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Dirk van Laak
"Alles im Fluss"

Ob Klärwerk, Stromversorgung oder Datenautobahn: Unsere moderne Welt funktioniert nicht ohne Infrastruktur. Der Historiker Dirk van Laak spricht von "Lebensadern unserer Zivilisation". In seinem Buch schildert er, wie unsere heutige Infrastruktur entstanden ist – und wie verletzlich sie ist.

Von Sandra Pfister | 17.09.2018
    Die schwarz-weiße Silhouette New Yorks mit nur wenigen beleuchteten Fenstern: Nur wenige Notbeleuchtungen funktionierten im Juli 1977, als ein gigantischer Stromausfall New Yorks Lichter ausgehen ließ.
    Eine Stadt im Dunkeln: New York im Juli 1977 (picture alliance / dpa / UPI)
    Am 13. Juli 1977 gingen in New York die Lichter aus. Zwei Blitze waren ins städtische Elektrizitätswerk eingeschlagen. Straßenbeleuchtung, Ampeln, Kühlschränke fielen aus, Aufzüge standen still, Behörden und Flughäfen schalteten auf Notbetrieb.
    Es wurde geplündert, Häuser brannten ab – die materiellen Schäden und das Schwinden von Anstand machten jedem klar, wie wichtig eine funktionierende Infrastruktur für unsere zivilisatorischen Routinen ist.
    Verletzliche Zivilisation
    Wer nun glaubt, so etwas könne heute nicht mehr passieren, den überzeugt der Historiker Dirk van Laak vom Gegenteil: Die gegenwärtigen Smart-Grids, also intelligente digitale Stromnetze, seien sogar noch anfälliger und machten unsere Zivilisation deshalb noch verletzlicher.
    "Damit werden die potenziellen Folgen eines Stromausfalls noch einmal verstärkt, weil möglicherweise auch die Wasserversorgung und die Kommunikation daran hängen. Eine Gefahr besteht unter anderem darin, dass weder die Individuen noch die Strukturen Schritt für Schritt und bewusst auf frühere technische Niveaus zurückgehen können. Experten gehen daher von dramatischen Szenarien aus: Mit zunehmender Dauer etwa des Ausfalls der Stromversorgung würden sich die täglichen Routinen auflösen, laufe der Prozess der Zivilisation gleichsam rückwärts - mit allen Folgen für die öffentliche Ordnung."
    Dirk van Laak beschreibt, wie die Infrastruktur für Verkehr und Energieversorgung über Jahrhunderte entstanden ist und wie abhängig unsere heutige Lebensweise davon ist. Selten ist diese Geschichte, die ohne Helden, ohne Bösewichte oder Großereignisse auskommen muss, so spannend erzählt worden.
    Ihr Stoff sind Kabel, Netze und Röhren. Ihre Protagonisten sind Politiker und Verwaltungsmenschen in Tiefbauämtern und Kanalbetrieben, die ständig gegen den Verfall kämpfen.
    Symbole einer urbanen Moderne
    Zwar gab es Straßen und Aquädukte schon im alten Rom, doch zum großen Thema wurde die Infrastruktur erst mit der Industrialisierung. Straßen mussten funktionieren, Eisenbahnen fahren, Wasserversorgung und Kanalisation in den Städten wurden notwendig. Die zugehörigen Apparate und Gebäude wurden im 19. Jahrhundert stolz vorgezeigt – sie waren Symbole einer modernen Entwicklung:
    "Wasser- und Gasbehälter oder Kraftwerke wurden zu urbanen Fetischen [...]. Beobachter verglichen die öffentlichen Bauwerke ab einer bestimmten Größe fast schon stereotyp mit den Kirchenbauten des Mittelalters."
    So wie im 19. Jahrhundert Abwassersysteme und Kraftwerke glorifiziert wurden, so feierte man im 20. Jahrhundert in Westeuropa die Infrastruktur rund ums Auto. Heute sehnen wir uns vielerorts nach intakten mittelalterlichen Stadtkernen mit harmonischen Plätzen und engen Gassen.
    Die autogerechte Stadt
    Doch viele Architekten der Nachkriegszeit sahen in der Zerstörung durch die Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges eine Chance:
    "Daher verabschiedeten sich nach dem Zweiten Weltkrieg viele deutsche Kommunen von ihren mittelalterlichen Kernen und brachen stattdessen in die architektonische und infrastrukturelle Moderne auf. Beim Neuaufbau der nun meist 'autogerecht' angelegten Städte kamen wiederum nicht selten gerade jene Experten zum Einsatz, die vor 1945 Siedlungen für die deutsche Expansion in den europäischen Osten geplant hatten."
    Gesellschaftlicher Wandel durch Infrastruktur
    Die Zerstörung war aber nicht der einzige Grund, warum insbesondere der deutsche Staat nach 1945 so eifrig in Infrastrukturen investierte. Van Laak macht sehr klar, dass staatliche Gewalt, diskreditiert durch die Diktatur, sich vor allem als Dienstleister und Erfüller von Bedürfnissen wieder legitimieren konnte.
    Dirk van Laak liefert einen souveränen historischen Überblick. Er zeigt, wie jede Verbesserung der Infrastruktur auch unser Verhalten verändert. So schildert der Autor, dass die Möglichkeit, Lebensmittel flächendeckend und dauerhaft zu kühlen, einen gesellschaftlichen Wandel nach sich zog: Supermärkte entstanden auf der grünen Wiese, das Essverhalten koppelte sich ab von regionalen und saisonalen Angeboten. Frauen kochten vor oder kauften Fertigmahlzeiten – und konnten berufstätig werden.
    Gefährliche Sorglosigkeit
    Und noch eines macht der Autor sehr deutlich: dass viele moderne Infrastrukturen auch Druck ausüben, den Druck, ständig neue Regeln einzuüben und sich selbst zu organisieren. Verkehrsregeln, Apps, Texten am Smartphone – das alles folgt Codes. Überhaupt macht das Smartphone als Kulminationspunkt einer zweihundert Jahre alten Infrastrukturgeschichte so viele Vorgänge parallel möglich, dass, so fürchtet der Autor, die durch bessere Infrastruktur gewonnene Zeit flugs wieder zerrinnt.
    Während van Laak an keiner Stelle den Nutzen moderner Infrastruktur in Frage stellt, sieht er mit Sorge, wie verletzlich uns das vermeintliche Rundum-sorglos-Paket macht.
    "Eine Falle der heute umfassenden Vernetzung besteht jedoch darin, dass – bei aller [...] zur Schau gestellten Outdoor- und Survival-Kompetenz – solche Praktiken der Improvisation wie etwa das Reparieren von technischen Geräten oder scheinbar überlebte Kulturtechniken wie Feuermachen oder Kochen bei vielen Jüngeren kaum noch abrufbar sind. Hinzu kommt, dass die Bereitschaft, für eventuelle Notfälle vorzusorgen, kontinuierlich abnimmt, je länger die Systeme funktionieren oder nicht durch Kriege bedroht sind. Das könnte man als Sicherheits- oder Verletzlichkeitsparadox bezeichnen: Je besser eine Gesellschaft in ihren Versorgungseinrichtungen funktioniert, umso stärker wirkt sich jede Störung aus."
    Dirk van Laak: "Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft",
    S. Fischer, 368 Seiten, 26 Euro.