Zeitalter. Man versteht darunter Gehirn-Aktivitäten, deren Gelingen davon begünstigt wird, dass man sich konzentriert.
Konzentration wiederum ist jener Zustand, den man spätestens dann erlebt, wenn einen der Gedanke durchzuckt: Verdammt, wo hab ich mein Smartphone liegen lassen? Aber zur Sache selbst: zum freien Willen des Menschen. Ob es ihn gibt – und wenn ja, inwiefern –, ist nach wie vor umstritten.
Sicher ist jedoch: Seit der Ausbreitung von Smartphones und sozialen Medien geht's mit dem freien Willen bergab. Denn kaum poppen neue Nachrichten auf, folgen die meisten sofort ihrer zappelnden Neugierde – uncharmanterweise Mistkäfern ähnlich, die den Geruch von Aas wittern.
In der Tat, digitales Fasten könnte helfen
Wie die Käfer erwartet allerdings auch die Menschen eine Belohnung: Ihr Gehirn findet das Herum-Scrollen in Social-Media-Feeds toll, weil dabei der verlässliche Glücksbringer Dopamin ausgeschüttet wird. Was andererseits haarsträubend kontraproduktiv ist.
Denn wenn mal gerade nichts aufpoppt, steckt uns dasselbe Gehirn fiese Nachrichten wie diese zu: Du rückgratloser Looser! Hast heute schon zum siebten Mal Lebenszeit für nichts vergeudet. Was beweist: Smartphones und Soziale Medien suchen den Menschen auf einer Evolutionsstufe heim, auf der ihm die Reife zu deren widerspruchsfreiem Gebrauch noch fehlt.
Was also ist zu tun? Auch zu Beginn der diesjährigen Fastenzeit macht wieder ein Zauberwort die Runde: "Digitales Fasten". Es soll Süchtigen helfen, ihre mistkäferhafter Reflexe abzuschütteln und ihren Willen wieder zu befreien.
Und man muss sagen: In der Tat, digitales Fasten könnte helfen. Es funktioniert aber offenbar am besten unter regem Gebrauch des Smartphones. Die erste Maßnahme lautet: Ab in den App-Store! Kontrollieren Sie mit der App "Quality Time", wie groß Ihre Smartphone-Sucht überhaupt ist, gerechnet in Stunden pro Tag.
Arno Orzessek. Seit 1966 Arbeiter- und Bauernsohn, geboren in Osnabrück. Studierte in Köln Philosophie und anderes. Dank "unverlangt eingesandt": SZ- und DLF-Autor; auch: zwei Romane. Lebt seit 2000 rundfunktreu in Berlin. Angesichts der Unordnung der Dinge thematisch unspezialisierter Stoffwechsel-Spezialist. Welt-Erfahrung per Motor- und Rennrad, plus Lektüre. Radio-Ideal: Geistvolles in sinnlicher Sprache; Ziel: Gedankenübertragung; Methode: Arbeit am Text; Verfassung: der Nächste bitte!
Nicht an die post-apokalyptische Stille denken
Beschummeln Sie sich nicht in der Kontroll-Phase, reagieren Sie wie üblich auf jedes Aufpoppen neuer Nachrichten. Falls Sie innerlich wider alle Wahrscheinlichkeit so gefestigt sind, dass Sie sich danach immer noch an Ihre heroische Fasten-Absicht erinnern, wird es wirklich ernst: Jetzt geht's den Quellen des Aufpoppens an den Kragen!
Rufen Sie, falls Sie ein Android-Smartphone besitzen, unter dem verlockenden Eintrag "Digital Wellbeing", deutsch: digitales Wohlbefinden, den... sieh an!... "Konzentrationsmodus" auf. Wählen Sie dort mutig all die Apps aus, die sich, sagen wir, bis Ostern nicht mehr mucksen sollen – und stellen Sie sie kalt.
Denken Sie im Augenblick der Entscheidung nicht ans Dopamin beim Scrollen, nicht an das bittere Gefühl sozialer Vereinsamung, das in Ihnen hoch kriecht, auch nicht an die post-apokalyptische Stille, in der Ihnen kein Aufpoppen mehr Ihre Daseinsberechtigung garantieren wird. Denken Sie an nichts! Stürzen Sie sich ins Abenteuer! Denn alle namhaften Experten behaupten steif und fest: Auch off-line existiert noch Leben.
Lassen Sie alle, die weiterhin ihrer Sucht frönen, unbedingt wissen, wie es Ihnen dort drüben ergeht. Nein, dazu müssen Sie Ihr digitales Fasten nicht brechen. Krönen Sie Ihr Abenteuer – schreiben Sie Briefe, per Hand!
Das dürfte eine so grundstürzende Erfahrung sein wie damals, als Sie das erste Mal per Smartphone online waren und die neue Welt erblickten. Ach, Ihre digital versaute Klaue kann leider kein Mensch mehr lesen? Tja, dann wissen wir auch nicht weiter. Bis Ostern also: Alles Gute!