Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Diskussion um Stammbaumforschung
"Das führt zu institutionellem Verdacht gegenüber Migranten"

Der Politologe und Soziologe Hans-Gerd Jaschke hält die sogenannte Stammbaumforschung im Zusammenhang mit den Krawallen in Stuttgart für "polizeipolitisch absolut den falschen Weg". Vielmehr müsse man das soziale Umfeld der Jugendlichen in den Blick nehmen, sagte er im Dlf.

Hans-Gerd Jaschke im Gespräch mit Christine Heuer | 14.07.2020
Jugendliche im Schlossgarten werden von Polizistenn in Uniform beobachtet.
Polizei beim Einsatz während der Krawalle in Stuttgart (www.imago-images.de)
Das Bundesinnenministerium hat die als "Stammbaumforschung" kritisierten Ermittlungen der Polizei nach den Stuttgarter Krawallen gegen Kritik verteidigt. Es sei ein polizeiliches Standardvorgehen, dass auch das soziologische Umfeld von Tätern miteinbezogen werde, sagte ein Ministeriumssprecher in Berlin. Das schließe selbstverständlich auch die Eltern oder den Aspekt des Migrationshintergrunds mit ein.
Sozialarbeit ist wichtiger Faktor
Der Politologe und Soziologe Hans-Gerd Jaschke hält die sogenannte Stammbaumforschung für das falsche Vorgehen. Man müsse stattdessen das soziale Umfeld der Jugendlichen betrachten. "Hier ist die Sozialarbeit ganz wichtiger Faktor, die Lehrer sind wichtig, die Eltern sind wichtig, die Gleichaltrigen – aber nicht die Einwohnermeldeämter." Der Stammbaum spiele für das soziale Umfeld überhaupt keine Rolle, so Jaschke. "Deswegen hat mich das Vorgehen der Stuttgarter Polizei mehr als verwundert. Ich halte das auch für sehr unprofessionell."
Ein beschädigtes Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts nach den schweren Ausschreitungen in Stuttgart.
"Stammbaumforschung"? - Polizei-Praktiken in Stuttgart bleiben heftig umstritten
Dass die Polizei nach den Krawallen in Stuttart auch die Abstammung der Verdächtigen in den Blick nehmen möchte, hatte zu massiver Kritik geführt. Der Sprecher des Innenministeriums verteidigt das Vorgehen: Es sei "polizeiliches Standardvorgehen" auch das soziologische Umfeld zu untersuchen.
Auch die Absicht der Polizei, die Daten zu veröffentlichen, sei völlig unverständlich, kritisiert Jaschke. "Wenn man anfängt, Stammbaumforschung zu betreiben, führt das zu einer gewissen Polarisierung, auch zu einem institutionellen Verdacht gegenüber Migranten. Das halte ich polizeipolitisch für äußerst bedenklich."
Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Christine Heuer: Ist das, was da Stammbaumrecherche genannt wurde, Polizeiaufgabe, oder nur die andere Seite von Racial Profiling?
Hans-Gerd Jaschke: Das soziale Umfeld von Tätern ist natürlich wichtig – für die polizeiliche Arbeit selber, aber auch für den Strafprozess. Nur ist es seit Jahren üblich, das soziale Umfeld so zu sehen, dass man fragt, mit wem hatten die Täter Kontakt, gibt es Jugendliche in gleichaltrigen Gruppen, mit wem und in welchen Klicken haben Jugendliche agiert. Das ist wichtig und hier ist die Sozialarbeit ein wichtiger Auskunftsfaktor. Die Lehrer sind wichtig, die Eltern sind wichtig, die Gleichaltrigen, aber nicht die Einwohnermeldeämter. Das heißt: Die Frage, welcher "Stammbaum", Eltern, Großeltern, Tanten/Onkel hier wichtig sind, spielt für das soziale Umfeld eigentlich überhaupt keine Rolle. Deswegen hat mich das Vorgehen der Stuttgarter Polizei ja mehr als verwundert. Ich halte das auch für sehr unprofessionell, denn es ist seit Jahren üblich, das soziale Umfeld in der beschriebenen Weise zu betrachten.
Heuer: Hat Ruprecht Polenz, der CDU-Politiker recht, der sagt, der die Frage stellt, ob es für so etwas überhaupt eine Rechtsgrundlage gibt?
Jaschke: Das kommt noch hinzu. Sowohl in der Gefahrenabwehr, also nach den Polizeigesetzen, als auch nach der Strafprozessordnung scheint es mir unklar zu sein – es kommt hinzu der Datenschutz -, wieso man solche Daten erheben soll. Und was noch hinzukommt, ist die Absicht der Stuttgarter Polizei, diese Dinge auch noch zu veröffentlichen. Das ist mir völlig unverständlich, wieso man so sehr auf einen Migrationshintergrund abzielt und den dann auch noch selber definieren will. Das ist für mich ein unverständliches Vorgehen.
Hans-Gerd Jaschke, Politikwissenschaftler, aufgenommen am 18.09.2016 während der ARD-Talksendung "Anne Will".
Der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
Heuer: Nun ist es ja offenbar so, dass die Mehrheit der Verdächtigen in Stuttgart diesen Migrationshintergrund hat. Warum ist es dann eigentlich falsch, da auch noch mal nachzuhaken und nachzufragen, wie es zu diesen Krawallen kommen konnte, ob das vielleicht wirklich was mit der familiären Situation zu tun hat?
Jaschke: Nein, ich halte das für einen ganz falschen Ansatz. Wichtig ist, dann zu fragen, welche Erfahrungen machen diese Jugendlichen in Stuttgart, welche Erfahrungen haben dazu beigetragen, dass sie sich möglicherweise gewalttätig verhalten, fühlen sie sich ausgegrenzt, grenzen sie sich selber aus, welche Werte vertreten sie, welches Verhalten in den jugendlichen Gleichaltrigengruppen ist hier dominant. Das heißt, hier ist der Begriff der Erfahrung meines Erachtens ein Schlüsselbegriff und da spielen die Eltern oder die Herkunft der Eltern eher eine sekundäre Rolle.
Das schadet dem Ruf der Polizei
Heuer: Aber viele der Verdächtigen haben offenbar nicht einmal Angaben zu ihrer Herkunft oder dazu gemacht, wer sie sind, zu ihren eigenen Daten. Darf man da nicht nachfragen als Polizei?
Jaschke: Das ist sicherlich richtig. Das heißt: Schlüsseldaten, Name und so weiter, die im Ausweis stehen, können natürlich abgefragt werden. Das ist völlig klar.
Heuer: Wenn es nur dazu dient, wäre es okay, aber Sie vermuten da einen anderen Hintergrund. Was genau eigentlich? Was befürchten Sie genau?
Jaschke: Ich denke, wenn man anfängt, "Stammbaumforschung" zu betreiben, dann führt das zu einer gewissen Polarisierung, auch zu einem bestimmten institutionellen Verdacht gegenüber Migranten, und das halte ich für eine ganz gefährliche Geschichte, gerade in der jetzigen Situation, wo die Polizei sich rechtfertigen muss, weil es rechtsextremistische Vorfälle in Hessen gibt und anderswo. Das halte ich polizeipolitisch für äußerst bedenklich, äußerst gefährlich, in diese Kerbe hineinzuschlagen. Das halte ich für ein ganz gefährliches Unterfangen.
Heuer: Das Problem ist, dass die Polizei ihren eigenen Ruf beschädigt?
Jaschke: Ich denke ja, denn im Moment ist es so, dass die Polizei unter Druck steht. Es wird eine Rassismus-Studie verweigert vom Bundesinnenminister. Wir haben rechtsextreme Vorfälle in Hessen und anderswo. Insofern steht die Polizei unter Druck und insofern muss gerade auf der Führungsebene eines Polizeipräsidenten oder auf der Ebene der Länderinnenminister meines Erachtens sehr viel sensibler vorgegangen werden.
Bundesinnenminister Horst Seehofer während seines Besuches in Stuttgart, hinter ihm stehen Polizisten.
Rassismus bei der Polizei - Ganz genau will man es doch nicht wissen
Bundesinnenminister Horst Seehofer hat die angekündigte Studie zu "Racial Profiling" bei der Polizei einkassiert. Der Gegenwind sei wohl zu groß gewesen, mutmaßt der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr.
Heuer: Herr Jaschke, ich möchte da mal einen Vergleich aufmachen. In der Kölner Silvesternacht war der kulturelle, der soziologische und auch der Migrationshintergrund der Täter durchaus von Belang. Woher wissen wir eigentlich, dass das in Stuttgart nicht so ist?
Jaschke: Ich denke wie gesagt, der erste Punkt muss sein, um welche Jugendlichen handelt es sich, in welchen jugendkulturellen Gruppierungen organisieren die sich, welche Erfahrungen machen sie. Das erfahren wir von den Sozialarbeitern vor Ort, die sich sehr gut auskennen. Welche Szenen gibt es unter Jugendlichen in Stuttgart? Was sind die Werte dieser Szenen? Gibt es hier ethnische Dominanzen? Jetzt kommt der Faktor natürlich rein. Gibt es ethnische Herkunftsmuster, die dort wichtig sind? Führen die dazu, dass Jugendliche sich selber ausgrenzen? Das sind die Fragen, die man hier rausfinden muss, aber sie müssen doch nicht zu Einwohnermeldeämtern gehen und feststellen, welcher Stammbaum oder welche Familienverhältnisse liegen hier vor.
Heuer: Es ist die falsche Adresse, an die die Polizei sich da gewendet hat?
Jaschke: Absolut die falsche Adresse! Und es kommt hinzu – wie gesagt: Das ist in der gegenwärtigen Situation, wo die Polizei unter Druck steht, natürlich auch polizeipolitisch ein ganz falscher Weg.
Indizien sprechen für rechtsextreme Netzwerke in der Polizei
Heuer: Sie haben, Herr Jaschke, jetzt schon mehrfach die Vorfälle in Hessen angesprochen. Heute hören wir, dort wurden auch die Daten der Kabarettistin Idil Baydar von einem Polizeicomputer abgerufen. Es werden immer mehr Personen des öffentlichen Lebens, bei denen das der Fall ist, und Idil Baydar wie die anderen bekommt auch regelmäßig Drohbriefe geschickt. Wie groß ist das Extremismusproblem bei der hessischen Polizei?
Jaschke: Wir müssen hier ganz offen sein und sagen, wir wissen es nicht. Der hessische Innenminister Beuth hat nach den ersten Vorfällen Ende letzten Jahres eine Umfrage initiiert unter den hessischen Polizeibeamten. Diese Umfrage, die ja auch Demokratieakzeptanz, Parteipräferenz und anderes beinhaltet, war relativ positiv. Das heißt, die Mehrzahl der hessischen Polizeibeamten hat nach dieser Studie eine absolut gefestigte demokratische Grundorientierung. Aber man muss auch sehen: Solche Umfragen haben natürlich eine begrenzte Aussagekraft und von daher wissen wir derzeit nicht, gibt es in der hessischen Polizei oder auch anderswo tatsächlich kleine Netzwerke von Rechtsextremisten, wo der Begriff Netzwerk auch richtig ist, weil hier Beziehungen existieren innerhalb der Behörde, von innerhalb nach außerhalb und so weiter. Es gibt Indizien, die dafür sprechen. Deswegen ist es richtig, in Hessen einen Sonderermittler zu beauftragen. Aber wir haben keine exakten und genauen Daten darüber.
Vereidigung von neuen Kommissaranwärterinnen und Kommissaranwärtern samt traditionellem Mützenwurf in der Lanxess-Arena, Köln.
Polizeisoziologe: - "Die gesamte Polizei stemmt sich gegen Aufklärung"
Bei der Polizei gebe es Rassisten und auch Reichsbürger, sagte Polizeisoziologe Rafael Behr im Dlf. Das wäre auch kein großes Problem, wenn es Strukturen gäbe, die dies frühzeitig erkennen und abstellen würden. Diese Strukturen erkenne er aber nicht.
Heuer: Deshalb muss man nachforschen. Was vermuten Sie, wie so etwas ausgehen würde? Wie sehen Sie die Situation?
Jaschke: Ich vermute mal, es gibt solche kleinen Netzwerke in der Tat in Sicherheitsbehörden generell, nicht nur in Hessen. Es gibt sie und das heißt vor allen Dingen, die mittlere Führungsebene, die gehobene Führungsebene in diesen Sicherheitsbehörden ist aufgefordert, genau hinzugucken, genauestens hinzugucken, tätig zu werden, nichts unter den Teppich zu kehren, nichts zu übersehen. Insofern muss man genau diese mittlere Führungsebene ermutigen, hier aktiv zu werden und nichts zu übersehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.