Freitag, 29. März 2024

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Konfliktforscher zu Krawallen in Stuttgart
"Dehumanisierung spielt eine sehr große Rolle"

Der Konfliktforscher Andreas Zick glaubt, die Randalierer in Stuttgart hätten sich spontan im Sinne eines "Wir gegen die Polizei" zusammengefunden. Das entspreche auch dem Zeitgeist, der zunehmend Gewalt billige und Polizisten als Dienstleister sehe, erklärte Zick im Dlf.

Andreas Zick im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 24.06.2020
Nach der Randale: Ein Polizeiwagen ohne Scheiben in Stuttgart.
Neu an der Eskalation von Gewalt im öffentlichen Raum ist laut Konfliktforscher Andreas Zick, dass die Gewalt inszeniert und als Erlebnis wahrgenommen werde (picture alliance/dpa/Marijan Murat)
Was zu den Ausschreitungen in Stuttgart führte, ist nach wie vor unübersichtlich. In ersten Erklärungsansätzen war immer wieder von der Partyszene die Rede. Am vergangenen Wochenende (20./21. Juni 2020) randalierte in der Stuttgarter Innenstadt eine diffuse, offenbar alkoholisierte Menge, verletzte dabei auch Polizisten, und filmte sich zum Teil bei all dem.
Nach Krawallen in Stuttgart: Suche nach dem Motiv
Noch immer ist unklar, was bei den nächtlichen Ausschreitungen in der Stuttgarter Innenstadt passierte. Während die Polizei ermittelt, suchen auch Politiker nach Antworten. Die Randale und Plünderungen beschäftigen nun den Landtag.
"Wir müssen die Gruppendynamik richtig verstehen", sagt Andreas Zick, Konfliktforscher am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung in Bielefeld, zu den Krawallen. Er geht nicht von einer "stabilen Gruppe" aus, sondern von einer starken "Solidarität für den Moment": "Vor Ort entsteht eine Gruppendynamik, wo die Einzelnen sich auf einmal identifizieren, ganz ohne eine Bezeichnung, sondern: Wir sind es, die hier von der Polizei angegriffen werden. Das heißt, wir haben eine massive - und sehr banale und einfache - Konstellation: Die Polizei will uns was, das ist unser Platz."
"Warum sind dort bestimmte Normen weggebrochen?"
Eine Gruppenbezeichnung brauche es da gar nicht, die Gewalt selber werde als Erlebnis wahrgenommen. Das gebe es schon länger, erklärte Zick, früher hätte man es "Banden" genannt, in England "public riots".
Der Konfliktforscher beschreibt die Eskalationsspirale so: "Man identifiziert sich auf einmal mit Personen, die vielleicht Gewalt ausüben, und dann orientiert man sich an der Gewalt, identifiziert sich mit dem Bild, wir sind hier eigentlich Opfer, weil die Polizei greift uns an. Und dann brechen Normen ein. Wir müssen jetzt genau wissen: Warum sind dort bestimmte Normen, die ja funktioniert haben, weggebrochen?"
Wichtig zum Verstehen dieser Dynamik sei auch die Vorgeschichte, also die Frage: "Wie haben die Menschen, die in Stuttgart vor Ort waren, im Vorfeld die Polizei wahrgenommen?"
Zick sieht aggressiven Zeitgeist
Für den Wissenschaftler Zick passt die Eskalation in Stuttgart übrigens ziemlich genau zu einem Zeitgeist und einem gesellschaftlichen Selbstverständnis, die von Gewalt, Aggression, Durchsetzung und Sozialdarwinismus geprägt sei. Das korreliere mit populistischen politischen Einstellungen.
Einsatzkräfte würden ferner zunehmend als Dienstleister gesehen. "Wir haben ein ökonomisches Verhältnis zur Polizei, wie wir ein ökonomisches Verhältnis haben zu vielem anderen. Das betrifft auch Lehrer und so weiter."
Anders als in anderen Ländern genieße die Polizei in Deutschland keine hohen Sympathiewerte. Um solchen Befundem auf den Grund zu gehen, empfiehlt Zick mehr unabhängige Forschung. Derzeit beforsche die Polizei sich viel selber. Blicke von außen würden der Polizei helfen, sich ihren internen Probleme zu stellen, so der Konfliktforscher.

Das Interview im Worlaut:
Ann-Kathrin Büüsker: Herr Zick, Ministerpräsident Kretschmann hat ja gestern noch einmal betont, wir hätten in Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse. Dieser Vergleich wurde ja ziemlich schnell nach diesen Krawallen aufgemacht, dass die Gewalt hier ihren Ursprung in dem hat, was gerade in den USA passiert, in den Protesten gegen die Polizeigewalt dort. Ist dieser Zusammenhang nicht ein bisschen sehr konstruiert?
Andreas Zick: Ja, der ist sehr konstruiert. Herr Kretschmann hat sich vor seine Polizei gestellt und natürlich haben wir jetzt sehr lange diskutiert, wie hoch ist das Ausmaß an Gewalt, Aggression, aggressiven Einsätzen von der Polizei weltweit, auch in Deutschland. Das ist ja eine sensible Diskussion, die wir führen müssen, woran auch die Polizei interessiert sein muss, sich diesem Phänomen zu stellen. Aber der Vergleich hinkt überall. Erst mal ist das überhaupt gar kein Standard hier, was in einem anderen Land passiert, weil die Gewalt oder Aggressionen hier werden ja nicht besser, wenn wir darauf verweisen, woanders ist es schlechter.
Das Zweite ist: Es ist eigentlich ganz interessant, mal hineinzugucken, wie sind denn die Polizeien organisiert in den unterschiedlichen Ländern. Was ist da anders als hier? Zum Beispiel wenn man genau in Studien hineinguckt, sieht man doch, hier in Deutschland genießt die Polizei viel Respekt, wenig Sympathie. Das ist in den USA genau umgekehrt. Das heißt, es würde sich schon mal lohnen, diesen Vergleich zu führen. Aber dann muss das genauer sein. Dann müssen wir über die Polizeiarbeit reden. Und ansonsten die Gewalt zu vergleichen, das führt uns nicht weiter, wie andere vorschnelle Annahmen in dem Fall auch.
Nach der Randale: Ein Polizeiwagen ohne Scheiben in Stuttgart.
Vogt (SPD): "Wir müssen alle zeigen, dass wir zur Polizei stehen"
Die SPD-Innenpolitikerin Ute Vogt sieht die Randalierer in Stuttgart als Menschen, die jeglichen Respekt verloren hätten – auch den vor der Polizei.

"Höheres Maß an Gewaltbilligung und -bereitschaft"
Büüsker: Trotzdem sehen wir auch in Deutschland in den vergangenen Jahren, auch in den vergangenen Monaten zahlreiche Übergriffe auf die Polizei. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Zick: Ja, wir haben das eigentlich schon sehr lange diskutiert. Vor vier Jahren begann eine intensive Diskussion. Die Polizeigewerkschaften, auch andere Gewerkschaften haben sich gemeldet. Wir haben Studien. In NRW wurden vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Niedersachsen 18.000 Polizistinnen und Polizisten interviewt zu ihrem Lebensalltag. Und es deutet sich an: Da, wo die Gewalt gemessen wird, die Angriffe gegen Polizeien, aber auch gegen Rettungsdienste, gegen Amts- und Würdenträger, die deuten darauf hin, dass wir innerhalb der Gesellschaft ein höheres Ausmaß an Gewaltbilligung und -bereitschaft haben. Wir sehen es sogar in unseren Einstellungsstudien, dass Menschen, die populistisch orientiert sind, die Elitenkritik betreiben, zunehmend Gewaltbereitschaft zeigen. Das koppelt sich an politische Einstellungen.
Der Prozess, der dahinter liegt, ist auf der einen Seite: Rettungsdienste, Polizeien werden wie Dienstleister wahrgenommen. Sie werden als distant wahrgenommen von der Bevölkerung. Wenn sie vor Ort sind, dann sollen sie dafür sorgen, dass Ordnung da ist, dass Kontrolle da ist. Die Sympathiewerte – das ist ja das, was in den Studien rauskommt – sind äußerst gering. Das heißt, die Polizei soll 'liefern'. Wir haben ein ökonomisches Verhältnis zu der Polizei, wie wir ein ökonomisches Verhältnis haben zu vielem anderen. Das betrifft auch Lehrer und so weiter.
"Über gesellschaftliche Gewaltverhältnisse diskutieren"
Im Moment sind wir in einem gesellschaftlichen Modus, wo immer mehr Menschen denken, dass Aggressivität, dass Lautsein, dass Kritik an dem Staat eigentlich genau die Haltung ist, die mir einen Vorteil in der Gesellschaft verschafft. Wir haben ja auch eine populistische Welle. Wir haben einen starken Rechtsextremismus. Der ist stark und stabil. Da sehen wir die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse, und über die müssen wir diskutieren, dass immer stärker doch die Idee kommt, Gewalt, Aggression, Durchsetzung, ein sozialdarwinistisches Modell, das bricht sich Bahn, und natürlich in diesen Corona-Zeiten erwarten wir schwere Verteilungskonflikte. Das sind die Stimmungen, und die brechen sich da Bahn.
Büüsker: Okay. – Auf Corona würde ich tatsächlich gleich noch mal ausführlicher zu sprechen kommen. Ich würde noch mal gerne einen Schritt zurück machen zur Polizei, was Sie gerade beschrieben haben, dass etwa Polizist*innen als Dienstleistende wahrgenommen werden. Sehen wir hier tatsächlich auch eine Entmenschlichung, dass gar nicht mehr wahrgenommen wird, dass da in den Uniformen Menschen, Individuen stecken?
Zick: Ja! Diese Dehumanisierung, die spielt eine sehr große Rolle. Die Stereotype und Vorurteile gegenüber der Polizei, die sind uns eigentlich nicht klar. Wir müssen das systematisch mal erforschen.
"Mehr unabhängige Forschung hineinbringen"
Da gibt es ein Problem. Die Polizei eigentlich beforscht sich selber. Ich würde das kritisieren. Ich würde viel mehr unabhängige Forschung von außen in die Polizei mit hineinbringen, auch jetzt bei der Aufarbeitung von Stuttgart. Da gehören auch unabhängige Größen dazu. Die Polizei hat auch Schwierigkeiten, sich intern natürlich den internen Problemen zu stellen. Vorurteile gegenüber Polizeien sollten nicht selber von den Polizeien untersucht werden. Das ist tatsächlich ein Problem. Aber wir kennen diese Stereotype nicht ,und da gehört mit Sicherheit dazu, dass wir sagen, in Deutschland – das kennen wir auch aus Studien, das hat eine lange Tradition –, die Polizei wird hier als sehr autoritär wahrgenommen.
Die Polizei wird auch als Ordnungskraft wahrgenommen, und interessant ist in Deutschland, wenn bei der Polizei was nicht funktioniert. Wenn sie einen Fehler macht, dann hat das direkte Effekte auf unsere Meinung, dass in dem Staat was falsch läuft. Das ist in den USA zum Beispiel vollkommen anders. Dem müssen wir uns stellen. Wir müssen da mehr Wissen haben. Und wenn wir das Wissen haben, wie sind die Einstellungen gegenüber der Polizei in der Bevölkerung, dann kann man auch viel bessere Prävention machen. Das machen wir gerade ein bisschen in Köln mit der Kölner Polizei nach der Silvesternacht. Andere Polizeikonzepte, Einstellung der Bevölkerung wissen.
Wir müssen auch wissen, wie haben Menschen, die in Stuttgart vor Ort waren, die denn im Vorfeld die Polizei wahrgenommen, denn das alles hat eine lange Vorgeschichte. Da gab es Auseinandersetzungen.
Menschen stehen vor einem geplünderten Geschäft in der Stuttgarter Marienstraße.
Polizeigewerkschaftler: Bei Verurteilungen nicht nur das Mindestmaß ansetzen
Nach Krawallen in Stuttgart wünsche er sich eine Rechtsprechung mit "deutlichem Zeichen", sagte Hans-Jürgen Kirstein im Dlf. Der baden-württembergische Gewerkschaftschef der Polizei kritisierte zudem die Berichterstattung.
"Wir versuchen, die Gruppendynamik zu verstehen"
Büüsker: Dieses Stichwort Dehumanisierung, was Sie gerade beschrieben haben – wir haben ja dann schnell auch im Versuch, Stuttgart aufzuarbeiten, gesehen, wie eine Begrifflichkeit gesucht wurde, um die Menschen, die da randaliert haben, zu beschreiben, als Gruppe zu beschreiben, und uns ist schnell aufgefallen, eigentlich haben wir gar keinen richtigen Begriff, um zu benennen, wer da was gemacht hat. Partyszene, Partyvolk waren dann Begriffe. Da auch wieder der Versuch, diese Gruppe irgendwie greifbar zu machen, damit wir uns nicht mit den Individuen auseinandersetzen müssen?
Zick: Das Problem ist: Wir versuchen, die Gruppendynamik zu verstehen. Das ist das eigentlich Richtige. Es kommt weniger darauf an, jetzt einzelne Täter – die müssen verfolgt werden, diese Gewalt war massiv, es ist eine inszenierte Gewalt. Einige haben sich abfilmen lassen, das heißt aus der Gewalt da Gewinne gezogen. Aber wir müssen die Gruppendynamik richtig verstehen. Vor Ort entsteht eine Dynamik, eine Gruppendynamik, wo die Einzelnen sich identifizieren auf einmal, ganz ohne eine Bezeichnung für die Kategorie, sondern wir sind es, die hier von der Polizei angegriffen werden. Das heißt, wir haben eine massive und sehr banale und einfache Konstellation. Die Polizei will uns was, das ist unser Platz. Die haben selber keinen Gruppenbegriff, aber die sind vor Ort und die waren lange vor Ort und da gibt es Rituale und da gibt es Drogen und man unterhält sich und das sind Menschen, die in Clubs gehen, da kommen andere dazu.
Wir brauchen die Gruppenbezeichnung nicht. Das ist eine Eskalation von Gewalt im öffentlichen Raum, und was modern ist, ist, dass jetzt diese Gewalt inszeniert wird und die Gewalt selbst als Erlebnis wahrgenommen wird. Das kennen wir aber alles schon. Früher hätten wir die anders bezeichnet, als Banden. In England bezeichnet man das als Public Riots. Das erscheint und dann verschwindet es wieder, weil letztendlich ist das auch keine stabile Gruppe, die sich miteinander identifiziert. Man identifiziert sich über den Angriff auf unseren Raum, wo wir immer waren, und auf unseren Raum, den wir verteidigen.
"Eine unheimliche Solidarität für den Moment"
Büüsker: Und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl in der Situation schafft wahrscheinlich auch eine gewisse Sicherheit in einer Situation, die ja ansonsten Corona-bedingt derzeit sehr unübersichtlich ist für viele Menschen.
Zick: Ja, ganz genau. Die Gruppendynamik – da gehört dazu, dass dann auf einmal Normen wegbrechen. Man orientiert sich auf einmal in dieser großen Gruppe, weil die ja auch gar keine richtige Identifikationsfläche bietet. Man identifiziert sich auf einmal mit Personen, die vielleicht Gewalt ausüben, und dann orientiert man sich an der Gewalt. Dann identifiziert man sich mit dem Bild, wir sind hier eigentlich Opfer, weil die Polizei greift uns an, und dann brechen Normen ein. Wir müssen jetzt genau wissen, warum sind dort bestimmte Normen, die ja funktioniert haben, weggebrochen.
Dass das hinterher eskaliert ist in Einbruch und Bereicherung und Diebstahl in der Innenstadt und da versucht haben, auch einige was zu stehlen, was sie eigentlich sich wünschen, damit müssen wir uns auch beschäftigen. Aber letztendlich ist das eine Gruppendynamik. Da entsteht eine unheimliche Solidarität, ein wahnsinniger Zusammenhalt für den Moment, weil die Identifikationsfläche ist da, wir in diesem Raum, und das müssen wir verstehen. Das passiert öfter. Das haben wir ja auch im letzten Sommer erlebt, wenn auch nicht in so einem hohen Ausmaß an Gewaltbilligung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.